Heinrich Smidt
Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen
Heinrich Smidt

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Die Meeres-Fee

Mitten im weiten Atlantischen Ozean lag eine Insel, lieblich anzuschauen, und jeden beglückend, der sie bewohnte. Ein steter Frühling herrschte hier; die Natur spendete ihre Schätze mit verschwenderischer Güte. Abgeschnitten von allem Verkehr mit der Welt waren ihre Bewohner unbekannt geblieben mit den Sitten und Gebräuchen der kultivierten und unkultivierten Länder, deren Dasein sie kaum ahnten. Sie lebten in patriarchalischer Ruhe dahin.

Da begab es sich, daß kühne Segler, denen es in der Heimat zu eng wurde, sich aufgemacht hatten, um jenseits ferner Meere neue Länder und in diesen neue Reichtümer zu entdecken. Der Lauf des Schiffes ward bald nach dieser, bald nach jener Himmelsgegend gerichtet, und so geschah es, daß die fremden Abenteurer auch in den Gesichtskreis jener glücklichen Insel kamen.

Deren Bewohner strömten am Ufer zusammen und betrachteten mit neugierigen Blicken die ihnen ganz unbekannten Ankömmlinge. Die Jugend lief in froher Ausgelassenheit durcheinander; die Alten äußerten unverhohlen ihre Furcht, von den nahenden Fremdlingen in ihrer gewohnten Lebensweise unterbrochen zu werden; die Männer aber suchten in ruhiger Besonnenheit nach Waffen und bereiteten sich vor, Gewalt durch Gewalt zu vertreiben.

Das Schiff der Fremden ging vor Anker und sie betraten das Ufer. Sie äußerten die freundschaftlichste Gesinnung und wurden in gleicher Weise empfangen. Gern hätten sie von dieser Wunderinsel Besitz genommen und da sie sahen, daß hier mit Gewalt nichts auszurichten sei, nahmen sie ihre Zuflucht zur List. Sie mischten sich unter die Eingeborenen, schilderten ihnen die Lebensweise in ihrer Heimat in den hinreißendsten Farben, zogen sich dann zurück und begannen in fröhlicher Ungezwungenheit ganz nach der Sitte ihrer Heimat zu leben. Anfangs schreckten die Insulaner vor diesem Beginnen der Fremden zurück, aber bald näherten sich ihnen einige, von Neugier getrieben; wieder andere nahmen versuchsweise teil, bis endlich alle mit den Fremdlingen gemeinschaftliche Sache machten und die Bewohner der Insel in Saus und Braus lebten. Von dem Augenblick an war es, als ob die Bäume und Blüten trauerten und der magische Wolkenschleier riß, der bis dahin die Insel mit lieblichem Zauber umfangen hatte. Stürme heulten durch die Nacht, und die wilde Brandung peitschte das Ufer.

Da floh Maja, die Königstochter dieser entarteten Insulaner, in den dichten Wald und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Trüben Auges schaute sie vor sich hin, Seufzer hoben ihre Brust. Da ergoß sich plötzlich eine flammende Röte über ihr Gesicht, denn vor ihr stand Bianor, der Sohn des Häuptlings jener Fremden.

Bianor war ein Jüngling von der vollendetsten Schönheit. Er stand auf der Stufe, wo die Anmut des Jünglings zur kräftigen Männlichkeit übergeht. Maja dagegen war von einer so bezaubernden Schönheit, daß sie schon oft den Neid der Liebesgöttin erregte, weil diese den Zauber der Grazie entbehrte, den Maja in so hohem Grade besaß.

Mehrmals hatte Bianor sich der Jungfrau, für die er in reiner Liebe erglühte, zu nähern gesucht, aber immer war diese ihm in holder Scham ausgewichen. Jetzt standen sie einander gegenüber, und wenn auch die Lippen schwiegen, sprach doch das Auge, und bald saßen sie in süßer Befangenheit nebeneinander.

»Mir gefällt die Lebensweise deiner Freunde nicht«, sprach Maja.

»Auch mir ist sie zuwider«, entgegnete Bianor. »Könnte ich doch diesem Gewühl entfliehen.«

»Und wohin?«

»Zu dir! Und mit dir allein im verschwiegenen Waldesgrün oder auf schwankenden Wogen.«

So flüsterten beide, seliger Empfindungen voll, bis sie endlich, Herz um Herz tauschend, sich ewige Liebe schworen. Am andern Morgen vertraute Bianor dem Vater seine Liebe an und eilte dann zu dem Inselkönig, ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten. Aber in den Herzen der Väter wohnte nicht der fromme Sinn der Kinder; sie waren beide von Stolz und Hochmut erfüllt, jeder glaubte herabzusteigen, wenn er zu diesem Bündnis die Hand böte, und beide untersagten den Kindern auf das strengste, sich einander je wieder zu nähern. Längere Zeit ehrten die Kinder das grausame Gebot der Väter, aber endlich siegte die Liebe und sprengte die Fessel. Sie sahen sich öfter, begünstigt vom Dunkel der Nacht, sie wiederholten die Schwüre einer ewigen Liebe und schlossen sich inniger aneinander; aber der Engel der Unschuld wich nicht von ihnen und hielt ihren Sinn und ihre Herzen rein. Sie beseufzten die traurige Gegenwart und träumten von einer glücklichen Zukunft.

Da ergoß sich plötzlich ein lichter Schein und in dem Glanzmeer, das sie umwallte, erblickten sie die zarten Umrisse einer überirdischen Frauengestalt. Zitternd vor Furcht und Erwartung schlossen sich beide fester aneinander.

»Fürchtet euch nicht«, sprach die Erscheinung mit überaus lieblicher Stimme. »Die Fee des Meeres nennt man mich, und diese Insel war bisher mein Wohnsitz. Es war der letzte Ort auf Erden, der von der Verderbtheit der Menschen rein erhalten und meiner würdig war. Nun ist auch dieses Paradies zerstört und ich bin heimatlos. Darum habe ich mir ein Reich geschaffen, das dem Auge der Menschen verborgen bleiben muß. Es ist nicht hier, es ist nicht dort, aber dem Auge, das es finden will, überall erkennbar. Ich wohne allein in meiner Schöpfung, mir fehlen Wesen, die ich beglücken kann. Ihr habt euch beide rein erhalten in dem Strudel des Verderbens. Wollt ihr warten, bis er auch euch ergreift, oder wollt ihr mir folgen?«

»Wir wollen dir folgen!« riefen beide, wie aus einem Munde.

»So geht heimwärts zu den Euren, und was in der Nacht der Traum euch lehrt, das tut.«

Die Meeres-Fee breitete die Hände wie zum Segen über sie aus und verschwand.

Tief erschüttert und hoch erhoben zugleich trennten sich die Liebenden und gingen in ihre Wohnungen. Und als die Mitternacht herankam, hatten beide denselben Traum. Die Erscheinung aus dem Wald trat an ihr Lager und winkte ihnen. Sie folgten ihr und der Weg ging durch Feld und Wald mit unglaublicher Schnelle. Am Meeresstrand trafen sie zusammen und umarmten sich innigst. Die See glänzte ihnen entgegen, als ob sie im Sonnenlicht hell aufglühte. Ein Fahrzeug lag am Ufer und die Fee winkte ihnen, einzusteigen, indem sie über die Wogen hinausschritt in die Nacht. Bunte Lichter strichen über die wallende Fläche hin gen Osten und ohne Steuer und Segel zog die Gondel mit den Liebenden ihnen nach.

Majas heimatliche Insel war längst aus ihrem Gesichtskreis entschwunden. Die Lichter erloschen, die Morgendämmerung brach herein. Fester schmiegte sich Maja an ihren Bianor, als sie sich in der großen Wasserwüste mit dem Geliebten allein sah. Plötzlich stand die Gondel fest, als sei ein schwerer Anker von ihrem Bug in die Tiefe hinabgerollt. Ein leiser Lufthauch zitterte über den Meeresspiegel, und die gütige Fee tauchte daraus hervor.

»Seid mir willkommen in meinem Reich«, sprach sie sanft. »Möge ein günstiges Gestirn über euch leuchten, damit ihr dieser Gunst nie unwürdig werdet. Kommt, meine Lieben.«

Da tauchten die ersten Strahlen der alles belebenden Sonne im Osten auf und wie durch einen Zauberschlag war plötzlich die ganze Gegend verwandelt. Hohe, grünende Ufer entstiegen den Wogen, prachtvolle Palmenwälder schmückten die Hügel, die üppigen Täler waren von Seen durchschnitten, und ihre Ufer von Blumen eingefaßt, deren Farbenpracht das Auge blendete, und die doch unwiderstehlich fesselte. Die stolzen Türme mächtiger Schlösser ragten in die blaue Morgenluft und die lichten Mauern glänzten wie Silber und Gold. Die beiden Liebenden jauchzten auf vor Entzücken und umarmten sich mit Tränen in den Augen.

Die Fee des Meeres deutete auf ihr zauberisches Reich: »Kommt, meine Kinder«, sprach sie und verschwand hinter den Bergen. Da schwammen zwei lichtweiße Schwäne heran, umschlangen die Gondel mit Rosenketten und führten sie mit Flügelschnelle von dannen.

 

Das ist die Sage von der Meeres-Fee. Noch jetzt, wenn unter den südlichen Breiten die scheidende Nacht mit dem kommenden Tag um die Herrschaft kämpft, wallen die Nebel auf, und das phantastische Reich der gütigen Fee steigt aus den Wogen auf. Aber der überkluge Schiffer lehnt am Steuer, sieht mürrisch auf das bunte Farbenspiel und spricht vor sich hin: »Da ist die Fata Morgana wieder; nun werden wir wohl Sturm kriegen.«

Das hört die Fee. Unwillig schüttelt sie das Haupt, die Zauberinsel versinkt, zürnend erheben sich die Wogen und peitschen den Schiffer und sein Schiff von dannen. Wer aber mit unbefangenem Gemüt und schuldlosem Sinn die heitere Erscheinung sieht, dem geht ein ganzer Himmel auf in seinem Innern und aus Wellenschaum und Nebelflor träumt er sich in eine Welt voll schuldloser Freude und lieblicher Poesie. Des Lebens höchste Poesie aber ist die Liebe.


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