Heinrich Smidt
Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen
Heinrich Smidt

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Die Sturmvögel

Unfern von Norwegens felsiger Küste, dort, wo die Schiffer den Hafen von Bergen ansegeln, liegt mitten im Meer ein Felsen, der hoch aus der Flut emporragt. Er ist bekannt unter dem Namen Vogelklippe.

Zeit und Wellenschlag rissen ein Stück nach dem andern von ihm ab. Früher starrte er den Schiffer als ein furchtbares Schreckbild an, denn die alten Sagen meldeten, daß es hinter jenen Felswänden nicht geheuer sei, und ein böser Dämon dort sein Wesen treibe. Noch hat sich die Sage von der alten Mutter Cary und ihren Küchlein im Munde des Volkes erhalten, und der treuherzige Fischer erzählt dem horchenden Fremden folgendes:

Die Sonne tauchte blutig rot aus dem Meer auf. Die Herbstnebel schwammen auf den Wogen. Da erhob sich die riesige Gestalt eines norwegischen KämpenKämpfer, Kriegsheld. von seinem harten Steinlager auf der Vogelklippe und blickte forschend auf die Wasserfläche hinaus. Es war Helgo, der mit seinen Schiffen nach England ziehen wollte, um den übermütigen Alfred zu strafen, der den TributAbgabe unterworfener Personen, Stämme oder Länder an den Sieger, oft in bestimmten Zeitabständen sich wiederholend, z. B. jährlich. verweigerte. Aber in der Nähe der Vogelklippe ereilte ihn ein heftiger Sturm, der schleuderte sein und seiner Gefährten Schiffe gegen die eisenharten Wände, und als der Tag anbrach, war er von allen Streitern nur allein übrig. Von den Schiffen erblickte er keine Spur.

Ungeduldig schritt Helgo am Ufer auf und ab und spähte umher, wie von dem Felsen zu entkommen sei, aber nirgends bot sich ihm eine Gelegenheit. Da nahte sich die allbekannte Bewohnerin des Felsens und bewillkommnete ihn mit freundlichen Grüßen. Sie lud ihn in ihre Hütte und er, froh, endlich ein menschliches Wesen gefunden zu haben, folgte ihr. Er nahm Platz am Feuer, das, von der Alten sorgsam geschürt, bald in hellen Flammen aufprasselte. Sie setzte darauf ihrem Gast ein reichliches Mahl von Fischen, Vogel-Eiern und Waldbeeren vor und schob ihm einen Krug mit starkem MetHonigwein, bekannt als Getränk der Germanen. hin. Helgo griff tüchtig zu, mußte sich aber wundern, woher seine Wirtin diesen Vorrat plötzlich genommen hatte, denn kein Strauch grünte auf der Klippe, der Beeren spenden konnte, nirgends war eine Gelegenheit zur Bereitung von Speisen.

Die Alte sah ihren Gast lauernd an und sagte mit schnarrendem Ton: »Ei, mein tapferer Held, wie mögt Ihr Euch doch darüber wundern? Wir haben lange auf Euch gewartet, denn die heilige FreyaNordisch-germanische Göttin der Schönheit und Liebe., deren Bildsäule in dem HaineEingefriedeter Ort, der »heilige Hain« war die Kultstätte der Germanen. von Drontheim steht, hat meiner Tochter Asla versprochen, ihr auf den FittichenFlügel. des Sturms einen schmucken Freier hierher zu senden. Dieser Verheißung haben wir vertraut und nicht vergebens, denn Ihr seid nun da und könnt Eure Braut heimführen.«

Bei diesen Worten lachte Helgo laut auf. Die Alte aber vermerkte das sehr übel und sagte mit widerwärtigem Kreischen: »Ei, seht doch! Man soll Euch wohl noch gar bitten, das schönste Mädchen in Norwegen mit Eurer Liebe zu beglücken? Laßt mich nie ein solches Wort vernehmen, sonst möchte es leicht geschehen, daß ich Euch meinen Segen zu dem Ehebündnis nicht gebe, wenn Ihr mich auch auf Euren Knien darum anflehet.«

Mit diesen Worten ging sie hinaus, und Helgo, der ihr folgte, sah, wie sie zu einem Käfig, aus Eisendraht geflochten, trat, und den darin befindlichen kleinen Vögeln Futter streute. Diese pickten die goldenen Körner begierig auf und zwitscherten unaufhörlich: »Laß uns los! Laß uns los!«

Die Alte aber entgegnete: »Noch nicht, ihr Zügellosen! Der Schiffer braucht eure Warnung nicht. Warum zerschneidet er mit seinem hölzernen Haus den kristallenen Spiegel des Meeres? Laßt ihn in Ruhe daheim bleiben, und wenn er nicht will, weil es ihn so sehr gelüstet nach anderen Ländern und fremden Städten, so sollen Mutter Carys Zöglinge ihn wenigstens nicht warnen vor den Gefahren des nahenden Sturmes.«

Die kleinen Tiere aber fuhren dennoch fort zu rufen: »Laß uns los! Laß uns los!« bis die Alte mit einer langen Rute in den Käfig sprang und die Schnatternden zum Schweigen brachte. Bald darauf verschwand sie hinter den Felsen.

Helgo, der längst die Verheißung der Alten vergessen hatte, lehnte am Eingang der Hütte. Ein lieblicher Gesang, der unfern von ihm erscholl, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er blickte forschend umher und gewahrte eine schlanke Maid, die der Hütte zuschritt. Ihre goldenen Locken flatterten frei im Morgenwind, und die blauen Augen schweiften lächelnd umher. Dies, sowie ihr zarter Wuchs und das frische Rot ihrer Wangen, hatte so viel Anziehendes für Helgo, daß er ihr einige Schritte entgegenging. Anfangs, war die Jungfrau sichtlich verwirrt und antwortete mit zitternder Stimme auf den Gruß des Ritters; aber bald gewann sie ihre Fassung wieder und hieß ihn im Hause der Mutter willkommen. Es währte nicht lange, so waren beide miteinander im Gespräch vertieft und hatten die Alte nicht bemerkt, die näher geschlichen war.

»So recht, Kinderchen«, unterbrach sie endlich die Kosenden. »Schämt euch nicht vor mir. Die großen Götter haben euch einmal füreinander bestimmt, und es wäre sehr unbedacht gehandelt, ihren Beschlüssen zu widerstreben. Darum, mein Sohn Helgo, reiche meiner Tochter Asla die Hand und laßt mich den Segen über euch sprechen, der euch unauflöslich miteinander verbindet.«

Helgo schaute die Alte mit einem Blick des Staunens an, und der Zorn regte sich in seiner Brust; aber als er sie näher betrachtete, vermochte er nicht ein Wort hervorzubringen und ging stumm auf die Seite.

Aber noch an demselben Abend traf er, ohne daß er es gewollt hatte, wieder mit Asla zusammen und noch inniger wurde das Gespräch zwischen den beiden, als es am Morgen gewesen war. Das Mägdlein ward zärtlicher, hingebender; er wagte es, sie in seine Arme zu ziehen und einen Kuß auf ihre Lippen zu drücken, und als nun plötzlich die Alte erschien, da wußte Helgo selber nicht, wie ihm geschah. Der seltsam leuchtende Blick ihrer Augen drang tief in sein Inneres; er schlug die seinigen nieder und kniete stumm neben Asla, die weinend um den Segen der Mutter bat.

Mutter Cary aber sprach: »Wenn du wahrhaft mein Kind zum Weibe begehrst, so mußt du mir erst einen heiligen Eid schwören, daß du diesen Felsen nicht wieder verlassen willst, und die übrige Welt dir fortan nichts mehr gelten soll.«

Er zögerte. Aber Asla legte das goldgelockte Haupt auf seine Schulter; sie sah ihn mit einem süß-schmachtenden Blick an und langsam flossen die Eidesworte über seine Lippen.

Nun hatte Helgo ein junges, schönes Weib, und die Tage flogen im seligen Rausch dahin. Da trat die Alte eines Morgens an das Lager ihrer Kinder und sprach mit ihrem gewohnten Grinsen: »Es freut mich, daß ihr so still und einträchtig beieinander wohnt; aber ich empfinde Langeweile dabei, denn ich bekomme euch wenig oder gar nicht zu sehen. Darum will ich eine Reise nach einer entfernten Gegend Norwegens unternehmen, wo ein wichtiges Geschäft auf mich wartet. Wenn alles gut geht, kehre ich in Monatsfrist wieder zurück. Auch werde ich euch prächtige Gaben mitbringen, so schön, wie ihr sie noch nicht gesehen habt. Lebt wohl und bleibt in Liebe und Treue beieinander!« Und als sie das gesagt hatte, eilte sie von dannen.

Helgo lebte nun mit Asla in ungestörter Ruhe auf dem Felsen, der ihnen alles bot, was sie brauchten, ohne daß sie sich deshalb sonderlich bemühen mußten. Der Held vermied es, darüber näher nachzudenken und ergötzte sich mit seinem jungen Weib auf mancherlei Weise.

Einmal gelangten sie auf ihren Wanderungen zu dem Käfig, worin die Vögel eingesperrt waren, und diese zwitscherten den Kommenden entgegen: »Laß uns los! Laß uns los!« Und als Helgo sein junges Weib fragte, was es mit diesen Tieren für eine Bewandtnis habe, sagte die errötend: »Die Mutter ist mit vielen geheimen Dingen vertraut und hat Kenntnis von verborgenen Wissenschaften, woran wir auch im Traum nicht denken. Diese Vögel haben die seltsame Eigenschaft, daß sie den Sturm vorher verkünden. Sie fliegen dann auf die offene See hinaus und warnen den Schiffer, der gelassen seine Segel einzieht und der Gefahr so entrinnt. Der weise Mann, der den Tieren diese Macht gegeben hat, war vor vielen Jahren der Geliebte meiner Mutter, der ihr mit ihnen ein Geschenk machte. Jedesmal, wenn ein Unwetter nahte, das die Vögel mit lautem Gekreisch verkünden, ließ sie sie los, damit sie die sorglosen Schiffer warnten und in ihren Käfig zurückkehrten. So blieb manches schuldlose Menschenkind am Leben. Darüber ergrimmte der Gott, der in der Tiefe des Meeres herrscht. Da er aber gegen die Macht des Zaubers nichts mit Gewalt auszurichten vermochte, suchte er den weisen Mann durch allerlei Künste an sich zu locken und ihn meiner Mutter abwendig zu machen. Es gelang ihm. Sie ward verlassen, und hatte von jener Stunde an nur noch Gefühl für Haß und Rache. Sie fing die Vögel ein und schwor einen fürchterlichen Eid, daß sie ihre Freiheit nicht eher wieder erhalten sollten, bis ihre Tochter in treuer Liebe mit Norwegens erstem Helden verbunden sei.«

»Das bist du nun, mein süßes Lieb!« sprach Helgo. »Der Schwur deiner Mutter ist erfüllt. Darum laß uns dem Unheil ein Ende machen und den Tieren die Freiheit geben, damit der Sohn des Meeres seine freundlichen Warner wiedersehe.«

Er streckte die Hand nach dem Käfig aus und wollte versuchen, ihn zu öffnen. Asla aber hielt ihn mit ängstlicher Hast zurück und ließ nicht nach mit Schmeicheln und Bitten, bis ihm sein Entschluß wieder leid geworden war.

Die Sonne stieg aus dem Meer auf und fern am Horizont wurde ein Segel sichtbar. Helgo, der, solange er auf der Vogelklippe gewesen war, solchen Anblick entbehrt hatte, ergriff einen mächtigen Feuerbrand und warf ihn in einen großen Haufen dürres Holz und Moos, so daß die Flamme in heller Lohe emporschlug. Asla betrachtete dies Beginnen mit ängstlichem Staunen, aber bald schrie ihr Gatte freudig auf, denn die Schiffer hatten sein Zeichen gesehen und steuerten die Klippe an. Bald näherten sie sich dem Felsen, die Männer sprangen auf den Strand und Helgo erblickte unter ihnen seine liebsten Waffengefährten Rös und Ourdal, die gleich ihm in jener furchtbaren Sturmnacht gerettet wurden und sich aufgemacht hatten, ihren geliebten Führer zu suchen. Heitere Lust herrschte am Strand, bis Rös und Ourdal ihren wiedergefundenen Führer aufforderten, den unwirtlichen Felsen zu verlassen und mit ihnen in den Kampf zu ziehen: denn immer mächtiger werde der englische Alfred, der es sogar wage, die Küsten von Norwegen zu bedrohen. Nun teilte Helgo seinen Freunden mit, was ihn hier zurückhalte. Anfangs waren sie im hohen Grade betroffen, als sie aber Asla sahen, deren Lieblichkeit auch sie bezauberte, entgegneten sie: »Sei sie denn dein Weib, ob sie gleich keine Königstochter ist; aber führe sie nur von hier fort und laß sie dir dorthin folgen, wo ruhmvolle Gefahren auf dich warten.«

So sprachen die wackern Kämpen; Asla aber entgegnete: »Nie werde ich diesen Felsen verlassen und auch Helgo darf nicht mit euch ziehen, denn ein furchtbarer Eid hält ihn zurück.«

In der Brust des Helden begann ein Kampf, wem von beiden er folgen solle, und schon hatte die liebliche Beredsamkeit seines Weibes fast den Sieg davongetragen, als Ourdal plötzlich ausrief: »Ha! Seht ihr jenes spitze Segel dort im Osten? Das ist Alfred selbst, den unsere Schwäche so kühn macht, bis hierher vorzudringen. Nun, er wagt nichts dabei, unser Helgo wird ihm gastfrei Tor und Tür öffnen und als dienender Knecht mit gekrümmtem Rücken auf der Schwelle stehen.«

Helgo schrie bei diesen Worten laut auf vor Wut. Nicht achtend auf das Angstgeschrei seines Weibes, griff er zu seinem Schwert, sprang an Bord des Schiffes und dies flog mit Windeseile davon.

Trostlos irrte Asla am Ufer umher. Ihre Tränen mischten sich mit der schäumenden Brandung. Um Mitternacht kehrte die Mutter heim und fragte nach Helgo. Unter lautem Schluchzen erzählte Asla das Geschehen und sank ohnmächtig nieder.

Die Alte ward über und über rot. Der Schaum stand ihr vor dem Mund, aber sie gab keinen Laut von sich. Mit stiller Tücke blickte sie auf die eingesperrten Sturmvögel, die sich diesmal ganz ruhig verhielten. Hierauf ging sie an ihr mitternächtliches Werk, einen tüchtigen Sturm heraufzubeschwören, der den fliehenden Verräter strafen sollte.

Um Asla hatte sie sich während dieser Zeit nicht gekümmert. Als diese aus ihrer tiefen Ohnmacht langsam erwachte, hörte sie, daß die Vögel in ihrem Käfig ängstlich hin und her flatterten und zwitscherten: »Laß mich los! Laß mich los!« Erschreckt raffte sie sich auf, sah ihre Mutter in der Ferne, vom Feuer gerötet, vor dem Zauberkessel stehen und vernahm die geheimnisvollen Sprüche, die diese vor sich hinmurmelte. Sie erriet sogleich, was hier vorging. Mit kühner Entschlossenheit eilte sie zu dem Käfig. Der Deckel flog auf und die Tiere erhoben sich mit lautem Zwitschern. Außer sich lief die Alte herbei und heulte vor Wut, als sie sah, was geschehen war.

Asla aber sprach: »Um meinetwillen soll keiner mehr sterben und hat er mich auch treulos verlassen, so liebe ich ihn dennoch und will mein Leben hier einsam vertrauern, bis die Götter mir ein gnädiges Ende schenken. Möge dies bald geschehen!«

Mit diesen Worten sank sie zu Boden; das treuliebende Herz war gebrochen. Laut heulend stürzte Mutter Cary bei ihr nieder. Bei der Leiche der Tochter erstarrte auch sie. Der felsige Boden wich auseinander, und der verschwiegene Abgrund bot ihnen ein ruhiges Grab.

Die Sturmvögel, von Asla befreit, zogen am Horizont dahin. Die Schiffer wurden gewarnt und der Sturm heulte machtlos vorüber. Als aber die Norweger den streitlustigen Engländer erreichten, traf ein schwerer Bolzen aus feindlichem Geschoß den treulosen Helgo so heftig vor die Brust, daß er rücklings in die See stürzte. Die Wellen schlossen sich über ihm.

Die Vögel eilten zu ihrem Felsenhorst zurück. Als sie aber ihre treue Pflegerin vermißten, stoben sie nach allen Himmelsgegenden auseinander und durchkreuzen jetzt die Meere, dem aufmerksamen Schiffer ein treuer Warner bis auf den heutigen Tag.


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