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Henri Bergson

1914

Der tiefste Kern jeder geistigen Verfassung offenbart sich, sobald die Bewegung des Denkens, das unruhige Fragen nach der Bedeutung, der Herkunft, der Begründung des Wirklichen und Gedachten an einem Begriff gelandet ist, gegen den all jene Fragen nicht mehr gerichtet werden. In der Vorstellung des Einzelnen, des Kreises, der Kulturepoche ruht, mehr oder weniger deutlich, ein solcher Begriff, auf den alle Gedankenwege, als suchten sie erst an ihm ihre Orientierung, zugehen, während er selbst der schlechthin selbstverständliche, keiner Fundierung bedürftige und fähige ist. Denn er ist der Ausdruck der jeweiligen Art und Gerichtetheit des geistigen Wesens, die dieses selbst als letzte Tatsache vorfindet und die nicht bewiesen werden kann, weil sie nicht widerlegt werden kann. Diese unbegründeten Grundbegriffe sind die Punkte, an denen das Denken und das Sein des Denkenden sich treffen. So zeigte der griechische Geist seine Struktur an der Idee der Substanz, einer festen, unveränderlichen Wesenheit und ihrer Formen. Die Aufgabe des Denkens schien mit der Zurückführung der Erscheinungen auf ein Zeitlos-Unveränderliches gelöst, ohne daß dieses selbst nach seiner Legitimation gefragt wurde. Die Verehrung der plastischen Form, wie sie diesem Geiste, in seiner unvergleichlichen Einheit von Rationalismus und Künstlertum eignete, ist das Symbol davon, wie hier der Begriff des substantiellen Seins und seiner ewigen Formen zur abschließenden Unfraglichkeit des Weltbildes wurde. An diese Stelle setzte das Christentum den Begriff Gottes und der gottgesetzten Ordnung der Dinge. Ich lasse hier dahingestellt, wieviel von jenen griechischen Grundbegriffen darin weiter wirkte. In jedem Falle hat der Begriff, an dem das Fragen aufhört, innerhalb der christlichen Weltanschauung ein größeres Quantum Leben in sich aufgenommen, als der griechische Seinsbegriff. Dann tritt mit dem Ende der Renaissance ein anderer Begriff als der letzte hervor: die Natur und die Gesetze ihrer mechanischen Bewegung. Jetzt ist die wahre Wirklichkeit nicht mehr die schlechthin feste, die granitne Ewigkeit des Seins, wie bei den Griechen und eigentlich auch am Gottesbegriff; sondern sie ist eine in jedem Augenblick veränderte, und so sind denn nun die Gesetze dieser Veränderungen das Definitive, Allentscheidende. Wo sie selbst herkommen, kann nicht mehr gefragt werden, und wenn sie aus dem Willen oder der Wesenheit Gottes hergeleitet werden, so ist dies nicht mehr in der Struktur jener Begriffe selbst angelegt, sondern entstammt einer prinzipiell anderen und jetzt nur überlieferten Problemstellung. Nun aber scheint mit dem 20. Jahrhundert die mechanische Bewegung ihre Stelle als letzte Instanz einem andern Begriff einzuräumen: dem Leben. Zwischen der metaphysischen Ewigkeit der Substanz als dem nicht mehr begründbaren Grundbegriff und dem modernen Begriff des Lebens offenbart sich die mechanische Bewegung als Zwischenglied – als hätte das Denken, das selbst ein Leben ist, sich zunächst ganz aus sich entfernt, um einen Halt, ein Objekt, eine Erlöstheit zu gewinnen, und hätte erst auf dem Umweg oder über die Brücke der naturgesetzlichen Bewegtheit hin den Mut zu sich selbst, sich selbst als letztes Fundament des Daseins überhaupt gefunden. Die Lebendigkeit des Gottesbegriffes reichte, angesichts von dessen Transzendenz, nicht aus, die Welt auf das Leben zu stellen; wo Gott wirklich ganz in sie eingeht, wie in der Philosophie Spinozas, wurde sie eine rein mechanistische, gerade absolut unlebendige. Sie mußte erst von der modernen Naturwissenschaft restlos in Bewegtheiten aufgelöst werden, ehe das Leben, das zunächst diesem gegenüber als das Einzelne, Sekundäre, Zufällige erschien, sich als das Tiefere, Fundamentalere auftun konnte; die mechanische Bewegtheit wurde selbst zum Problem, das der Lebensbegriff, nun selbst nicht mehr Gegenstand einer Frage, von sich aus lösen konnte. Dies ist die große Absicht Bergsons.

Sie stellt sich deshalb als die Umkehrung des Weges dar, auf dem die moderne Wissenschaft den Organismus, das seelische Leben, schließlich das Weltganze wissenschaftlich zu erkennen sucht. Dieser Weg geht von den Teilen zum Ganzen, von gegebenen Elementen zu der Einheit, die sich aus ihnen zusammensetzt. Die Teilstücke eines lebendigen Wesens sind chemisch und physikalisch bestimmt. Physikalische und chemische Wirkungen also, prinzipiell: die mechanistische Naturgesetzlichkeit, die allen Erscheinungen außerhalb des Organismus die gleiche Notwendigkeit auferlegt, besteht auch innerhalb des Organismus, oder vielmehr, ein Organismus entsteht, indem mechanistische Wirkungen sich zusammenfinden, und in einer außerordentlichen Komplikation der Gesetzmäßigkeiten, die sie auch außerhalb des Organismus zeigen, den Lebensprozeß erzeugen und sich abspinnen lassen.

Von Bergsons kritischen Gründen gegen diese Erklärung des Lebens scheint mir einer der für ihn entscheidende und sein ganzes Weiterdenken begründende. Wäre der Mechanismus für die Welt und also auch für das Lebendige in ihr absolut gültig, so würde ein mit hinreichendem Wissen ausgestatteter Geist die ganze Zukunft jedes Wesens konstruieren können. Das heißt, es würde jeder Zustand eines materiellen Systems, des Weltganzen wie eines Organismus, aus einem vorhergehenden zu berechnen sein. Obgleich nun die Physiker in solche Rechnungen den Zeitverlauf des Geschehens mit einsetzen, so ist in Wirklichkeit die Zeit hierfür völlig gleichgültig. Denn keine Formel, kein Zustand würde sich ändern, wenn etwa alle Weltbewegungen auf einmal doppelt oder tausendmal so schnell oder so langsam abliefen, als sie es tatsächlich tun. Jenes Auge, das alles überschaut, würde deshalb mit einem einzigen Blick alle Gegenwart und Zukunft erfassen, ihm wäre der ganze Weltprozeß mit einem Male gegeben, und jeder beliebige Abschnitt von diesem würde auch in der Tat in einem einzigen Augenblick abrollen können, wenn nur die Geschwindigkeit, mit der die einzelnen, auseinander berechenbaren Zustände einander folgen, unendlich groß wäre. An diesen Zuständen und den Gesetzen ihrer Abfolge wäre damit garnichts geändert. Dies aber besagt unmittelbar, daß das Leben auf diese Weise nicht erfaßt werden kann. Denn für das Leben ist der zeitliche Verlauf etwas durchaus Wesentliches und es würde vollkommen aufgehoben sein, wenn man Jugend und Alter unendlich nahe aneinander rücken wollte. Es mag relativ schneller oder langsamer verlaufen, d.h. ähnliche Zustände mögen sich bei verschiedenen Wesen mit verschiedener Schnelligkeit folgen; aber die Zeit, die nun einmal dem einzelnen Organismus zwischen Jugend und Alter beschieden ist, kann absolut nicht abgekürzt werden; denn Leben heißt Altern. Hier ist die Zeit nicht mit einzelnen Konstellationen ausgefüllt, die beliebig nahe aneinander gerückt werden können, sondern mit einer stetigen Strömung, in der es überhaupt keine festen, bestimmt begrenzten Zustände gibt. Diskontinuierliche Punkte, auf einer Linie gelegen, kann man näher und näher aneinander rücken. Von der Linie selbst dagegen kann ich zwar beliebige Stücke abschneiden, wodurch sie eine andere Linie wird, aber sie in sich zusammendrängen, ist eine ganz unvollziehbare Vorstellung. So kann man Inhalten der Zeit, nachdem man sie zu Einheiten isoliert hat, kleinere oder größere Distanz geben, an ihr selbst aber ist dies nicht ausführbar und deshalb ebenso wenig an dem Leben, das die Kontinuität der Zeit hat. Jedes Entwicklungsmoment eines Lebewesens ist mit einem bestimmten Augenblick eben dieser kontinuierlichen Zeit absolut solidarisch verbunden, der ihm durch alle vorangegangenen Momente zugewiesen ist. Weil das Leben eine Einheit ist, kann es nicht, wie eine Anzahl mechanisch aufgereihter Zustände, zusammengedrängt werden. Deshalb ist die Zeit für diese ein leeres, gleichgültiges Schema, für das Leben aber die unmittelbare Wesensform, die also aus jenen nicht herausgepreßt werden kann. Das Zeitschema der Physik ist überhaupt keine eigentliche ablaufende Zeit; denn in ihrer Gleichförmigkeit, in die die Dinge nur gleichsam hineingesetzt werden, ist ja kein Punkt von dem andern unterschieden, sie hat also an sich kein Früher und Später. Nur die Zeit, die gelebt wird, in der also jeder Punkt notwendig früher oder später als jeder andere ist, ist die wirkliche, ablaufende Zeit.

Noch anschaulicher vielleicht ist der andere Unterschied. Da nach dem Grundsatz des Mechanismus jedes Gebilde oder jeder Zustand aus einfacheren Elementen zusammengesetzt ist, so kann er auch wieder in diese aufgelöst werden; prinzipiell muß aus jedem späteren Zustand der frühere wieder hergestellt werden können; dieses beliebig oft zu wiederholende Spiel ist gleichsam das physikalische Bild davon, daß jede Gleichung ebenso von rechts nach links, wie von links nach rechts gelesen werden kann. Wiederum protestiert das Lebendige gegen diese Art des Konstruiertwerdens. Denn es ist an eine Reihenfolge seiner Zustände gebunden, die nur in einer Richtung ablaufen und niemals umgekehrt werden kann, wie die Reihenfolge einer chemischen Synthese und Analyse aus denselben Stoffen es vermag: es kann nur aus der Jugend das Alter werden, niemals aus dem Alter die Jugend! Gegenüber aller mechanischen Auffassung des Lebens gilt also zunächst diese Kritik: seine Entwicklungen sind weder aus vorher bestehenden Stücken zusammenzusetzen, noch ist es jeweils so in einem Augenblick gegeben, daß sich seine Zustände für alle Zukunft berechnen ließen, weil alle Berechnungen nur einen festen Zustand aus dem andern seinem Inhalt nach entwickeln. In beiden Hinsichten wäre die Zeit gleichgültig, denn das Leben ließe sich in der einen beliebig umkehren, in der andern beliebig zusammendrücken – während es in Wirklichkeit ein in und mit seinen Inhalten selbst begründetes Vorher und Nachher ist. Hier unterscheiden sich die Theorien, die die Gestaltungen des Lebens aus ihrer Zweckmäßigkeit herleiten wollen, gar nicht von den mechanistischen. Denn auch für sie ist alles Leben bereits gegeben und nur die Verwirklichung eines vorliegenden Planes und Zweckes; in welchem Zeitverlauf diese Verwirklichung geschieht, ist für den Plan selbst prinzipiell gleichgültig: der Finalismus ist nur ein umgekehrter Mechanismus. Da sich das Leben also nicht aus Elementen vorberechenbar zusammensetzt; da das Spätere nicht bloß eine andere Zusammensetzung des Früheren ist, sondern jeder Moment eines Lebens etwas ist, was es so in ihm noch nicht gab – so sind seine Entwicklungen in jedem Augenblick etwas Schöpferisches. Das bedeutet: so wenig wie die Zeit sich wiederholen kann, weil das kontinuierliche Fortschreiten ihr Wesen ist, so wenig kann es irgend ein Lebensmoment. Jeder vielmehr ist dem Vergangenen gegenüber ein Neues, während die mechanistische Wissenschaft nichts Neues zugeben kann. Denn welche Gleichheit zweier Momente eines Lebens wir auch annehmen wollten – schon dadurch, daß der erste dem zweiten vorangegangen ist, ist dieser zweite in einer, für den ersten ganz unerreichbaren Weise modifiziert. Es ist z.B. ganz unmöglich, denselben Gedanken genau zweimal zu denken, denn wir denken ihn das zweite Mal mit einer seelischen Energie, die durch sein erstes Denken doch irgendwie anders geworden ist, als sie bei diesem ersten Denken war. Dem Prinzip des Mechanismus, der das Wirkliche aus gegebenen Stücken zusammensetzt, es aus fertigen Voraussetzungen ableitet, im letzten Grunde nur Gleiches wiederholen läßt – ist der Lebensprozeß ganz fremd. Denn für jenes bewirkt die Gleichgültigkeit oder künstliche Schematik der Zeit, daß das Vergangene völlig verschwunden ist, jeder Zustand ist nur Gegenwart, die immer die Resultante sehr verschiedener Ursachen sein kann, während das Leben, sowohl in der Entwicklung der Arten wie im Individuum, Geschichte hat, d.h. jede Gegenwart die ganze Vergangenheit voraussetzt. Da diese Vergangenheit aber stetig mehr wird, so kann kein Moment des Lebens einem andern wirklich gleichen. Deshalb ist das Künftige nicht aus dem Früheren oder Jetzigen berechenbar – was kein Manko des Erkennens ist, das ausgeglichen werden könnte, sondern die positive Qualität des Lebens. Das Leben ist ein ununterbrochenes, fließendes Schaffen von Neuem, so noch nicht Dagewesenem, es erschöpft sich nicht in der Form von Ursache und Wirkung, die schließlich immer nur Gleiches aus Gleichem entwickelt, sondern ist eine ganz ursprüngliche schöpferische Bewegung, die nicht berechnet werden kann wie ein Mechanismus, sondern nur erlebt.

Ich sehe hier eine tiefgelegene motivische Verwandtschaft mit Nietzsche, die man auf die Formel bringen mag: daß das Leben und seine Höhe nicht auf das zu begründen ist, was unterhalb seiner liegt. Nur daß dies bei dem Naturphilosophen Bergson auf die Wirklichkeit des Lebens, bei dem Moralphilosophen Nietzsche auf seinen Wert geht. Nietzsches ganzer Haß richtet sich dagegen, daß die höchstentwickelten Erscheinungen des Lebens – die Menschen der jeweilig gesteigertsten Kraft und Schönheit, Vornehmheit und Schöpfermacht, Größe und Tiefe – ihre Legitimation und ihren Wertmaßstab aus den zurückgebliebenen Schichten des Menschentums holen sollen: aus ihren Wirkungen auf die Masse, aus dem, was die Zukurzgekommenen, die Mühseligen und Armen an Geist von ihnen haben. Dieses Sichherunter- und Zurückbeugen lasse das aufwärtsstrebende Leben – und Leben im eigentlichen Sinne ist es nur, insoweit es aufwärts zu einem noch nicht erreichten Teilstrich der Entwicklungsskala strebt – verkümmern, es ziehe seine Werte in perverser Weise aus der Schicht, die sie ihrer Natur nach gar nicht hergeben könne. Besteht der Wert des Lebens unserer Art in der Höhe, die seine höchsten Exemplare erreicht haben, so streckt er sich dem entgegen, was über ihm ist und kann nie aus der Beziehung zu dem herausgewonnen werden, was unter ihm ist und das überstiegen zu haben ja gerade seinen Wert ausmacht. Und so kann für Bergson das Leben nur aus sich selbst wachsen, es drängt nicht nur, in jedem Augenblick schöpferisch, nach vorwärts, sondern dieses Schöpfertum des noch nicht Dagewesenen, dieses Hinausgreifen in das Unberechenbare ist sein eigentliches Wesen und es ist deshalb völlig unmöglich, es aus den kombinierten Elementen tieferer Ordnung, den bloß physikalischen und chemischen, zu entwickeln, wie die mechanistische Lebenstheorie zu können meinte.

Dennoch, irgendwie sind die mechanistischen Prinzipien in Physik, Chemie, Psychologie auf das Leben anwendbar. Zwischen dem Bilde der berechenbaren, diskontinuierlichen kausalen Welt und dem unberechenbaren, weil fortwährend neuen Leben besteht eine Beziehung. Während diese aber bisher dazu benutzt wurde, das Leben aus dem Mechanismus als seiner Voraussetzung abzuleiten, versucht Bergson das umgekehrte: den Mechanismus aus dem Leben abzuleiten. Hier steht nun zunächst eine metaphysisch-kosmologische Vermutung. In allem Dasein und als den Kern jeder Welterscheinung sieht Bergson ein absolutes, treibendes Leben, eine in sich einheitliche Schwungkraft, die Kraft in allen Kräften. Es ist diese Einheit des Lebensantriebes, aus der allein die organische Entwicklung begreiflich wird. Wenn zweifellos eine »Entwicklungs«-Reihe des Sehorgans durch die Tierarten hindurch von dem Pigmentfleck des Infusoriums bis zum Auge der Wirbeltiere führt; wenn ein höchst komplizierter Bau dieses Organs in ganz gleicher Weise an Gattungen auftritt, die ihn erst nach ihrer Abzweigung von einem vielleicht gemeinsamen Urstamm erworben haben können, so ist die mechanistische Erklärung Darwins durch angesammelte Zufälle, die einen Querschnitt durch die fließende Entwicklung an den andern reiht, genau so unzulänglich, wie die teleologische, die dieses Werden nach der Analogie eines menschlichen Maschinenbauens konstruiert. Ohne weiteres aber hebt sich die prinzipielle Schwierigkeit, wenn diese ganze Entwicklung eine einzige, durch die Jahrtausende erstreckte Lebensbewegung ist, wie sie, nur in engerem Zeitmaße, an einer Bewegung meines Armes besteht, die auch verschiedene Stadien durchläuft und sich für den Mechanismus auch aus gesonderten Muskel- und Nervenvorgängen zusammensetzt, innerlich aber eine daraus gar nicht herzuleitende, von Anfang bis zum Schluß unteilbare Einheit eines Schwunges ist. Dieser ursprüngliche, universale Trieb, der an und für sich ganz und gar Leben ist, spaltet sich dauernd in zwei Richtungen: nach oben, seine Vitalität fortsetzend, zum menschlichen Bewußtsein, in dessen freien schöpferischen Taten er zuhöchst sich ausdrückt; nach unten ermattend, seine Kraft, Einziges zu schaffen, einbüßend und in bloß Allgemeines versinkend, zu der Gleichförmigkeit des Mechanismus herabsteigend, kurz zur Materie werdend, in der es nichts Neues geben kann und die durch Gleichungen auszurechnen ist. Das universale Leben gleicht dem Dichter, der die gleichgültige Masse der Worte, wie der Lexikograph sie vorstellt, mit originalem, schaffendem, zusammenhaltendem Leben durchströmt; sobald aber seine Schöpferkraft erlahmt, fallen ihm die Worte zu einer toten, mechanischen Masse auseinander. Das Nebeneinander der Atome, auf das der Mechanismus anwendbar ist, gleicht dem bloßen Nebeneinander der Worte, das nicht mehr von der Lebenskraft eines Sinnes durchblutet ist.

Wie sich diese beiden Richtungen des universalen Daseins in jeder Existenz überhaupt kreuzen, so vor allem in der menschlichen. Fortwährend kämpft in uns das lebendige, freie, schöpferische Ich mit der Materie und ihrem Mechanismus, der zwar vom Leben geschaffen, aber nun vom Leben verlassen ist, und deshalb der Physik und Chemie unterliegt – oder der psychologischen Analyse. Alle Komik besteht nur in dem plötzlichen Anschaulichwerden dieses Kontrastes, nur darin, daß wir etwas Mechanisches da erblicken, wo wir dem Sinne der Situation nach etwas Lebendiges sehen sollten. In der wunderlichen Tatsache, daß wir über einen stolpernden Menschen lachen, steckt eben jener frappierende Dualismus, daß ein beseelter übermechanischer Lebensakt, wie das zielbewußte Gehen des Menschen, plötzlich der reinen Mechanik von Hemmung und Schwerkraft gehorcht. Oder wenn uns die bloße Nachahmung von Gang und Geste eines Menschen, der an und für sich keineswegs lächerlich ist, als etwas Komisches erscheint, so tritt auch hier das mechanistische Prinzip der Wiederholung des Gleichen an einem Lebendig-Individuellen auf, das von sich aus diesem Prinzip widerstrebt und in solcher äußerlichen Vereinigung mit ihm den humoristischen Kontrast ergibt.

Wichtiger aber als die Deutung der Rolle, die die mechanistisch wirkende Materie objektiv in dem Dasein und der Entwicklung der Welt überhaupt spielt, ist ihre Herleitung als einer Vorstellung in den menschlichen Subjekten. Hier ist Bergsons erstes Motiv: alles Materielle und Mechanische ist Erzeugnis und Gegenstand des logischen Verstandes. Aus dem Ganzen des Daseins, das, trotzdem eine Tendenz in ihm dauernd auf bloße Materialität, auf Herabsinken zu indifferenter Räumlichkeit geht, doch als Ganzes niemals von dem großen Lebensschwung verlassen wird – aus diesem schneidet unser Verstand einzelne Stöcke heraus, die von der rastlosen Bewegtheit des Ganzen abgeschnürt werden und nicht mehr durch die Gesamtströmung, sondern nur durch Anstöße von außen bewegt werden. Der Grund dieses eigentümlichen Verfahrens unseres intelligenten Denkens ist, daß unser Verstand überhaupt gar nicht dazu gemacht ist, die reine Wesenheit der Dinge zu erkennen, daß ihm das Erkennen um des Erkennens willen ursprünglich ganz fern liegt; er ist vielmehr nur ein Werkzeug des Handelns, er dient nur unseren praktischen Zwecken in der Welt. Dazu aber ist es für ihn erforderlich, die Dinge berechnen zu können, mit ihnen als mit fest umgrenzten, mechanisch behandelbaren zu verfahren. Schließlich geht das Interesse des Intellekts immer auf Herstellung irgendwelcher »Werkzeuge«, mit denen wir unser Milieu praktisch beherrschen können, und Werkzeuge lassen sich immer nur aus bereitliegendem Material herstellen, sind immer ein anorganisch Starres – auch wenn es die Werkzeuge einer rein geistigen Vornahme in einer Geisteswissenschaft sind –, gehen auf Herstellung einer Vielheit gleicher Produkte. Dies ist der äußerste Gegensatz zum Leben, dessen Wesen Bewegtheit ist; denn, so paradox es klingt, die Bewegtheit der Körper als solche geht unser Handeln nichts an. Dieses ist nur dafür interessiert, wohin ein bewegter Körper geht und an welchem Punkte seiner Bahn er sich jeweils befindet – also nicht die Bewegtheit, das Fortschreiten selbst, sondern die festen Lagen, die aneinander gereihten Unbewegtheiten, die fixierten Pläne, ihre Realisiertheit oder ihre Hindernisse sind für uns praktisch wichtig und die Bilder des Intellekts schaffen uns diese stabile, mechanische, mathematische Welt. Wäre dieser Intellekt zu reiner Erkenntnis als solcher bestimmt, so müßte er die Bewegung, jenes eigentlich Reale, das zwischen zwei Ruhepunkten und Festigkeiten liegt, sich zum Gegenstande machen. Der Intellekt zerschneidet den Stoff des Lebens und der Dinge, um ihn zu Werkzeugen, zu Systemen, zu Begriffen zu machen. Er ist das nach außen gewandte Leben, das sich das Verhalten der anorganischen Natur, die mechanistische Berechenbarkeit aneignet, um die Dinge für seine praktischen Zwecke auszunutzen; und Bergson macht hierbei die tiefe Bemerkung, daß unsere Logik fast durchgehends die Logik der festen Körper ist. Sie ruht im wesentlichen – gerade wie der Mechanismus – auf den Grundbegriffen Identität und Anderssein. Aber gerade diese sind für seelische Zustände – nach deren Analogie Bergson das Weltdasein auffaßt, die für ihn dessen Erstes und Letztes sind – völlig ungültig. Der Gegensatz der Identität und des Andersseins verschwindet in der Kontinuität des Sichänderns. Und hierbei sei bemerkt« gerade indem sich Bergson in solche Nähe des Pragmatismus begibt, für den alle Erkenntnis nur daraufhin entsteht und daraufhin »wahr« ist, daß wir mit ihrer Hilfe im Leben uns erhalten und vorwärtskommen – gerade damit überwindet er ihn. Denn während er diese Nützlichkeit als Ursache und Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis zugibt, sie aus ihrem idealen Reich in die Praxis verpflanzt verkündet er: dies ist gar nicht die reine und eigentliche Wahrheit. Was wir Erkenntnis nennen (und tatsächlich ist alle wissenschaftliche Erkenntnis = Mechanistik) ist nicht Wahrheit zum Zwecke der Praxis, sondern Verfälschung zum Zwecke der Praxis.

Es ist hier im allgemeinen nicht meine Absicht, in eine Kritik der Bergsonschen Theorien einzutreten; die fundamentalen Gedanken großer Philosophen haben ja überhaupt das Eigentümliche, daß »Widerlegungen«, die ihnen in der Ebene der Logik, ja der empirischen Tatsachen begegnen, das Letzte und Wesentliche ihrer Bedeutung nicht aufzuheben imstande sind. Sie bleiben als Offenbarung von typischen Geisteshaltungen und deren erlebtem Verhältnis zur Welt bestehen, auch wenn die sachlichen Behauptungen, in denen dies Aussprechbarkeit gewonnen hat, als sachliche nicht haltbar sind. Immerhin möchte ich an einer gewissen Problematik der Bergsonschen Stellungnahme nicht einfach vorübergehen. Wenn unser Verstand die Wirklichkeit nicht als Wirklichkeit erfaßt und als Werkzeug des Handelns auch gar nicht erfassen kann, wenn er uns statt ihrer lauter irreale Symbole bietet, auf die hin wir zu handeln haben – wie kommt es, daß dieses Handeln, das doch selbst eine Realität ist und in der realen Welt verläuft, in real förderlicher Weise verläuft? Die Welt, die ihm antwortet, ist nicht jene fiktive, intellektgefälschte, sondern die absolut wirkliche – und dennoch antwortet sie auf die falsch gestellte, sie eigentlich gar nicht treffende Frage mit einer Antwort, die – wenigstens im allgemeinen – nicht nützlicher, erwarteter, genauer sein könnte, wenn sie auf tatsächlich richtige Voraussetzungen hin erfolgte! Hier scheint mir die innerliche Unverbundenheit der wirklichen, d.h. vitalen und der mechanistischen Welt einen Spalt zwischen den subjektiven Voraussetzungen und den objektiven Erfolgen unseres Handelns zu lassen, über den ich bei Bergson keine Brücke finde. Und wie Bergson ihn als Tatsache nicht fühlbar macht, so ebensowenig als Wertmoment. Es ist, als ob er die Tragik davon gar nicht bemerkte, daß das Leben, um nur existieren zu können, sich in Nichtleben verwandeln muß. Innerhalb der tiefen Paradoxien des Christentums wäre das möglich: »Wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen,« Dort dagegen ist ja alles auf das Leben als auf das Absolute gestellt, und daß dies gerade seiner eigenen Aufhebung, der Erstarrung zu seinem eigenen Gegenteil bedarf, nicht um einer tragischen Dialektik, nicht um eines metaphysischen Dualismus willen, sondern einfach, um seine Wirklichkeit äußerlich durchzusetzen – das ist viel dämonischer, als wenn jene tieferen Notwendigkeiten es begründeten; gerade wie es die erschütterndste Tragik mancher Schicksale ist, daß sie es zu keiner rechten Tragik bringen können.

In welche wertmäßigen Folgen aber diese Theorie auch verlaufe, als Tatsache jedenfalls hält sie fest, daß der Intellekt bisher nicht imstande gewesen ist, das Leben zu begreifen – wovon der tiefere Grund vielleicht der ist, von dem diese Seiten ausgehen: daß das Leben, sobald es als das physisch und metaphysisch Erste und Absolute gilt, überhaupt nicht »begriffen« werden kann. Und deshalb – so schließt Bergson weiter – kann, da die Weltwirklichkeit in ihrem Grunde Leben ist, auch die Welt in ihrer Ganzheit und Einheitlichkeit nicht vom Intellekt bewältigt werden, sondern nur die herausgeschnittenen Stücke, in die sie zwar nachträglich zu zerlegen, aus denen sie aber nicht wieder zusammenzusetzen ist. Wie sollten wir denn auch mit unsern Verstandesbegriffen das Ganze und Volle des Lebens begreifen können, da sie selbst ja weiter nichts sind als Mittel, die das Leben in einem seiner Zweige, dem menschlichen, als dessen Werkzeug, sich in seinem Milieu durchzusetzen, erzeugt hat? Der Verstand verhält sich gar nicht anders als unsere Sinne, die auch gerade nur auf das eingestellt sind, was wahrzunehmen für uns nützlich ist. Der Wolf nimmt sicherlich Lamm und Ziege nicht als unterschiedene Wesen wahr, sondern sieht nur »Beute«. So sind auch unsere Sinne nur Möglichkeiten des Handelns, gerade wie unser gesamter physischer Organismus, Mittel, uns mit der Materie, an die wir im Praktischen wesentlich gewiesen sind, auseinanderzusetzen. Der Intellekt ist nur eine Fortsetzung und Verfeinerung davon in der gleichen Richtung, sozusagen nicht selbst Leben, sondern ein Apparat, den eine Verzweigung des Lebens um ihres unorganischen Milieus willen sich bereitet hat. Wie sollten solche Teilchen dem Ganzen nachkommen, ein partieller Niederschlag des Lebensgeschehens diesem selbst? Gewiß, die Wissenschaft muß so verfahren, muß immer mehr einzelne Elemente aus dem Leben herausgewinnen, immer Begriffe und Methoden des Verstandes darauf anwenden, und das Ende davon ist nicht abzusehen. Aber sie bleibt immer die Asymptote des Lebens, und die Erfahrung zeigt, daß das eigentlich Lebendige des Lebens, sein Schöpferisches und Einheitliches, immer weiter zurückweicht, je weiter man die Mikroskopie treibt, je mehr man Teil neben Teil setzt, je mehr isolierte feste Begriffe auf das Leben angewendet werden. Lebt das Leben erst einmal, so können wir seine fertigen Erzeugnisse der Physik und der Chemie unterwerfen. Aber den Augenblick des Lebens selbst haben diese Elemente schon hinter sich gelassen, und zu meinen, man könne es daraus zusammensetzen, ist als wenn man ein zerschnittenes Bild zusammenkleben und sich daraufhin für seinen Maler halten wollte. Den wesentlichen Irrtum und die Quelle aller Widersprüche der philosophischen Weltdeutungen sieht Bergson darin, daß die Philosophen Verstandesbegriffe, die gar nicht für das »interesselose« Begreifen der Welt da sind, sondern für deren praktische Beherrschung, zu dem Versuche benutzt haben, das reine Wesen des Weltlebens zu erkennen. So, wenn die Welt oder die Seele als Einheit oder als Vielheit bezeichnet wird, ihre Entwicklung als Differenzierung und Integrierung usw. Dies alles ist Konstruktion der Entwicklung, des Werdens, das allein real ist, aus Bruchstücken des Entwickelten, Gewordenen. Das Denken kann wohl aus der beweglichen Realität feste Begriffe ziehen, indem es sie zum Zweck des praktischen und wissenschaftlichen Verfahrens mit ihr stillstellt, erstarren läßt, zerschneidet, mechanisiert; niemals aber kann umgekehrt, wie es z.B. Spencer und die sensualistische und experimentelle Psychologie will, aus den festen, als fertig angesehenen Elementen und Begriffen die Bewegung zurückgewonnen werden.

Indes, ein Wissen um Welt und Leben müßte möglich sein – gleichviel wie weit wir es realisieren können –, das nicht ein Mittel ist, durch den Verstand mit seinen Formen die Lebenshaltung durchzuführen. Denn es sind doch nicht nur die Verstandesformen in uns, diese von der ewig bewegten Entwicklung ans Ufer geworfenen Festigkeiten und starren Schemata, sondern das Leben selbst ist in uns; unser tatsächliches Leben – nicht das nachträglich in intellektuellen Rahmen gespannte und gespiegelte – ist doch selbst ein Weiterschwingen jenes absoluten und einheitlichen Lebensschwunges, der das kontinuierliche Sein, d. h. Werden der Welt, bedeutet. Die seelische Gestalt, in der dieser sich durch die Organismen hindurchsetzt, ist der Instinkt. Es gehört zu Bergsons originellsten Gedanken, daß der Instinkt nicht eine Vorstufe ist, aus der sich der Intellekt entwickelt, ebensowenig auch eine Nachfrucht des Intellekts, eine unbewußt gewordene Aufhäufung einzelner Erfahrungen der Gattung; sondern eine ursprüngliche, den eigentlichen Lebenszusammenhang bewahrende Art des Verhaltens neben der intellektuellen. Wenn manche Wespenarten ihre Opfer, Raupen oder Grillen, genau in das Nervenzentrum stechen, so daß sie sie gerade nur lähmen, aber nicht töten, so ist es ein Nonsens, dies für »vererbte Erfahrung«, die im Kampfe ums Dasein erworben wäre, zu halten. Vielleicht, daß die »Wissenschaft« darüber nicht hinaus kann; dann liegen hier eben ihre Grenzen. Der »Instinkt« der Wespe besagt in diesem Fall, daß sie und ihr Opfer gleichsam eine organische Einheit sind und daß die Wespe gar nicht zu »wissen« braucht, wo die empfindlichen Stellen ihrer Opfer liegen, sie auch gar nicht zu sehen braucht; sondern sie verhält sich, wie wir uns beim Heben eines Armes verhalten, wobei wir doch auch nicht wissen, welche Muskeln wir zu innervieren haben, wo die Angriffspunkte von Nerven, Muskeln, Gelenken liegen. Wir brauchen das nicht zu wissen, weil wir ein Leben sind, das von vornherein die Einheit seiner Stationen besitzt – also sie eigentlich nicht als Stationen, im Sinn fester Aufenthalte und Abgegrenztheiten besitzt –, die das Wissen nachträglich als solche herstellt. So also steht die Wespe mit ihrem Opfer in einer Lebenseinheit, die man Sympathie nennen kann. Dieses unmittelbare Mitfühlen eines andern Lebens, bloß weil auch dieses eine Welle desselben Lebensstromes ist wie wir, ist doch auch in uns: es tritt z. B. am Porträtkünstler hervor, wenn er das bloße Nebeneinander der Züge mit einem Leben durchströmt und vereinheitlicht, das der äußere, nur vom Intellekt erfaßte, räumliche Aspekt des Modells nie enthält. Nun ließe sich wohl denken, daß dieses nicht begrifflich vermittelte Wissen sich nicht nur an ein anderes Individuum, sondern an die Wirklichkeit überhaupt wendete. Während der Verstand uns die Dinge dadurch erkennen läßt, daß er sie in Formen faßt und sie für sich sozusagen erst zurechtmacht, würde hier ein mit der Sache selbst zusammenfallendes Erschauen ihrer stattfinden – ein metaphysisches Ergreifen, kein wissenschaftliches, das von Bedingungen abhängt. Es ist das Wissen, das im Miterleben besteht, darin, daß wir uns aus der gewohnten Schematik des Denkens in. die Strömung des Lebens selbst hineinversetzen, die das reale Werden der Dinge ist – und es gibt nur werdende Dinge. Denn jeder Moment ist schon dadurch ein andereres der frühere, daß er der spätere ist. Dieses kontinuierliche Werden nennt Bergson die Durée (denn nur in fortwährendem Anderswerden können Dinge dauern, weil bei wirklich ungeändertem Beharren ja der Anfang und das Ende dieses Zustandes nicht zu unterscheiden wären, also zusammenfallen müßten, das Ding also gerade nicht dauerte); jene Mitwissenschaft, die eigentlich eine metaphysische Mitseinsschaft ist, nennt er die Intuition, die also nur die subjektive Seite der Strömungseinheit des Daseins ist. Freilich stellt sie uns wohl eine unlösbare Aufgabe, zeigt eine Möglichkeit, der sich unsere Wirklichkeit immer nur nähern kann. Denn Erkennen ist schließlich immer an Begriffe gebunden, es bleibt dem Sein immer gegenüber, ein Subjekt dem Objekt, und mit seiner Vollendung, die den Abstand überwände, die es wieder in das Sein zurückschmölze, wäre es als Erkennen aufgehoben. Der Instinkt ist etwas Dunkles und Dumpfes, er kann nicht zum Bewußtsein heben, was er als Realität besitzt; Bergson darf deshalb aussprechen, der Instinkt könnte uns, vermöge seiner Einwurzelung im Sein, alle Fragen lösen – aber er stellt sie nicht; der Verstand stellt zwar alle Fragen, aber er kann sie nicht lösen. Auch Bergson weiß nichts anderes zu sagen, als daß die Intuition immer flüssigere, sich immer erneuernde, der Wirklichkeit sich immer näher anschmiegende Begriffe liefern müßte, immer aus der Analytik und Symbolik, in der die Wissenschaft sich unvermeidlich bewegt, dem unmittelbaren Leben der Dinge zustrebte. Aber schließlich kann er es nicht überwinden, daß Erkennen immer ein Erfassen ist und eine Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem setzt, von der aus die Identität des Seins wohl erstrebt, aber nicht erreicht werden kann. Immerhin, es bleibt der tiefe Gedanke, mit dem diese Lebensphilosophie über jene tragische, in tausend Formen ausgedrückte Unerreichbarkeit ein dennoch versöhnendes Licht fallen läßt: die Intuition bedeutet, daß das Leben nur vom Leben begriffen werden kann – gewissermaßen die Weisheit des Empedokles, daß Gleiches nur durch Gleiches zu erkennen ist. Mechanistisches denkend sind wir selbst Mechanismen, Lebendiges denkend sind wir lebendig. Und darum ruht auf dem Grunde dieser Philosophie der Trost: wir verstehen wirklich und von innen her nur das Lebendige, weil wir selbst lebendig sind. Alles Übrige können wir berechnen, kombinieren, benutzen. Aber letzten Endes ist auch dies Übrige ein Lebendiges: das Anorganische ist objektiv nur ein Ermatten des Lebensschwunges, subjektiv ist alles Mechanistische nur ein Symbol und ein Mittel für peripherische Verhältnisse, darunter und darin ist als eigentliche absolute Realität ebenso wie dort das Leben. Und damit, daß auch der Mechanismus, der Gegensatz des Lebens, aus dem Leben kommt, ist allerdings, im metaphysischen Bilde, die Verbindung des Geistes mit allem Dasein, mit der zentralen Strömung, die alles Dasein trägt oder vielmehr ist – diese Verbindung ist prinzipiell gewonnen.

So wird die Skizzierung der Bergsonschen Gedanken jene Verlegung des Unfraglichen, alles Begründbare aus sich Entlassenden, in den Lebensbegriff erwiesen haben, von der als von der entscheidenden Wendung des modernen Weltbildes diese Seiten ausgingen. Die Wissenschaft hat das Leben zu etwas Mittelbarem gemacht, das aus Stücken, Elementen, Vorbestehendem herzuleiten wäre – Bergson macht es entschlossen zum Ersten und Zentralen, stellt es in den Absolutheitspunkt des Daseins: alles was nicht den Charakter des Lebens, d. h. der Einheit des fortwährend sich Wandelnden hat, ist sekundäres Gebilde – kosmisch als das herabgesunkene Leben, menschlich als die Schematisierung und Zerschneidung des Lebens, um uns damit hantieren zu lassen. Der Abstand von Denken und Welt ist damit als einer erkannt, der nur für das Denken, nicht für die Welt besteht.

Freilich, ob der Charakter des absoluten Fließens, den Bergson dem Leben zuspricht, diese Leistung tragen kann, ist mir nicht ohne weiteres gewiß. Die geistige Sehnsucht der Menschen und des Menschen pendelt zwischen dem Festen und dem Fließenden und für eines als das Definitive scheint sie sich schließlich entscheiden zu müssen. Von Parmenides und Heraklit bis zu Bergson spielt dieser Prozeß sich ab: dem Festen, das das wahrhaft Wirkliche und Letzte ist, soll das strömend sich Ändernde, das nicht schlechthin verneint werden kann, irgendwie abgelauscht werden, das Fließende andrerseits, sobald mit ihm das schlechthin Wahre ergriffen wird, soll irgendwie das Stabile und Bleibende hergeben. Auch Bergson steht nicht wirklich über diesen Parteien, sondern auf der Seite der einen, nach der Seite der andern hin unvermeidlich eine Unbefriedigtheit hinterlassend. Vielleicht wird die Philosophie ihren nächsten Schritt mit der Eroberung eines Begriffes vom Leben tun, mit dem dieses sich wirklich jenseits jener Gegensätze stellt, in eine Höhe, von der aus das Fließen des Realen wie des Idealen und die Festigkeit beider die Absolutheit ihres Gegensatzes verlöschen und als die Offenbarungsweisen einer für jetzt noch unsagbaren Einheit des metaphysischen Lebens erschaut werden.


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