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Rom

Eine ästhetische Analyse

1898

Der tiefste Reiz der Schönheit liegt vielleicht darin, daß sie immer die Form von Elementen ist, die an sich gleichgültig und schönheitsfremd sind und erst durch ihr Beieinander ästhetischen Wert erwerben; er fehlt dem einzelnen Wort, wie dem einzelnen Farbenfragment, dem Baustein wie dem Ton, und nur wie ein Geschenk, das sie von sich allein aus nicht verdienen, kommt über diese Einzelheiten das formende Zusammensein, das ihre Schönheit ausmacht. Daß wir die Schönheit als eine geheimnisvolle Gunst empfinden, als etwas, das die Wirklichkeit eigentlich nicht beanspruchen, sondern nur als eine Gnade demütig hinnehmen kann – das mag sich auf jene ästhetische Indifferenz der Elemente und Atome der Welt gründen, von denen eines nur in der Beziehung zum andern, das andre aber nur in seiner Beziehung zu jenem die Schönheit trägt, so daß sie zwar auf ihnen, aber doch auf keinem von ihnen haftet.

Dieses Wunder nun sind wir gewohnt, entweder an der Natur sich begeben zu sehen, deren mechanische Zufälligkeit ihre Elemente ebenso zur Schönheit, wie zur Häßlichkeit formt: oder an der Kunst, die ebendieselben von vornherein um des Schönheitszweckes willen zusammenführt. Ganz selten begegnet ein drittes: daß Menschenwerke, zu irgend welchen Zwecken des Lebens geschaffen, sich darüber hinaus zur Form der Schönheit zusammenfinden, so zufällig, in ihrem Zusammen so wenig von einem Willen zur Schönheit geleitet, wie Naturgebilde, die überhaupt von keinem Zweck wissen. Fast allein alte Städte, die ohne vorbedachten Plan erwachsen sind, bieten der ästhetischen Form solchen Inhalt; hier stellen Gebilde, die menschlichen Zwecken entstammen und nur als Verkörperung von Geist und Willen erscheinen, durch ihr Zusammentreffen einen Wert dar, der ganz jenseits dieser Absichten liegt und als ein opus supererogationis zu ihnen hinzukommt. Derselbe glückliche Zufall, der die Linien der Berge, die Farbe der Meere, die Verzweigungen der Bäume nach unseren ästhetischen Bedürfnissen gestaltet, bewährt sich hier an einem Material, das schon in sich dem Zufall entrückt ist, schon in sich Zweck und Geist trägt, wenngleich nicht den der Schönheit; so etwa, wie die menschlichen Handlungen, ganz von der Einzelheit und Enge ihrer Ziele geleitet und erfüllt, sich dennoch zur Verwirklichung des göttlichen Weltplanes zusammenfinden, von dem sie nichts wissen.

In dem römischen Stadtbilde scheint solches glücklich zufällige Zusammenwachsen menschlicher Zweckgebilde zu neuer, ungewollter Schönheit seinen höchsten Reiz zu gewinnen. Hier haben unzählige Generationen nebeneinander und übereinander geschaffen und gebaut, jede völlig unbekümmert, ja oft völlig verständnislos gegen das was sie vorfand, ausschließlich dem Bedürfnis des Tages und dem Geschmack oder der Laune der Zeit hingegeben; der reinste Zufall hat entschieden, welche Gesamtform sich aus dem Früheren und dem Späteren, dem Verfallenden und dem Erhaltenen, dem Zusammenpassenden und dem Dissonierenden ergeben soll. Und da das Ganze dennoch von so unbegreiflicher Einheitlichkeit geworden ist, als hätte ein bewußter Wille seine Elemente um der Schönheit willen zusammengeführt, so erwächst nun die Macht seines Reizes wohl aus diesem weiten und doch versöhnten Abstand zwischen der Zufälligkeit der Teile und dem ästhetischen Sinne des Ganzen; darin liegt die beglückende Gewähr, daß alle Sinnlosigkeit und Disharmonie der Weltelemente ihren Zusammenschluß zu der Form schöner Ganzheit nicht hindert. Das ganz Unvergleichliche des Eindruckes von Rom ist, daß die Abstände der Zeiten, der Stile, der Persönlichkeiten, der Lebensinhalte, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, so weit gespannt sind, wie nirgends in der Welt, und daß diese dennoch in eine Einheit, Abgestimmtheit und Zusammengehörigkeit verwachsen, wie nirgends in der Welt.

Versucht man, die ästhetische Wirkung Roms psychologisch zu zergliedern, so mündet man von allen Richtungen her auf diesem Zentrum, auf das zunächst sein äußerliches Bild hinzeigt: daß aus den größten Gegensätzen, in die sich überhaupt die Geschichte der höheren Kultur gespalten hat, hier eine völlige, organische Einheit des Eindrucks geworden ist. Ich darf die Teile von Rom, die von ununterbrochener Modernität und ebenso ununterbrochener Abscheulichkeit sind, ganz außer Betracht lassen; denn sie liegen zum Glück so, daß sie den Fremden bei einiger Vorsicht verhältnismäßig wenig tangieren. Ich hatte Rom zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren gesehen und fand es jetzt in der Hauptsache weniger verändert, als die allgemeine Meinung ist. Wie es das Wesen des Erkennens ist, aus den fragmentarischen und isolierten Empfindungen der Sinne ein verständlich zusammenhängendes Weltbild zu formen; wie es der Sittlichkeit obliegt, die zusammenhangslosen oder antagonistischen Interessen in eine Einheit zu versöhnen; so ist es eines der letzten Motive ästhetischer Befriedigung, in der auseinanderstrebenden Fülle der Eindrücke, Ideen, Anregungen Einheit zu entdecken oder zu schaffen. Wenn es überhaupt ein, ja vielleicht der tiefstgelegene Zug des Menschlichen ist, aus der ursprünglichen Vielheit der Dinge und Vorstellungen ein einheitliches Zusammengehören in der Seele zu gewinnen, so ist vielleicht alle Kunst nur eine besondere Art und Form, in der uns dies gelingt, nur einer der Wege von äußerer – oder auch innerer – Vielheit zu innerer Einheit, und die Bedeutung jedes Kunstwerkes wüchse in dem Maße, in dem die Vielheit seiner Bedingungen, seines Materials, seines Problemkreises vielfacher und die Einheit, in die es sie zu bannen weiß, enger, kräftiger, einheitlicher ist. An der Spannung zwischen der Vielheit und der Einheit der Dinge, die das Kunstwerk zur Anschauung und Empfindung bringt, würde sich so seine ästhetische Werthöhe messen. In solchem Sinne wirkt Rom wie ein Kunstwerk höchster Ordnung. Das hebt an mit seinem Straßenbild, wie es durch die Hügeligkeit des Terrains bestimmt wird. Fast allenthalben stehen die Gebäude in dem Gegenseitigkeitsverhältnis von Oben und Unten. Dadurch weisen sie mit ganz anderer Bedeutsamkeit aufeinander hin, als wenn sie in einer Fläche, bloß nebeneinander, lägen. Vielleicht ist dies der grundlegende Reiz der bergigen Landschaft: jedes Oben hat seine Möglichkeit als solches nur durch das Unten, jedes Unten nur durch das Oben; dadurch treten die Teile des Ganzen in eine unvergleichlich enge Beziehung, seine Einheit, die hier wie überall ja nur in der Wechselwirkung der Teile besteht, wird unmittelbar anschaulich. Wo die Elemente der Landschaft in einem Niveau liegen, sind sie gegeneinander gleichgültiger, jedes hat gleichsam seine Lage für sich, während sie ihm dort durch das andere bestimmt wird. So gelingt es der Form, in der Rom sich aufbaut, die Zufälligkeit, Gegensätzlichkeit, Prinzipienlosigkeit innerhalb seiner Baugeschichte in eine anschaulich enge Einheit überzuführen; durch das Oben und Unten werden den wirren Linien des Stadtbildes bestimmte Directiven geliehen, als deren zusammengehörige Träger nun alle Einzelheiten erscheinen. In gleicher Richtung wirkt die Dynamik des römischen Stadtlebens: seiner ungeheuren Lebendigkeit kann kein Element, wie antik, fremdartig, nutzlos es sei, sich entziehen. Auch das Widerstrebendste wird in diesen Strom hineingezogen. Das Einbauen alter und ältester Reste in spätere Baulichkeiten ist symbolisch oder in erstarrter Form dasselbe, was die Dynamik des römischen Lebens in fließender darbietet: der Aufbau einer eigenen Lebenseinheit aus unermeßlich differenten Elementen, die durch die Weite ihrer Spannung die Kraft jener Einheit zu einer sonst nirgends erreichten Anschaulichkeit bringen. Deshalb wirkt auch in Rom alles das, wofür man leider nur den Ausdruck Sehenswürdigkeit hat, nicht wie anderswo: als isolierte, jenseits des Übrigen liegende, besonders hervorgehobene Interessenpunkte, die sich allenfalls auch irgendwo anders befinden könnten; sondern es sind Glieder des Ganzen, von denen jedes mit jedem, durch die übergreifende Einheit Rom verbunden, in organischem Zusammenhang steht. Deshalb wirkt auch der typische Vergnügungsreisende in Rom stilwidriger und unerträglicher als sonst: weil seine Aufmerksamkeit nur den einzelnen »Sehenswürdigkeiten« als solchen gilt, so daß ihm die Summe derselben gleichbedeutend mit Rom ist, was ebensoviel besagt, wie wenn er einen organischen Körper der anatomischen Summe seiner Glieder gleichsetzte und an dem Lebensprozesse selbst vorbeiginge, für den jedes Glied nur ein Organ seiner alles ergreifenden, alles durchströmenden, alles beherrschenden Einheit ist. Er empfindet nicht die Schönheit zweiter Potenz, die sich aus und über den Schönheiten in der Einzahl aufbaut.

Die Verschmelzung des Differentesten zur Einheit, die das räumliche Anschauungsbild Roms charakterisiert, gewinnt eine nicht weniger wirkliche Wirksamkeit in der Form der Zeit. In ganz eigenartiger, schwer zu beschreibender Weise empfindet man hier das Außereinander der Zeiten zu einem Mit- und Ineinander zusammenwachsen. Man hört das so aussprechen, daß einem in Rom die Vergangenheit zur Gegenwart würde, oder auch umgekehrt: daß einem die Gegenwart so traumhaft, über-subjektiv, beruhigt wird, als wäre es eine Vergangenheit. Damit drückt man nur von verschiedenen Seiten her aus, was an sich keine verschiedenen Seiten hat, die Zeitlosigkeit, die Einheit des Eindruckes, die das mitschwebende, nur von dem reflektierenden Verstande getragene Früher oder Später nicht auseinanderreißen kann. Gewiß schweigt die Vorstellung des geschichtlichen Verlaufes der Dinge niemals in Rom. Aber das Wunderbare ist, daß auch hier, im Zeitlichen, die Elemente nur deshalb so weit auseinandergetrieben scheinen, um die Einheit, zu der sie dennoch zusammengehen, um so kräftiger, eindringlicher, umfassender zu zeigen. Wie hier die Reste der alten Zeit in ihrer Zerstörung und durch sie eine neue Form gewonnen haben, so wirkt die überall anklingende Vorstellung ihres zeitlichen Außereinander nur als eine gleichsam ästhetische Nuance ihres Gegenwartsbildes; die Kontinuität der Zeiten, die fortwährend das Bewußtsein in Rom anschaulich erfüllt, verhindert die Isolierung des zeitlich Getrennten gegeneinander; dadurch gewinnen die Dinge ein gemeinsames Niveau, auf dem sie sich rein nach ihren sachlichen Inhalten gegenübertreten. Gerade durch die ungeheure Ausdehnung der Zeiträume, die man überschaut, wird für das einzelne Ding der Gesichtspunkt der Zeit ganz irrelevant, es erscheint nicht mehr in seine zeitlichen Verhältnisse gebannt, so daß es nur mit einem Hineinversetzen in diese genießbar würde, sondern es gewinnt, in das Gesamtbild von Rom hineingezogen, eine völlig unmittelbare Lebendigkeit; alles Historische wirkt zwar in dieser mit, aber nicht so, daß es den Gegenstand zu einer abgesonderten Antiquität, den Zusammenhängen der Gegenwart entrückt, macht, sondern indem er in die Einheit von Rom eintritt, wirkt er ganz nach seiner sachlichen inhaltlichen Bedeutung – als ob alle Zufälligkeit der Geschichte verschwunden und die reinen, gelösten Inhalte der Dinge – platonisch gesprochen: ihre Ideen – hervor- und nebeneinander träten.

Diese nur annähernd in Worte zu fassende Empfindung ist vielleicht die letzte Grundlage jenes tiefen Satzes von Feuerbach: Rom wiese jedem seinen Platz an. Der Einzelne, der sich seiner innerhalb dieses Gesamtbildes bewußt wird, verliert die Position, die ihm sein enger, abgeschlossener, historisch-sozialer Kreis zugebilligt hat, und sieht sich plötzlich eingeordnet und mitlebend in einem System ungeheuer mannigfaltiger Werte, an dem er sich gleichsam sachlich zu messen hat. Es ist, als fiele in Rom alles von uns ab, was zeitliche Bedingungen an uns – für und gegen den eigentlichen Kern unseres Wesens – getan haben. Wir selbst empfinden uns ebenso auf unsere rein innerliche Kraft und Bedeutsamkeit reduziert, wie die Inhalte Roms es sind. Seiner vereinheitlichenden Kraft, die über alle Abgründe der Zeit hinweg alle Dinge in ein Gesamtbild bringt, können wir selbst uns nicht entziehen, wir stehen schließlich, wie losgebunden von allem Jetzt und Hier, in derselben Distanz vor uns, wie alle römischen Dinge. Wir würden uns schämen, hier eine Ausnahmestellung zu beanspruchen. Was uns sonst so oft den Platz verbirgt, der uns nach der Kraft, Weite und Stimmung unserer Seele zukommt: die Zufälligkeiten der Zeit, die Exaggerationen ebenso wie die Bedrängnisse unserer historischen Stellung, die uns isolieren und die Brücke zu unserer inneren Heimat versperren, – dies fällt in Rom fort, denn hier, wo alle zeitlich-geschichtlichen Bedingungen in ihrer ganzen Größe und zugleich in ihrer ganzen schließlichen Nichtigkeit erscheinen, gelten uns die Dinge – und wir mit ihnen – nur nach dem Maße ihres eigensten, zeitlosen sachlichen Wertes. So weist uns Rom wirklich unseren Platz an, während der, den wir sonst innerlich einnehmen, so oft gar nicht unser, sondern der unserer Klasse, unserer einseitigen Schicksale, unserer Vorurteile, unserer egoistischen Illusionen ist. Daß dies alles fällt, geht schließlich auf jenen einen, das ganze Bild von Rom beherrschenden Zug zurück: die ungeheure Einheit des Mannigfaltigen, die durch die weite Spannung ihrer Elemente nicht zerrissen wird, sondern gerade an dieser die Unvergleichlichkeit ihrer Kraft entfaltet. Wie der seltsame Reiz alter Stoffe darin beruht, daß über alle Gegensätze der Farben die gemeinsamen Schicksale, Sonnenschein und Schatten, Feuchte und Trockenheit so vieler Jahre eine sonst unerreichbare Einheit und Versöhntheit gebracht haben: so möchte man sagen, daß das Fernste und Fremdeste für einander, was nach Zeit, Ursprung, Seele weltweit von einander ist, durch das gemeinsame Erlebnis, in Rom zu sein und sein Schicksal zu teilen, ein Sich-Anpassen, Wechselwirken, Sich-Zusammenfügen erfahren hat, in so wunderbaren Verhältnissen, daß die eigene Bedeutsamkeit der Dinge ebenso ein Maximum wird, wie die Bedeutsamkeit der Einheit, in die sie als Glieder zusammenwachsen.

Eben diese Einheit bewirkt eine psychologische Erscheinung innerhalb des römischen Genießens, die sich sonst nur gegenüber den größten Individuen einstellt. Der Besitz, den Goethe für uns darstellt, gewinnt seinen nicht ausmeßbaren Umfang dadurch, daß hinter jeder seiner Äußerungen für uns der ganze Goethe steht. Wir genießen keine bloß nach ihrem unmittelbaren Inhalt, beschränken ihre Bedeutung nicht auf den Sinn, den sie als anonymer Satz haben würde; wir bereichern sie vielmehr um alles das, was die Assoziation, daß sie eben von Goethe ist, an sie heranbringt, mit ihr anklingen läßt. Der rationalistische Spießbürger hält sich über die begeisterte Ehrfurcht auf, mit der wir jeder Zeile von Goethe entgegenkommen: »Hätte ein Namenloser genau dasselbe geschrieben, niemand würde es irgendwo beachten!« Ganz richtig. Aber dann wäre es, bei identischem Wortlaute, doch nicht eben dieselbe Zeile. Denn die Bedeutung jeder Äußerung liegt doch – man kann diese Selbstverständlichkeit nicht eindringlich genug machen – nur in dem, was sie uns zu denken reizt und zwingt. Und bei einem Worte Goethes denken wir notwendigerweise mehr und anderes, als bei dem gleichen, wenn Peter und Paul es aussprechen; denn wir wissen, welche ganz andere Seele hier ihren Reichtum in das äußerlich gleiche Gewand gekleidet hat, und daß wir der Äußerung gerade nur gerecht werden, wenn wir ihr das Äußerste und Höchste gutschreiben, das sich nur irgend in uns mit ihr assoziieren will – so weit dies auch über den Sinn hinausgehe, den sie als vereinzelter Wortlaut beanspruchen dürfte. So haben Dinge, die an irgend einem anderen Orte ganz gleichgültig wären, als Bestandteile von Rom eine Bedeutung, weit über ihre unmittelbare, ihnen »an und für sich« eigene hinaus. Vermöge der Einheitlichkeit, in die Rom alle seine Inhalte hineinwachsen läßt, wird das Ganze mit jedem seiner Elemente solidarisch, hinter dem einzelnen steht das ganze Rom und verleiht ihm für uns einen Reichtum von Assoziationen, der weit mehr umfaßt, als seine isolierte oder in gleichgültigeren und loseren Verbindungen stehende Anschauung vermöchte. Da die Dinge eben das sind, was sie uns bedeuten, so sind sie in Rom wirklich mehr, als sie anderswo und ohne die wechselseitige Bereicherung durch das Umfaßtsein von dem einen Rom wären.

Vielleicht ist die tiefste Bedeutsamkeit der ästhetischen Formung mit einem Satze Kants ausgesprochen, der freilich ganz andere als ästhetische Inhalte im Auge hat: »Unter allen Vorstellungen ist die Verbindung die einzige, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist.« Die Einheit, zu der die Elemente Roms sich verbinden, liegt nicht in ihnen, sondern in dem anschauenden Geiste. Denn offenbar nur in einer bestimmten Kultur, unter bestimmten Vorbedingungen von Stimmung und Bildung kommt sie zustande. Das spricht aber so wenig gegen ihre Bedeutung, daß gerade die Selbsttätigkeit, die sie erfordert, das wertvollste Geschenk Roms ist. Nur die lebhafteste, wenn auch unbewußte, Aktion des Geistes vermag die so unendlich differenten Elemente in die Einheit zu bannen, die in dieser selbst allerdings als Möglichkeit, aber doch noch nicht als Wirklichkeit liegt. Wenn man sich in Rom nicht erdrückt, sondern gerade auf der Höhe der Persönlichkeit angelangt fühlt, so ist das sicher ein Reflex der ungeheuer gesteigerten Selbsttätigkeit des inneren Menschen. Nirgends in der Welt hat der günstige Zufall die Objekte unserem Geiste so adäquat geordnet, daß sie ihn zu der Kraftentfaltung aufrufen, über so gewaltige Abstände ihrer unmittelbaren Gegebenheit hinweg sie zu einer so völligen Einheit zu sammeln. Das ist auch der Grund, weshalb Rom sich der Erinnerung ganz unauslöschlich einprägt. Wo Eindrücke und Genüsse uns nur hinnehmen, wie sie sich bieten und gleichsam ohne daß wir mit eigener Kraftbewährung in die Formung ihres inneren Bildes eingreifen, da ist alle Erinnerung schwach und leicht verlöschlich. Denn mag der Eindruck noch so gewaltig und erschütternd gewesen sein, so ist er der innersten Seele doch ein Fremdes, das auf die Dauer nicht in ihr leben kann – wie wären sonst jene fürchterlichen Entfremdungen Liebender denkbar, wenn nicht das blosse Gefühl, das blosse Hinnehmen eines Glückes, selbst in höchsten Aufgipfelungen, das Bewußtsein so spurlos verließe! Nur wo die Seele von innen heraus aktiv geworden ist, und den Einschlag ihres eigensten Tuns in die Eindrücke von außen her verwebt hat, sind diese wirklich ihr Eigentum geworden. Das untermenschliche und niedrig menschliche Bewußtsein haftet an der Isoliertheit seiner Vorstellungen, das Kennzeichen des höheren und der Beweis seiner Freiheit und Herrschaft ist es, daß es Zusammenhänge zwischen dem Einzelnen stiftet und damit zugleich – da Einheit und Vielheit einander bedingen – erst dessen ganze Mannigfaltigkeit und Reichtum erfährt. Nirgends läßt die Fülle der Dinge dies spezifisch menschliche Tun sich so souverän erweisen, wie in Rom, nirgends muß die Seele, so vieles aufnehmend, zugleich selbst soviel wirken, um das Bild zu formen. Das ist der letzte Grund für das ganz unvergleichliche Verhältnis, das die Weite der römischen Eindrücke zu ihrer Tiefe und ihrer Dauer besitzt – als ob alle Dimensionen seelischer Inhalte hier zugleich ihr Maximum gewännen.

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Es ist das Los psychologischer Analysen, niemals abschließend zu sein. Die Menschenseele ist ein so vielfältiges und verschlungenes Gebilde, daß sie sehr mannigfaltige Wege besitzt, um zu demselben Inhalt und Zustand zu gelangen. Das eben ist ihr Reichtum, daß sie die gleichen Elemente zu einer Fülle innerer Entgegengesetztheiten, aber auch die verschiedensten Elemente zu einer Gleichheit innerer Erfolge entfalten kann. Aber wenn deshalb die Bedeutung des ästhetischen Eindruckes von Rom noch auf mancherlei andere Weisen erklärt werden kann, so trifft zu dieser Möglichkeit die Struktur des Objektes sehr merkwürdig mit der der Subjekte zusammen. Denn wie es die Größe ganz großer Menschen ist, nicht eindeutig zu sein, sondern für jeden besonders verständlich zu sein und jeden in der Richtung seines eigenen Wesens über sich zu erheben – so würde auch Rom seine ganze Größe nicht haben, wenn sein Genuß nur eine Deutung erlaubte, wenn es nicht der Natur selbst gliche, die zu jedem in seiner Sprache redet und jedem gestattet, sie nach seinem Herzen zu genießen und zu verstehen. Ja, gerade diese Vielheit der Wirkungen Roms und ihrer Deutungen entspricht selbst dem Lebensprinzip, aus dem mir seine ästhetische Einzigkeit zu sprießen schien; daß es noch auf so viele andere Weisen empfunden und seine Empfindung noch auf so viele andere Weisen gedeutet werden kann, während es doch immer das eine Rom, der eine Brennpunkt so divergenter Strahlen ist: das ist die letzte Aufgipfelung seiner ästhetischen Größe, die alle Gegensätze zu äußerster Weite spannt, um sie mit um so beherrschenderer Kraft in seine Einheit zu versöhnen.


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