Karl Söhle
Musikanten und Sonderlinge
Karl Söhle

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Friede auf Erden.

Eine niedersächsische Weihnachtserzählung.

Dag auch, Vorsteher Grootkas! Warten Se, ich geh' die Straße ganz mit bis 'rauf. Hab' eben für'n Pastoren noch'n Weihnachtshasen geschossen. Kucken Se mal – da, lichten Se 'n mal auf: 'n schönen Bengel, 'n mächtigen ollen Rammelbock! – Na, Grootkas, Sie sind ja so'n alten Wetterprophet, wat meinen Se denn: kriegen wir heut' woll noch was? Der griesgelbe Himmel, die Wolken lieksterwelt als'n Kump Kleckerklütchen, und ümmer tiefer sacken se dahl; 's lag ja auch all die ganzen letzten Dage dick in der Luft.«

»Ja woll, ja woll, Herr Föster, wi hewwt ganz sicher 'n witten Wiehnachten, da könnt Sei sick up verlaten! Jeja, jeja, wenn ick min Rieten krieg', dor weit ick Bescheid! Un ganz bannig leeg is't dütmal! Jümmer achter van't Krüz den Puckel rup – nee, nee, ok so veel Waihdag!«

»Sagen Se, Grootkassen Vater, den Kanter 90 seine Posauners blasen ja woll heut' Abend, zum ersten Mal', in der Christkirche? Da bün ich Sie doch hellschen neugierig auf!«

»Den Deuker, ick ok, Herr Föster! Öhrer acht sünd't, so veel ick weit, wat man 'n duwwelt Quantett näumt. Unse Grootknecht is ja ok mit dormang. Bet eben henn hat hei in'n Pärstall up de Hawerkist seten un euwt un sick binah taunicht tut't. De olle Bleß würd upletzt falsch und slög achter ut. – Holt, täuwen Sei mal – he, wat – hürt Sei nich? Dor euwt ok einer. Dat is sicher Schaper-Hünten Chrischan. Gottsdeubel, de euwt ja woll gor baben up'n Achterbåehn. Donnerblitz, wo hei rinntut't, liek as wenn de olle Bulle lümmelt!«

»Donner ja, Grootkas, wenn se heut' Abend alle so lostuten, wie Chrischan – Sakerlot! – – Na, sagen Se noch, Vorsteher, wie is denn diesmal Ihr Butterkuchen ausgefallen?«

»'n wohr'n Staat, Herr Föster, ei Deubel, schön geel un knusperig! Mine Oltsche verstaht sick daup, dat kann mick man einer glöwen! Wat dor åewerst ok 'n Klumpen Botter rinnkam'n is – so groot! Ick mein man, dat hürt tau'n Kinjes, Herr Föster: Äppel un Nött un 'ne ornliche Dracht Botterkauken, wer sick dat nich tämen kann – ick fret bi 't irste Mal alleen 'n halwen up! Un dortau 'n ornlichen 91 Kump warmen Koffe – ja lickmünnen Sei mick man an, Herr Föster, ick weit, Sei sünd ja ok so 'n ollen Leckertähn.«

»Ja, se backen doch auch alle bei uns im Dorf und Gott sei Dank, dat se's können! Pannemann Stöhrs, die armen Schluckers mit ihren acht lütjen Gören, die oben auf, und Murker Kötjens im Armenhause, 's is nich zu glauben: vier große Platens, sagt meine Frau!«

»Nee, Herr Föster, nee, nee, alle nich dütmal – Snider Linselers hewwt nich backt, Linselers nich! Leiwer Gott, 't kann einen duren! So rechtschaffene Lüd! Hei hat jümmer schuft't un sick affmaracht, as man einer. All glieks, as hei ut de Frömde trügg un freite un anfangen dhäh, kreg hei balle 'n krummen Puckel van 't nippe Upkieken bi 't Neih'n – nee, ick segg, ok tau akkerate Arbeit, un ganz bannig nahthöllern – ja un dabi nix as Mallühr!«

»Ja, ja, schon gut, Vorsteher, und ich bün ja auch bei'm, aber er is noch 'n Schneider nach alter Art. Er näht zu türig, allens mit der Hand, von 'ner Nähmaschine will er weiß Gott noch ümmer nix wissen – das is Deubels Werk, sagt er. Sehen Se und als da Fanehls Willem am Sandberg und Kleefußen Fernand anfingen, beide mit großen Maschinens, da is 'm furns viel Kundschaft abgesprungen. Doch 92 wahr is's, Grootkas: rein nix als Mallöhr! Denken Se an seinen Fritz, un nu das neue Unglück wieder –«

»Och leiwe Gott, dat hat'n wedder mal schön begriesmult!«

»Pst, halt, wir kommen grade vorbei. Sehen Se, da sitzt er an seinem lütjen Kuckloch. Wie er sticht und ausgreift, 's flutscht man so! Ümmer is er doch im Gang, man kann vorbei kommen, wenn man will, und der Puckel wächst 'm alle Dage krümmer. Ich glaub', Grootkas, er thut sich was an, wenn er 'raus muß, er is ja so wie so so'n alten Dahlkopp. Auf Donnerstag nach Neujahr is die Aukschon ausgeschrieben, wie ich gehört hab'. Ja, ja, Grootkassen Vater, so'n Prozeß verliehren, das is leeg, das is 'n bösen Kram, das is würklich 's schlimmste, was einen passieren kann! Hol's der Deubel: Gerechtigkeit giebt's heutzutage nich mehr in der Welt! Volle vier Jahr hat die Geschichte hingedauert. Ein Termin nach 'm andern. Tischler Klintzen sein Lüneburger Av'kat, der alte griese Fraatz, hat so viel Weitläufigkeiten gemacht, und der is ja auch so'n richtiger oller Aasgeier, der die Prozessen in die Länge zieht, bloß weil er 'n Hals nich voll genug kriegen kann. Er is ja bekannt dafür. Na, ich sag man ümmer wieder: die Av'katen, 93 Grootkas, die Av'katen – trau einer die Av'katen! O je, wer's mit die Lörke im Leben zu thun kriegt! Ja, daan is er Koppheister gegangen, der Schneider. Und von wegen so'n Mausdreck, Grootkas, 's is lachbar: auf'm Düsterkamp hinten die eingebildete Weggerechtsame zwischen die Koppels von 'n Tischler und von 'n Schneider! So is 's gekommen, ich weiß's von Gerichtsvogt Wrede: als der Tischler den schmalen Strämel mit einpflügen that, stantepeh rannte mein Schneider als 'n gereizten Kuhnhahn aufs Amt und klagte. Sie wissen doch, jede Kleinigkeit bringt 'n ja ümmer gleich in Raasche und er is ganz hellschen hitzig im Geblüt, wenn er auch man bloß so'n lütjen dünndarwigen, krummpuckeligen Schneider is. Na und am grünen Tisch haben se's ja nu endlich aus ihren dicken Büchern 'rausklamüsert, daß der Schneider –«

»De Dumme van de twee is, un de Dummen mo̊et åewerall den Büdel trecken, dat is nu mal so in unse malle Welt. Åewerst Herr Föster, ick mein' man, as Wesemanns Christoffer jümmer seggt: wen nich tau raden is, den is ok nich tau helpen! – Na nu, adjüs ok, Herr Föster Danckert, gesunne Fierdag, Adjüs ok! Ick gah jetzt hier üm de Eck den Grashoff rup, de olle Imker Olfermann baben sall minen Puckel mal wedder strieken – au! Pottsdeuker nochmal tau! wedder 94 'ne frische Tuhr! – Adjüs ok, ick mudd mick sputen, 't is all lad.«

* * *

Über Fichtenhagen dämmert der Abend heran. Seine Schattenhände tasten sich langsam näher aus der Heide und vom Felde herüber, sachte näher an das kahle Geäst der Dorfeichen, an die Zäune und Obstbäume und weiter an die Scheunen und Häuser – bald ist alles grau zugedeckt.

Kühle, lauschige Stille, nichts Lebendiges regt sich im Dorfe und nur an den einzelnen Hainbuchen in den Hecken raschelt noch vorjähriges trockenes Laub.

Im Backhaus sind glücklich die letzten Platen aus dem Ofen. Bäcker Heers hat die Plackerei nun nachgerade satt und will seine Ruhe haben, und mitten in ihrem Prüfen und Schwögen schiebt er die Weiber mit den Ellbogen zur Thür hinaus.

Bei Kaufmann Kiehn in der Weihnachtsausstellung feilschen ein paar Tagelöhner-Frauen noch um 'ne Poppe Deidei fürs lütje Marieken und um ein hölzernes Hottepird fürs lütje Fritzschen, um Goldschaum zum Nüssevergolden. Bis zum äußersten hat man gewartet, sich's nicht ankommen lassen wollen und die sauer verdienten Tagelohngroschen zehnmal umgewendet. 95 Haus an Haus brennen schon die Krüsel in den Dönzen. Die Kinder sitzen hinten in der Kellerstube bei der Großmutter und singen die in der Schule wieder neugelernten, lieben alten Weihnachtslieder. Früher gefüttert haben heute die Knechte und Mägde und prangen bereits in ihrem Sonntagsstaat.

Vorsteher Grootkas hat wieder mal richtig prophezeit. Es fängt wahrhaftig an zu schneien. Herrgott, gleich Flocken wie Gänsefedern groß! Wie sie um den Kirchturm wüst durcheinander wirbeln! Ein riesiger Geisterbesen fegt sie heran, aus dem Wetterloch, über die frierenden, einsamen Kreuze des Friedhofes hin, wo keine Eichen sich schützend erheben. Noch liegt die Kirche tot und dunkel da. Bald werden die hohen, schmalen Fenster hell erglänzen, wenn aus dem Schallloch über die Bäume und Häuser hin die Glocke schallt, das heilige Wunder von Bethlehem neu zu verkünden, und die Gemeinde singt:

»Das ew'ge Licht geht da herein,
Giebt der Welt nun neuen Schein,
Es leuchtet mitten in der Nacht
Und uns zu Lichteskindern macht.«

Aber wie, bei Schneider Linselers ist's ja noch stockdunkel im Hause?

»Linseler, wutt 'e nich dinen Koffe utdrinken un 'n lütjen Happen eten, 't staht all 'ne ganze 96 Tied vör't Schapp? – Sall ick dick den Lampen nich anstäken?«

Ein trübseliges Kopfschütteln ist die Antwort, und die blauleinene Schürze an den Augen, in der anderen Hand einen weitbauchigen irdenen Topf ohne Henkel, schlürt Mutter Linseler in ihren dicken Filzpampuschen geräuschlos hinaus zum Ziegenstall.

In den Schneewirbel starrt unausgesetzt der Schneider aus seinem Guckfenster. Die längste Zeit hat er nun wohl daran gesessen, zweiunddreißig Jahre. Ganz seine eigene Idee war's, als das Haus gebaut wurde, mochte Murkermeister Beene man ruhig mit dem Kopf schütteln und brummen: das dämliche, lütje Loch verungeniere die ganze Giebelwand. In die Faust hatte Meister Linseler sich eins gelacht. Er wußte wohl, was er wollte. Die ganze Straße blickt man hinauf, bis an die Kirche hin, und kann alles genau beobachten, was passiert: Wieviel Fuder guten Strohmist Bauer Baster-Lühr hinausfährt auf seine Koppel, und im Herbst die entsprechenden Fuder Ernte herein; und ob die Kartoffeln gut, schlecht oder mittel geraten sind, die Thies'en Knecht gerade vorbeikarrt; und warum dieser oder jener es wohl so eilig haben mag; und in welches Haus die Hebamme Greyern mit ihrer schwarzen Tasche 97 wohl gerade will; und wie diesem oder jenem Vorübergehenden das Zeug sitzt: wie's gearbeitet und von wem wohl, was der Hose fehlt oder dem Rock, ob's solide Handnaht oder schundige Maschinenarbeit; und allemal wenn Pastor Barthels und Kantor Konring vorbei spazieren gehen, grüßen sie so freundlich ins Fenster herein: Guten Tag, Meister Linseler, immer so fleißig – selbst damals, sie kehrten sich nicht an den Klatsch im Dorfe.

Plötzlich streckt das Schneiderlein seine beweglichen Buckerbeinchen vor und lehnt den langen schmächtigen Oberleib weit nach hinten über – blitzschnell ist's vom Tisch gerutscht. Ans Schapp tastet Linseler sich vorsichtig hin, steht still und besinnt sich, nimmt bedächtig einen Schluck Kaffee und schließt endlich mit vielem Drehen und Rackeln das obere linke Eckfach auf. Einen viele Male mit Bindfaden umwickelten Cigarrenkasten holt er hervor, knotet auf und nimmt ein schmutziges und zerknittertes Bündel Briefe heraus. Eilig wie ein Ackermännchen wippt er damit zur Kommode, zündet das grünblecherne Kuppellämpchen mit zierlichem, perlengehäkeltem Schirm an, klemmt sich die Brille auf die Nasenspitze und liest einen Brief nach dem andern sorgsam durch, jede Seite zweimal, jedes einzelne Wort nagen die Augen förmlich ab. 98

Ein paarmal hält er kopfschüttelnd inne: »Daß es auch so hat kommen müssen! Zwei Jahr' all im Amt, und so 'ne schöne Stelle, Haus, Garten, Ackerkoppel für zwei Kühe – nichts stand er aus in Weseloh. Das Brot vom Mund hat man sich gespart. Was das 'n Geld kostete im Lüneburger Seminar! Aber 's war nun mal seit seiner Geburt meine Idee. Als die Greyern rief: »Meister Linseler, 's ist 'n Junge, 'n Neunpfündter,« da bildete ich mir Wunder was darauf ein, und: »Greyern, 's ist 'n besonderer, er wird Schullehrer,« war meine Antwort. Ja und nun so! So 'n Singertenor, so 'n Kamöjemacher – Oppernsinger, wie sie in Hamborg so welche nennen. Ach mein Gott und das Frauensmensch von der Kamöje, das er geheiratet hat! 's ist zu viel, vergeb's ihm Gott!«

Linseler setzt die Lampe aufs Fensterbrett und trippelt aufgeregt im Zimmer hin und her. Endlich schwingt er sich auf den großen, blankgesessenen Schneidertisch, läßt die Lederpantoffeln fallen, schlägt die Beine schneidergerecht übereinander und nimmt hastig den mittags frisch zugeschnittenen, schwarzen Gottestischrock für Lehrer Dörge in Runkelfeld in Arbeit.

Weit klafftern die Arme auseinander beim Wachsen des Zwirnes. Hast du nicht gesehen, 99 ist eingefädelt und prick, prick – Stich sitzt auf Stich, die geballte knochige Hand saust nur so durch die Luft.

Behaglich warm ist's in der Stube. In der Ofenröhre bratzelt ein einsamer Bratapfel still melancholisch vor sich hin. Die peinlichste Sauberkeit, wie geleckt alles. Mutter Linseler hält auf Ordnung. Auf dem Fußboden ist reichlich schneeweißer Sand gestreut. Auf Rück- und Armlehnen des langleibigen hohldärmigen Sorgensofas sind frisch gewaschene, kattunene Schoner mit Sicherheitsnadeln festgesteckt. Die Kommode bedeckt eine blanke, grau marmorierte Wachstuchdecke. Ein von allen Kunden vielbewunderter Kammkasten, in Form eines grimmen Wikingerschiffes, kunstvolle Laubsägearbeit, prangt darauf in der Mitte. Rechts und links daneben stehen zwei fröhlich bunte Rokoko-Porzellanfigürchen. Hinten längs der Wand liegen ein vorjähriger Pastor Freytagscher »Hannoverscher Haus- und Familienkalender« mit Jahrmarktsverzeichnis und immerwährender Trächtigkeitstabelle der gebräuchlichsten Haustiere, ein uraltes, großes, zerschabtes Kirchengesangbuch und ein winziges »Neues Testament und Psalter«, zierlich goldschnittgebunden. Am weißgestrichenen Fensterpfosten herunter hängen eine gewaltige, langstielige Fliegenklappe, zwei solide 100 althannöversche Ellen, dicke Bündel Papierstreifen-Maße mit vielen eingeknippsten Zeichen und große Docken Bockgarn. An den weißgetünchten Wänden hin spazieren, auf vergilbten Blättern, elegante Herren mit hübschen Gesichtern, zwanglos einzeln und in Gruppen. Das gewaltige Bügeleisen mit lappenumwickeltem Griff schaut von seinem Hufeisensessel tief gedankenvoll vor sich nieder, wie ein Hamburger Senator, der in seinem sorgenschweren Beruf vollständig das Lachen verlernt hat. Fest zu sind die bissigen Schnapper an der respektgebietenden, blanken Zuschneideschere, von keiner profanen Hand jemals berührt. Und wie eigen die Fingerhüte und Nadeln auf dem zerstochenen, roten Sandkissen heute blinkern. Denken sie an die alten Zeiten? Ja, das Leben früher bei Meister Linseler in der hillen Zeit vor Weihnachten! Auf Tisch und Stühlen, Sofa, Kommode – bergehoch lagen die zugeschnittenen Hosen, Westen, Jacken da herum; alle drei Tage war die Hölle bis oben rauf zum Platzen voll, und das Prickeln und Schnippeln, das Ratschen, Klopfen, Streichen, Bügeln und Walken – bis nach Mitternacht dauerte es oft hin, und ganz zusammen hotzelten Meister, Geselle und Lehrjungen und schnallten die Leibriemen enger. 101

Mutter Linseler ist aus dem Ziegenstall zurückgekommen und hat scharfsinnig berechnend die gemolkene Milch in verschiedene Töpfe gegossen. Eine Weile schaut sie dem eifrigen Hantieren ihres Mannes ungläubig zu. – »Linseler, glieks ludt't.«

Keine Antwort. Lange Pause.

»Linseler, wutt 'e Dick nich t'recht maken? Sall ick Dick nich dat frischpletten Vörhemd hinnen tauslöpen?«

»Prick, prick,« geht gleichmäßig die Nadel.

Als der Schneider dann aber seine Frau leise schluchzen und »Fritz« stöhnen hört, näht er langsamer. – – Noch ein verlorener Stich und die Arbeit sinkt ihm nieder auf die Beine.

Das glattrasierte spitzige Kinn in der Hand, starrt er trübsinnig in die Lampe.

»Der schönste Junge im Dorf, munter wie 'n Katheker. Wenn er Wintertag so hast du nicht gesehen mit dem Piekschlitten den Weg von Kåeters Sandberg runtergesaust kam. Das Leben im Hause. Seine Weihnachtslieder. Immer vorsingen mußte er Ostern in der Schulprüfung. Und ganz sicher: Kantor Konring hat die Hauptschuld, der hat ihm die großen Rosinen in den Kopf gesetzt. Freilich, Lust hatte er ja nie so recht zum Schullehrer, am liebsten saß er immer am Klimperkasten und klimperte und 102 sang dazu. Ja und zuletzt denn heimlich auf und davon, in den Micheliferien, und stantepeh nach Hamborg. Was vorgesungen hat er ihnen und gleich festgehalten haben sie ihn da und ihn auslernen lassen. Na und da singt er nun ja wohl in der Kamöje und treibt Narrenspossen. Ach Jesus und wie das – das Frauensmensch wohl aussieht? Sind so welche getauft und haben Christentum?«

Da, horch – es läutet!

Leise, gedämpft und doch tief und voll klingt's durch die Schneenacht. Die alten, trauten, heiligen Glockenklänge.

Da aber reißt Mutter Linseler die Geduld. Schwabb, mit einem einzigen festen, wohlgezielten Griff hat sie ihren schmächtigen Mann am Kragen vom Tisch herunter, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Schnell die Iltispelzmütze ihm über die Ohren, den langen, grauwollenen Shawl ein halb Dutzendmal ihm um den Hals gewunden, in die gestrickten Fausthandschuhe die knochigen Hände, und fort geht's im Zuckeltrapp zur Kirche.

* * *

In blendendem Kerzenschimmer erstrahlt das Fichtenhagener Gotteshaus. Ein mächtiger Tannenbaum erhebt sich auf den ausgetretenen Steinfliesen vor'm Altar. Links etwas vor, 103 überm Armenblock, am Kirchenvorsteherstuhl prangt im dichten Tannenzweigrahmen mit Knittergoldfahnen ein kerzenerhelltes, großartiges Transparentbild der Geburt Christi, gestiftet vom reichen Vollmaier Christoph Wesemann. Wie feierlich sich das Bild doch macht! Sogar der gute dicke Ochse, der nachdenkliche Esel und die neugierigen Schafe hinter der Krippe haben ganz verklärte Mienen. Für einen ordentlichen, feierlichen Christabendgottesdienst lassen sich Pastor Barthels und Kantor Konring aber auch wirklich keine Mühe verdrießen! Auch das Lutherbild an der rechten Priechenwand hat der treffliche Kantor in der letzten Minute noch schnell mit Tannenzweigen geschmückt.

Na, Fichtenhagener, heut' stehen euch Überraschungen bevor! Heute werdet ihr schön was erleben! Nicht nur die neuen Posauner – macht euch noch auf mehr gefaßt!

So 'ne merkwürdig geheimnisvolle Andeutung hatte der Kantor gemacht, als er nach dem Mittagbrote die Schnarrwerke in der Orgel schnell noch mal durchstimmte. Spornstreichs ins Backhaus zu den backenden Weibern war Bälgentreter Lühmann, der sich immer gern aufspielt, gerannt – nach knapp einer halben Stunde war's herum und zerbrach man sich in allen Häusern den Kopf über Lühmanns 104 phantastischen Vermutungen. Und gleich darauf die zweispännige zue Kutsche, die beim Kantor vorgefahren kam und der vornehme Stadtherr und die Stadtmadame, die ausgestiegen waren? Kantors heute so'n vornehmen Besuch? Unerhört! Der Kutscher hatte im Pasemann'schen Gasthause »Zum vier Linden« ausgespannt und gefüttert, aber der Dåemelklas, es war nichts weiter aus ihm herauszubringen, als: »sei sünd in Uelzen van de Iserbahn affstegen.«

Die Aufregung im Dorfe steigerte sich von Minute zu Minute. Auch auf die Posauner kam man immer wieder zu sprechen, wenn man von frischem hörte, wie sie in allen Ecken im Dorfe den ganzen Nachmittag über übten, jeder einzeln für sich.

Frau Kantorin und Minna hatten am Morgen bei Kaufmann Kiehn in der Weihnachtsausstellung erzählt: so hille hätte es der Vater wirklich noch nie gehabt, auch nicht bei der Orgelweihe vor sechs Jahren. Keinen Mittagsschlaf mehr. Nicht mehr satt äße er sich abends. Die Backen wären ihm ganz eingewelkt. Kaum hätten sie ihm abends drei Pellkartoffeln abgepellt, so holte er schon wieder die Stimmgabel aus der Westentasche und 'raus aus dem Korbsessel und pruhstend hinein in die Schulstube. Und das Üben dann mit den 105 stockdummen Posaunern – solchen greulichen Lärm sollte man mal 'n anderer unter seinem Dache erleben! Und vernünftig über was reden, könne man mit dem Vater schon lange nicht mehr, er habe wirklich noch nicht 'mal gefragt, wie der Butterkuchen ausgefallen wäre und ob die bereits vorgestern ausgenommene Weihnachtsgans ordentlich Flohmen gehabt habe.

Massenhaft sind die Leute in die Kirche geströmt.

Von auswärts sind sie mit großen Stalllaternen in der Faust durch den Steinsink und den Haarsahler Wald gekommen.

Mit Schulteranstemmen haben die Erbeingesessenen durch das Gedränge der nicht sitzberechtigten Außendörfler sich an ihre Platznummern durchgearbeitet.

Als das Geläute verhallt ist, spielt Kantor Konring zuerst das liebliche, innige F-Dur-Pastorale (Band I der Orgelwerke) von Johann Sebastian Bach, sein Christabend-Vorspiel seit er im Amte ist.

Heiß wird ihm das Herz dabei. Seine Augen leuchten auf. Das Christkindlein auf Mariä Schoß, von Himmelslicht umflossen, lächelt holdselig ihn an, winkt und nickt ihm freundlichen Gruß aus den friedevollen Harmonien, aus den still selig wallenden Rhythmen; und 106 ihm ist, als säßen, dicht neben ihm, rund um die Orgelbank, buntbeflügelte, kleine muntere pausbäckige Englein und die begleiteten ihn ganz sacht und heimlich auf alten Lauten, Flöten, Schalmeien und Zymbeln.

Zu einer eigenen, gar stolzen und stattlichen Fughetta über den Weihnachtschoral »Vom Himmel hoch da komm ich her« moduliert er darauf hinüber, und als der Cantus formus zuletzt im Pedal erledigt ist, schlägt Meister Konring zufrieden die Arme übereinander, um sich eine Weile zu verschnaufen. Die Gemeinde darauf scharf im Winkelspiegel fixierend, singt er sodann vor, herzhaft, aus voller Brust.

Christeldierk, der Großknecht von der Håeseler Mühle, steht auf seinem Erbplatz Numero 8 schon längst auf der Lauer, die Lunge zum Platzen aufgepumpt. Seine Prieche und die vorderen Reihen auf der Prieche gegenüber hat er noch jedesmal mit seinem Nebelhornbaß sofort in Schwung gebracht. Na und unten im Schiffe fassen sie ja denn auch allmälig Ton.

Ei, aber die Posauner! Die sind schön in Angst! Beim zweiten Vers sollen sie einfallen und mitblasen.

»Gutt u Gutt, Korl, mick schuddert 't de Bein' hendahl – min oll Hürn hat'n sworen Ansatz!« 107

»Den Deuker un ick griep an't olle Duwenfentil so licht bitau, bi min deipe F.«

»Du, Jehann, du büst so'n ollen Tüderichen, pass' åewerst up bi't Uthollen – jümmer den Kanter sinen Kopp wiß in't Oge faten, nipper nah sine Teiken kieken!«

»Kiekt mal her, Kinners, kiekt mal: wo ick bewer! Ick glöw, de Beswimmnis krieg' 'ck noch ut Angst! Wenn 'ck man nich min swort B wedder tau sied anblasen dhauh.«

»Kinners, man jümmer ornlichen Ansatz,« mahnt Schaper-Hünten Chrischan, »Ansatz is de Hauptsak! Un dat Luftsnappen nah de ollen entfamtigen Firmaters nich vergeten. Un um Gottes Willen de Knåewels nich van de ollen Fentilers runner. Un nah jedden Vers furns dat Mundstück aff van de Snut un de Spucke utlopen laten.«

Alle acht sitzen steil da, die Kessel an den gespitzten Lippen.

Schaper-Hünten Chrischan setzt in aller Eile noch mal ab und trocknet sich den Schweiß. Fuhlbooms Willem und Ohlmanns Jehann räuspern sich in einem fort und lecken sich die Lippen feucht.

Zu Ende nun das Zwischenspiel. Der Kantor hält Ton und biegt sich halben Leibes zu seinen Posaunern herum. Sie sitzen in schönster 108 Ordnung im Halbkreis hinter der Orgelbank. An jedem Ende stehen Kollegen aus den eingepfarrten Nachbardörfern und passen auf und leisten mit wichtiger Miene Korrepetitordienste.

Energisch nickt des Kantors weißer Kopf und es erdröhnt der erste Posaunenakkord – leider etwas blökig im Tenorhorn (Chrischan, Chrischan, du warst der Sünder!), aber der zweite gelingt schon viel besser und nach jedem neuen Akkorde glättet sich Konrings Gesicht mehr und mehr: »wirklich, es geht, sie passen auf und halten sich tapfer.«

Beim dritten Vers:

»Es ist der Herr Christ, unser Gott,
Der will uns helfen aus aller Not«

läßt der Kantor den goldenen Stern auf dem Sims überm Orgelspruch (Psalm 96, Vers 4–6) sich munter drehen. Ein prachtvoller Anblick überhaupt die schöne, berühmte Fichtenhagener Orgel mit ihren herrlichen blanken Prinzipalpfeifen aus vierzehnlötigem Zinn!

Die Posauner haben mächtig Mut bekommen. Den dritten Vers bringen sie tadellos zu Ende. Darauf verschnaufen sie sich freudestrahlenden Gesichtes und halten ihre blitzblank geputzten Instrumente so, daß sie weitherum in der Kirche zu sehen sind.

Durch die Gemeinde geht eine rauschende 109 Bewegung. Alles war aufgestanden und setzt sich nun wieder.

Nach der Liturgie am Altar singen die Schulkinder im Chor, vom Kantor leise auf der Violine begleitet das Weihnachtslied:

»Es ist ein Reis entsprungen
Aus einer Wurzel zart.
Wie uns die Alten sungen:
Aus Jesse war die Art,
Und hat ein Blümlein bracht,
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.«

Und danach predigt Pastor Barthels in schlichten, kernigen Worten, daß es der gemeine Mann fassen kann, von Weihnachten, dem heiligen Feste der Liebe. Seiner Predigt hat er den Lobgesang der himmlischen Heerscharen in der heiligen Nacht zu Grunde gelegt:

»Ehre sei Gott in der Höhe
Und Friede auf Erden
Und den Menschen ein Wohlgefallen.

Und als er »Amen« gesagt hat, noch einen langen treuväterlichen Blick auf die Gemeinde wirft und darauf die Kanzel verläßt, da stimmen die Kinder auf dem Chor frisch und hell und herzhaft eine dreistimmige Motette auf die schönen Lobgesangworte an, die hat Kantor Konring selber extra für heute komponiert. 110

»Na, wat is denn, will de Kanter noch jümmer nich sin Vörspeel tau'n Utgangsgesang anfangen? –«

»Wat kro̊eppelt un drängt sei sick baben up'n Kur? – Nee, wo sei alle reckhalst un kiekt? Ok de Posauners rückt bietau un makt Platz?«

»Herrje, dat is woll gor de neie Hankensbütteler Dokter, de ja woll so'n groten russ'schen Pelz hat, un sine junge Fru?«

»Herr du mein, sünd 't nich desülwigten, de bi Kanters hüt ut de swarte Kutsch affst–«

»Nee, 'ne geele Halwschäse was't –«

»Och, hat sick wat: geel – ick heww't ja sülwen van unsen Hoff mit ankeken: 'ne swarte, un 'n grisen Kuffert wör achter upbunnen.«

»Na nu, rann an 'n Vörbalken pedd't sei bet vör? Witt Poppir hewwt sei all beid' in de Hand, groote Bagens? – Nee, Deubel, wat is düt? – Dat Frugensminsch rakt den Sleuer tau Höcht. – Würklich, tau singen fangt de beiden an, tausam, un de Kanter speelt jüm dortau ganz dusemang up de Ördel! Och Kinners, nee, hewwt de åewerst 'ne Gördel in'n Hals sitten, alle beide, de verstaht sick up't Singen, de könnt sick hüren laten! – An verflixt, wo wiet nah baben rup dat Frugensminsch nu quinkelirt! Du meine Güte, so 'ne hoge Quiek, nee, ganz bannig! – Un wo fien 111 un seut nu, as wenn Pingstdag de Swartdraußel fleuten dhat! – Nu huppt de Tons wedder up un dahl, up un dahl, liek as 'n Katheker in 'n Appelboom! – Och, wo schön dat ludt, dat warmt ein dat Hart ut!– Stah mick bi: nu drängt hei sick wedder vör un is de Hauptperson! – Nu sei! – Nu beide wedder taugliek an einen Strang!«


Offenen Mundes staunt alles zum Chor hinauf.

Was hätte man nicht darum gegeben, Namen, Stand, Wohnort und Vermögensverhältnisse des geheimnisvollen Sängerpaares schleunigst heraus zu bekommen, denn der niedersächsische Bauer ist durchaus Realpolitiker in Fragen der Kunst.

Kaum kommt man etwas zum Aufatmen, als das Duett zu Ende und macht sich gerade daran, Numero 77:

»Nun singet und seid froh,
Jauchzt all und saget: Oh!«

im Lüneburgischen Kirchengesangbuche aufzuschlagen, während der Kantor präludiert – da wieder eine Überraschung.

»Min Gott, wat is denn mit den Snider, wat hewwt denn de ollen Linselers?«

Laut schluchzend hat sich das alte Paar umfaßt. »Hei is't unse Fritz, unse Såehn!« 112

Das Elternohr sollte des eigenen Kindes Stimme nicht wieder erkennen, ja und wäre auch noch so 'n gewaltiger Hamburger Operntenor daraus geworden?

Im Handumdrehen ist's in der Kirche herum – »'t is Linselers Fritz, de Hamborger Oppernsinger un dat Frugensminsch bi öm is sine Fru!«

Die alten Linselers können von ihrem Platz nicht in die Höhe, als die Kirche aus ist. Der Schreck ist ihnen in die Beine gefahren. »Ein geistlich Lied hat er gesungen, heilig Abend, in unserer Fichtenhagener Gotteskirche, und die Frau – seine Frau, die mit ihm – –?«

Von allen Seiten drängen sie sich zu ihnen heran. Vorsteher Grootkas, Fanehl-Heinemann, Wesemanns Christoffer, Förster Danckert – was, auch Tischler Klintze? Was will der Schuft?

»Da, Snider, mine Hand – lat sin, lat sin – ick gew dick Frist mit de Prinzeßkosten, bet so lang, as du wutt. Du bliwwst inwahnen – witt uns verglieken – den Koppelweg kriegst de wedder, witt't schriftlich maken in Isenhagen up'n Amt.«

Wahrhaftig, Pastor Barthels kommt nun auch noch, aus der Sakristei, im Talar.

Der Respekt vorm Pastoren im Talar bringt die alten Linselers endlich auf die Beine. 113

Hinter dem Pastoren tritt Kantor Konring, feierlich langsam, mit triumphierenden Blicken, aus der Sakristei. Den Fritz führt er an der einen Hand und die schöne junge Frau an der andern.

»Da, Linselers, habt ihr euren Jungen wieder und eine Tochter daneben. Ich kenn' den Fritz, ich wußte, daß er euch keine Schande machen würde. So nehmt nun endlich Vernunft an, Meister, der liebe Gott hat alles zum Guten gefügt. Geht heim und feiert in Frieden zusammen Weihnachten. In Frieden! In Liebe!« 114

 


 


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