Walther Siegfried
Fermont
Walther Siegfried

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Notiz von Georg Brandt

Die bisher zahlreichen Aufzeichnungen Fermont's fehlen nun während mehrerer Wochen ganz, und aus diesem Wegfallen des Bedürfnisses, sich vor sich selber auszusprechen, läßt sich für Diejenigen, die ihn näher kannten, der sichere Schluß ziehen, daß ihn etwas Mächtiges vollauf zu beschäftigen angefangen haben muß, was er nur lebte und während dessen Dauer er über alles Grübeln unvermerkt hinauskam.

In dieser Weise pflegte ihn gewöhnlich, wenn ein Sturm seiner Leidenschaften ausbrach, die reflektirende Thätigkeit seiner sonst so kalten, scharfen Vernunft urplötzlich zu verlassen. Als wären seiner Alles heftig durchlebenden Natur zwei solche treibende Grundkräfte auf einmal zu viel, konnte sie dann in überraschendem Wechsel heute ihr zersetzendes Wesen zeigen und morgen plötzlich wieder gänzlich naiv dem vollen Ausleben eines Abenteuers anheimgegeben sein.

Die Leidenschaft für jenes Mädchen aus dem Karhofe scheint denn auch, wie sich nachher klar genug ergab, seit der zweiten Begegnung unwiderstehlich Wurzel gefaßt und die großherzigen Beziehungen zu dem Gesellen Beppo wechselnd bald zurückgedrängt, bald wieder umso wärmer gehoben zu haben. 179

Erwiesen ist, daß wohin auch Fermont in jener Herbstzeit seine Wanderungen lenken mochte, seine Wege während Wochen des Abends fast regelmäßig auf den einen Punkt ausmündeten: auf jenen Felsenvorsprung wo der Karhof lag. Er war in einen Zauberstrudel gerathen, der überallhin seine Ringe sandte, wo Fermont ging, und ihn dem einen Mittelpunkt unwiderstehlich immer wieder zuzog: dieser Eva.

Einzelheiten außer dem Wenigen, was Fermont selber sagt, fehlen aus den ersten Zeiten ihrer Beziehungen. Was feststeht, ist Folgendes: das Mädchen, erst seit Kurzem Waise und strengstens unbescholten in ihrem Ruf, hatte sich vor einem übelbeleumdeten, verwegenen Menschen, der sie mit seiner Liebschaft verfolgte, auf den einsamen, von allem Verkehr fast gänzlich abgetrennten Einödhof geflüchtet und in aller Heimlichkeit als Magd verdingt. Der Bursche, Mathies geheißen, von Erscheinung ein wildschöner Geselle, aber heimtückischer Art, war bald Holzknecht, bald Flößer, bald Wilderer, und bei allem Schlimmen, was das Hochländerleben etwa zeitigt, vermuthete ihn die öffentliche Meinung jederzeit betheiligt. Von dem Aufenthaltsorte des entflohenen Mädchens erhielt er Kunde erst nach langer Zeit, als die Knechte vom Karhof sich feindlich gegen Fermont zu stellen begannen. Bisher hatten Diese das Versteck aus Klugheit verschwiegen, weil sich Zwei von ihnen selber in nutzlosem Bemühen ebenfalls um Eva bewarben.

Am Anfang scheint Fermont das Geheimniß des Mädchens nicht erfahren zu haben, so stark er auch 180 geahnt, daß etwas über dem Dasein dieser Eva als dunkle Wolke schwebe. Als aber sie selber ihm die Geschichte ihres Lebens schließlich anvertraute, ohne ihm jedoch den Namen des Liebhabers zu nennen, war er ihr gegenüber innerlich bereits auf einem Punkte, der ihn einen Sieg über sich nicht mehr gewinnen ließ und ihn verführte, nach seiner kühnen und verwegenen Art auch jede Vorsicht zu vergessen, in diesem unter dem Gebirgsvolke für einen Fremden höchst verfänglichen Abenteuer. Sein souveränes Wesen und sein unbedingtes Selbstvertrauen haben ihn von jeher, unbekümmert um alle äußern hindernden oder fördernden Umstände, in solchen Fällen einzig und allein mit den Beweggründen seiner Seele, mit seinen heftigen Empfindungen rechnen lassen.

In den ersten folgenden Blättern offenbart sich bereits ein vereinzeltes Mal ein hochgediehener Taumel seiner Leidenschaft, um dann wieder eine Zeit lang merkwürdig im Hintergrund zu bleiben und Beppo immer noch als erstes Interesse in Fermont's damaligem Leben erscheinen zu lassen. Doch bald bricht das Mächtigere gänzlich durch und erfüllt nun eine Anzahl Blätter, die theils in Augenblicken hingeschrieben scheinen, wo Fermont nach den erregten Scenen und darauf gefolgten weiten stillen Heimwanderungen, in der Oede seines Thurmes sich flüchtig auf sich selber besann; theils wieder mögen sie dem Bedürfniß entsprungen sein: das Erlebte hinterher sofort noch einmal im Erinnern zu durchleben. 181


Aufzeichnungen Fermont's

23. September.

Wie Eis am Sonnenstrahl droht jetzt zuweilen meine Menschenverachtung zu zerschmelzen, wenn Eva mir ihr Inneres erschließt!

Die stolze Reinheit dieses Weibes aus dem Volk zu sehn, die mir mit flammenden Blicken zwischen Thränen der Empörung die Nichtswürdigkeit des Menschen schildert, der sie frechweg für seine Beute erklärte und so unablässig verfolgte, bis sie vor der Oeffentlichkeit als die Seine dastehen sollte, und dem sie schließlich entfloh, weil sie trotz seiner Schlechtigkeit ihr Herz seinem wilden Zauber erliegen fühlte! Dem Opfer einer Schlange gleich, das nicht mehr aus dem lähmenden Banne ihres Blickes kommt.

Ein ungebildetes Weib, in Recht und Unrecht mangelhaft belehrt, das sich da mit dem bloßen angeborenen Instinkt seiner Würde in leidenschaftlichen Kämpfen selbst bewahrt!

Wie sie das Alles, was sie als Geheimniß ängstlich hütet, nun endlich mir erzählte, ahnungslos, daß Der, dem sie sich als einem vermeintlich höherstehenden theilnehmenden Freund erschließt, erfüllt sein könnte 182 von der gleichen Leidenschaft für ihre Schönheit, wie jener Andere, den sie da eben vor ihm verflucht.

Und Stunde um Stunde läßt sie so verrinnen, am Tisch mir gegenüber in der traulich niedern Stube, in der ich sie in jener Wetternacht zum ersten Mal bei ihrem Buch gesehn, – zwischen den Kalkwänden mit den alten Heiligenbildern und den blumengefüllten Fenstern. Und rings ein schwüler Spätsommerabend, der von draußen Tannengeruch und Felsbachrauschen brachte. Sie rüstete Gerste und Erbsen für die Knechte auf den Abend. Die Haufen lagen vor ihr auf dem Tisch; sorgsam las sie das Unreine heraus. Spielend, ohne es nur zu wissen, hatte ich ihr zu helfen begonnen.

Eine Weile war ein ruhiges Genügen in meiner Seele, wenn ich sie betrachtete. Die Ruhe der hohen Schönheit, des vollkommen Geschaffenen geht von ihr aus und sänftigt und versöhnt auf Augenblicke eine räthselmüde Mannesseele. Zwischen Anbetung und dunkler Leidenschaft im Schwanken, so saß ich da. Und um uns her war eine friedliche, große Stille.

So kam die Dämmerstunde. Die Sonne ging mit rothem Glast über den Felsgewänden drüben zur Neige und umstrahlte nun durch das niedere Fenster Eva's Kopf mit dunklem Feuer. Ich hing, während ihre Blicke noch immer auf der Arbeit ruhten, in diesem Augenblicke mit Gier an ihren Zügen, die in der Abendsonnengluth jetzt leidenschaftliche Kraft und unbewußte strahlende Sinnlichkeit zu athmen schienen. Da änderte sie ihre Stellung, also daß wir uns berührten. 183 Sie zog sich nicht sofort zurück. Die gleiche unbeirrte Unbefangenheit blieb auf ihrem Antlitz, während ich, wie von Feuer durchrieselt, meiner Leidenschaft mit einem Schlag erst vollbewußt, sekundenlang das Frevle berauscht genieße, dann aber aufsprang und zum Fenster ging.

Daß es möglich ist, so blind mir gegenüber zu sein, so ungeweckt, – und doch schon der Liebe Verzehren gekannt zu haben!

Sie hatte das plötzliche Aufspringen gewahrt und sah mich verwundert an. Verwundert! Nach so vielmaligem Beisammensein errieth sie nicht? Da hielt es mich nicht mehr.

»Nun Evi?« fragte ich, – »warum, wenn Du so niedrig von den Männern denkst, traust Du denn mir und lässest mich ohne Scheu Deine Gedanken wissen als wäre ein guter Freund nicht auch ein Mann?«

Da schaute sie mich an, als hätte ich das Unglaublichste gefragt; eine ganze Weile. Und ehe sie noch gesprochen, las ich in diesem Blicke die ganze Antwort: »Sie? – – Sie sind ja doch ein Herr!«

Sie hält bei ihrem starken Trieb nach Höherem die Bildung noch für etwas unbestimmt Erhabenes, was einen Menschen jedenfalls von der gemeinen Stufe der Männer ihrer Klasse emporträgt und das daher auch mich in ihren Augen fast zu einem andern Wesen macht. Ihr scheint der Fremde in mir, der von unbekannt wo einmal plötzlich Erschienene, Ueberlegene, der sie versteht, auch wo sie nur unvollkommen ihre Gedanken und ihre geheimen Leiden darthut, der die menschlichen Dinge so gut kennt und ihnen Worte geben kann, doch 184 an sich selber noch niemals Fehler zu Tage treten ließ, etwas von gänzlich verschiedenem Stoff Erschaffenes, so daß sie sichtlich noch gar nicht auf den Gedanken gekommen war, uns Zweie in irgendwelche vertraulichere Beziehung zu bringen.

Indem ein betrübtes Lächeln ihren Mund umzuckte, als hätte ich ihr eine unantastbare Sicherheit da unversehens grell in Zweifel gestellt, antwortete sie schlicht und zögernd: »Nun, Herr Fermont . . Sie haben mir bis heute halt noch nie ein unrechtes Wort gesagt!«

Ich blickte ihr ins Auge, und . . . und . . . ich sollte Hund genug sein, dies Vertrauen zu brechen?

Die Sonne draußen war versunken, und Dämmerschatten stiegen von den Wänden drüben nieder, die kleine Stube in ein leises Dunkel legend. Eva war zu Ende mit der Arbeit und erhob sich.

»Ich muß zum Feuer thun, und Herr . . . ich möcht' schön bitten, daß Sie heute gehen, eh' die Knechte kommen. Es geht aufs Betzeitläuten, und vom Triftsteig her sind Die in einer halben Stunde da! Wenn sie Sie wieder bei mir treffen, grade wo abermals die Bäurin im Dorf drunten ist, so kann man doch nicht wissen, was so Köpfe sinnen. O lieber Gott! . . Sie kennen solche Menschen nicht!«

Ich hatte ihr die Thür zur Küche aufgethan, sie hinauszulassen. Jetzt blieb ich stehn.

»So? . . nehmen Die sich denn ein Recht auf Eifersucht?«

Eva, indem sie dicht an mir vorüberschritt, nickte traurig mit dem Kopfe und stellte ihre Schüsseln auf den Heerd. 185

»Ich werde auch hier nicht lange mehr bleiben können!« sagte sie dumpf.

»Wie?« fragte ich.

»Sehn Sie, ich bin grad wie verdammt: an jedem Orte, wo ich bin, meint jeder Kerl, er dürfe mich mit seiner Täppischkeit verfolgen und mir mit Liebschaftmachen meine Ruhe nehmen. Und achte ich nicht darauf oder schick' ihn gar davon, so wird er frech und geht mir nach, ich kann mich halten wo und wie ich mag. Und doch meint's Keiner ehrlich, . . . wüßt' noch Keinen, keinen Einzigen, dem ich zugetraut hätt', er wolle es im Rechten!«

»Und hier die Knechte? – auch?«

»Die Aeltern alle beide gleich! Was will ich machen? Sie sind viel länger auf dem Hof als ich, drum wenn ein Theil nachgeben muß, bin ich es! Einstweilen ist's nur auszuhalten, weil die Zwei gleich heftig nach mir trachten. Da überwacht denn immer Einer eifersüchtig den Andern, daß Keiner mir zu nahe tritt.«

»Ja, und die Bäurin? Die mag Dich doch; räumt Die denn nicht mit solchen Dingen auf?«

»Sie mag mich freilich, ist auch gut zu mir und hält die Mannsbilder schon im Zaum, daß sie sich Nichts getrauen. Aber es sind doch tüchtige Knechte, sind aus diesem Thal, kennen den Wald und das Wasser, und Die braucht so ein altes alleinstehendes Weib auf einem Einödhofe! Die gibt man nicht wegen Liebschaftssachen fort! Eine andere Dirn aber kann sie leicht wieder haben. Mag drum an der 186 ungemüthlichen Sache nicht mehr lange schuld sein; die Bäurin sagt freilich davon nichts, aber ich spür' ja schon, daß es besser wäre für Alle, ich wäre weg. Ich kann das selber nicht mehr lange ertragen! So zwischen zwei Feuern – das ist kein Leben; und einmal, wenn es so weiter geht, könnt' es sein: die Alte vermöcht' es auch nicht mehr zu verhüten, daß etwas zum Ausbruch käme zwischen den Männern und mir! In Ewigkeit laß' ich mich eben auch nicht quälen mit ihrem Gered!«

»Wo könntest Du denn anders hin?« fragte ich beklommen.

. . . »Das eben!« – und sie schaute mit sinnenden Blicken in die angefachte Gluth des Heerdfeuers. »Es ist überall gleich, hier im Gebirg umher, ich hab's genug erfahren! Und dann . . wenn ich von diesem Hofe, wo fast nie ein Mensch vom Thal hinkommt, auf einen andern ginge, wär' es auch wo es wär', wie viel leichter hätt' es dann Der im Thal, mich zu erreichen! Wer wehrte es ihm dort noch, mich zu verfolgen? Er weiß gewiß auch längst, daß ich hier oben bin, aber dem Karhof bleibt er fern; – hat vor zwei Jahren eine ungute Sache mit einem Jäger hier oben gehabt, der ihn trotz seines geschwärzten Gesichtes beim Wildern erkannt hat. Da wär's zu verdächtig, wenn er sich öfter in diesem Revier wieder treffen ließe, wo er nichts zu schaffen hat!«

»Aber Du glaubst wirklich, daß er Dich hier weiß?«

»Ich mein's gewiß! Ich habe so meine Zeichen. O! die Kerle wittern einander Alles ab! Und ich 187 denke mir's schon, wie es die Zweie freut, ihn zu reizen, indem sie ihm von mir berichten, und so von allen Dreien jeder den andern haßt und doch kameradschaftlich thut!«

Sie hatte langsam mit der hölzernen Spachtel in dem Brei gerührt, jetzt hielt sie inne. »Eins wüßt' ich freilich,« sagte sie leiser, – »aber dazu bring' ich das Geld mit Dienstlohn nicht zusammen! Ich habe noch einen Muttersbruder in Amerika, dem geht es gut; er bebaut ein großes Land. Als er vor zwei Jahren hier gewesen ist, hat er mich mit sich nehmen wollen, aber damals hab' ich nichts von einer solchen weiten Reise von der Heimath wissen mögen. Seither ist viel geschehen, meine Mutter ist gestorben, und ich habe Manches erfahren. Da denk' ich freilich anders! Wenn ich hierzuland doch keine Ruhe habe, ja – lieber Eustachius vom Berg! – da ginge ich eben doch viel besser nach Amerika Aber wie? . . Wenn ich nicht zur Hinfahrt und zur Rückkehr gleich das Geld beisammen in der Tasche spürte, nie möchte ich es dann versuchen! Hinüber würde der Vetter mir die Reise jeden Tag bezahlen! Das aber eben mag ich nicht! Will nicht in andrer Menschen Schuld dastehen! So bin ich einmal: lieber ertrag' ich Alles hier und wieder dort, als daß ich irgendwo angenagelt sein möchte um Geldes willen! Und wenn ich mich zeitlebens als Dirn verdingen muß – meine Arme wenigstens will ich frei haben zu jeder Zeit, daß ich's treiben kann, wie es mir taugt, und meine Füße, daß ich gehen kann, wenn mir's zu eng wird irgendwo!« 188

Ich hatte ihr schweigend zugehört, aber eine Art von starrem Schrecken hatte wachsend meine Brust erfüllt bei dieser Eröffnung: daß Eva morgen, übermorgen vielleicht nicht mehr hier oben sein wird. Ich fand noch nichts darauf zu sagen, als sie, die tiefere Dämmerung plötzlich gewahrend, mir erschrocken die Hand zum Abschied reichte. Die Knechte konnte jeden Augenblick erscheinen. Kurz und verwirrt sagte ich ihr Lebewohl. Und der Gedanke verfolgt mich bis zur Stunde unablässig weiter: daß also ein jähes Ende nehmen kann, was eben erst für mich begonnen und was ich dauernd gewähnt: auf diesem versteckten Hofe das Dasein dieses Mädchens, zu dem mich ein neu erwachter Lebenstrieb unwiderstehlich zieht. Eine drängende Unrast kommt an Stelle der Ruhe, in der ich bisher noch mit Eva zu verkehren vermocht! . .

 

Sonntag, 23. September.

Ein schwerer Regensonntag über dem Gebirg, und Beppo, dessen Fuß, obwohl geheilt, doch noch kein Wandern in die Weite zuläßt, den ganzen Nachmittag bei mir.

Ich mochte vielleicht nicht so viel von mir ausgegeben haben, wie sonst, und er, nach dem langen einsamen Liegen in der düstern Kammer doppelt hungrig nach einer wohlthuenden Aussprache, schien dieses stillere Beisammensein als leise Enttäuschung zu empfinden. Daß außerdem zur Zeit in seinen Gedanken etwas 189 umgehe, was ihn unruhig stimmt, verrieth mir heute sein Gesicht, in dem ich jetzt Alles lese.

Auf einmal fragt er mich ganz unvermittelt: »Wo waren Sie in dieser Woche? . . nirgends auf den großen Höhen?«

Ich stutzte. Unbefangen war das nicht gefragt.

Ich sagte: »nein!«

Auf diese Antwort sieht er mich eine Sekunde an, halb mit der Ehrfurcht, die ihn nie vor mir verläßt, halb mit dem Blicke eines Menschen, der den Andern durch eine Unwahrheit soeben in seine Hand bekommen hat, und schweigt dann vorerst wieder, mit seinem Messer eine Stange kunstreich weiterschnitzend, die er am Söller zum Halt des grünen Rankenwerkes anbringen will.

Ich spürte, daß die Stille redete.

»Am Donnerstag war ich bei jenem Försterhaus, wo ich Dich damals angetroffen,« versuchte ich drum zu erzählen, mit dem geheimen Wunsche, die Aufmerksamkeit des Jungen auf jene, dem Karhof entgegengesetzte Seite des Gebirgs zu lenken und seine Gedankenwelt dort zu beschäftigen. »Das Schattenbild Deines Kopfes, das sie damals zeichneten, ist noch immer an der Wand!«

Doch das schien nicht zu sein, was Beppo hören wollte. Er lächelte nur kurz und fragte dann zögernd und sichtlich ungewiß, ob er sich nicht zu viel erlaube: »Und auch im Schroffenwalde waren Sie?«

Jetzt schaute ich ihn schärfer an.

. . »Ein Holzknecht, der dem Meister Zirbenstämme fuhr, hat es bei Tisch erzählt! Der fremde 190 Herr vom Feldthurm draußen steige immer in jenem Geschröff herum, wo er die Stämme habe suchen müssen. Der scheue keine Wege, könn' auch steigen wie ein Heimischer, aber immer grade dort, wo es am Gefährlichsten sei. Und doch führe der Weg von da zu keinem schönen Punkte weiter; nur in das Siebenquellenthal und zu den wilden Oeden!«

. . . Nur zu den wilden Oeden? . . Vermied der Junge zu ergänzen, wohin noch sonst, oder wußte er wirklich selbst nicht mehr? Das Klügste schien mir, Unbefangenheit zu zeigen, wo ich in jetzt noch ungeklärten Tiefen zum Mindesten ein ungefähres Errathen fühlte und dieses womöglich noch im Keim ersticken wollte.

»O, doch nicht, Beppo,« erwiderte ich ruhig, – »es ist auch noch ein Hof dort hinten; da kann man rasten und sich stärken. Die alte Bäurin, die dort haust, gibt schon zu essen, wenn gerade ein Wanderer kommt. Von da vermag ich dann immer ohne allzu große Anstrengung zu jenen schroffen Häuptern emporzudringen . . . siehst Du durchs Fenster dort die drei zerrissenen Zacken? . . dort droben hat man eine Aussicht, wie sonst nirgends weit umher.«

Die Felsenspitzen schienen Beppo nicht so sehr zu kümmern.

»Ich erinnere mich an den Hof,« antwortete er trocken, – »ich war schon einmal in der Gegend, mit Kameraden am Fronleichnamstag.« . . . Und wieder brach er ab und wartete, als sollte ich ein Weiteres sagen, was er nicht zu nennen wagte. Ich aber schwieg. 191

Sein Messer hackte leise durch die unnatürliche Stille. Es war ein schweigendes Sondiren zwischen uns.

»Er ahnt . . er kombinirt . .« so sagte ich mir, »denn, hat er selber Eva auf dem Hof erblickt oder von dem Holzknecht doch noch mehr erfahren, als was er hier zu wiederholen wagt, so hat er seinen Punkt, von dem aus er auf Weiteres schließt.« Und zürnend wollte ich schon fragen: »Was drängt sich Der da allbereits in meine Dinge?« Eine innere Stimme aber mahnte sänftigend ab. Was trieb ihn denn zu diesem Tasten und Behorchen? Doch nicht Neugierde! Vielmehr ein unbestimmtes Bangen seines armen jugendlichen Herzens, das sich eben erstmals mit der ganzen Kraft in schwärmerischer Verehrung einem Menschen zugewandt, der gütig gegen ihn gewesen war. Und nun befürchtete er, unsicher und bescheiden, wie er ist, von etwas neuem Größerm, das mich allzusehr erfüllen könnte, drohende Gefahr.

Da ich dies durchfühlte und verstand, so mußte ich es auch verzeihen. Doch ging ich weiter nicht mehr auf die Sache ein, obschon in Beppo's Antlitz Unfreiheit und bohrendes Verlangen nach Beruhigung zu lesen blieb.

Und so verging diesmal der Rest von unsrem Sonntagnachmittag in einer ungewohnten Stille, die ihm und mir beklemmend war. 192

 

Dienstag, 27. September.

Was Sonntags zwischen uns geschwebt und dann für einmal schweigend sich im Sand verlief, hat tief in Beppo's Herzen fortgewühlt. Ein Zeichen seiner leidenschaftlichen Ergebenheit, ist diese Angst vor einer Aenderung des Bestehenden heute in neuer Form zu Tage getreten. Und diesmal rein nur aus Beppo selbst hervorgegangen, ganz frei von Eifersucht auf einen andern Menschen, dem ich vielleicht mein Herz noch mehr als ihm zuwenden könnte.

Ein schöner Sommerabend lag mit seiner langen Dämmerung über Feld und Hochgebirg, und stilles, reiches Genügen ging durch die Natur, ein Ruhen, als ob es immer so bleiben könnte. Beppo war spät nach Feierabend hergeschlichen und machte sich seit einer Viertelstunde eifrig draußen auf dem Söller zu schaffen, sodaß ich dachte, Alles sei beim Alten.

Er hatte mich um die Erlaubniß gebeten, die Ranken des wilden Weines und des hundertjährigen Epheubaums, die das grobe Holzwerk grün umziehen, nach seiner eigenen Idee neu aufzubinden, und mühte sich nun, eine dichte undurchsichtige Blätterwand gegen die Seite hin zu errichten, wo drüben der Weg zum Feld vorüberführt. Dagegen legte er die üppig wuchernde Einfassung der Brüstung niedriger, wo der freie Ausblick ins Gebirg hinüber durch das aufstrebende Gewächs gestört war. Währenddem er so geschäftig hin und her hantirte, bewies er mir durch allerlei Ausrufe und Bemerkungen, daß er, wie einst Veronika, die 193 Gabe und das Bedürfniß steter sinnender Beschauung hat. Auch wenn wir wandern, macht er mich beständig aufmerksam auf so viel kleine Einzelheiten in der Natur, die ihm wunderbar erscheinen, wo ich bisher gewohnt war, nur das Ganze, Große zu betrachten.

Hie und da während seiner Arbeit warf er einen Blick zu mir herein, der mich um Zustimmung befragte. Ich nickte dann, und er fuhr fort, erst einen Augenblick lang für sich lächelnd, mit einem Lachen, das ich weiß nicht was von feinster Selbstbespöttelung an sich hat. Ich ahne auch den Sinn davon, nachdem ich es immer wieder auf seinen Lippen erscheinen sehe. Es entspringt der stets noch nicht ganz überwundenen Befangenheit in seiner neuen Lage, dem beglückend Ungewohnten seines Verhältnisses zu mir, seines völligen Heimathrechts in diesen Mauern.

Während ich drinnen am Tisch in einem Hefte weiter blättere, spüre ich, wie er mich wieder ansieht und wieder. Ich schaue auf und nicke abermals freundlich. Wiederum dies Lächeln.

Da frage ich schließlich: »Beppo?«

»Herr Fermont?«

»Warum lachst Du so vor Dich hin?«

Ein Achselzucken – und verlegenes Schweigen.

Ich warte.

Er schaut ein wenig untenvor, ob ich wirklich eine Antwort verlange.

»Warum denn?« wiederhole ich, – »so sag' es mir, – ich möchte es wissen!« 194

. . . »Nun« – zuckt er wieder mit der Achsel, »weil« . . . Doch weiter bringt er es nicht.

»Nun, weil?« . .

. . . »Weil der Landstreicher, wenn er so bei Ihnen ist und thut auch schon, als wär' er da zu Haus, halt immer wieder denkt, er träumt und wird schon bald einmal recht schlimm erwachen!« . . . .

»Einfältiges Kind!«

»Ja, hm . . . Sie sagen wohl: einfältiges Kind! Aber was wollen Sie! Auf einmal, wenn ich grade so zufrieden bin, daß ich wieder bei Ihnen sein kann, und Sie reden so mit mir, als wäre ich was Sie, sind gut zu mir wie ein Kamerad, erklären mir so manches Ding, statt daß Sie mich mit meinem dummen Fragen auslachen, und helfen mir zurecht, wo ich mein Lebtag ohne Ende gegrübelt hätt' – dann kommt mich das so an! Wie lange? – sagt's auf einmal zu mir, – wie lange noch, und Du hast Deinen Laufpaß wieder auf die Gasse!« . .

Ich wollte ihn scharf ansehen, doch er mied meinen Blick.

»Was denkst Du Dir dabei für einen vernünftigen Grund?« fragte ich darum mit absichtlicher kurzer Strenge.

Da ward er roth. Er faßt ja ungemein feinfühlig und schnell, und so begriff er allsogleich, daß dieser Zweifel für mich etwas Verletzendes in sich schloß.

. . . »Sie müssen mir schon verzeihen«, sagte er, indem er seine Arbeit liegen ließ und sich ganz dem Gemach zuwendete, darin ich saß, dabei mit 195 kurzen heftigen Handbewegungen verlegen den Thürpfosten wischend – »aber ich denke halt so: es ist schon wahr, viel Mitleid hat er freilich mit Dir, weil's Dir oft schlecht ergangen ist im Leben, . . das spürst Du ja! Und gern hat er Dich auch, weil Du ihm immer Alles gradheraus gesagt hast, wie es ist. Und er hilft Dir gewiß schon morgen wieder, wenn es nöthig ist, so wie er Dir bei Deinem Unglück eben erst geholfen hat. Aber . . . hast Du gemerkt? Er versteht Dich immer schon, bevor Du ihm eine Sache nur halb gesagt hast. Drum bilde Dir nicht ein, das könnt' so bleiben und Ihr wäret am Ende doch gleiche Menschen! O! himmelweit verschieden ist so ein Herr von Dir und weiß viel mehr als Du, er zeigt es Dir bloß nicht! Und nun . . nun denkt er sich wahrscheinlich doch in Dir einen Menschen, wie es so ein Herr von sich selber abnimmt. Aber da liegt's! wirst sehen! Wenn Du auch bis jetzt noch keine Dummheit gemacht hast, und er hat Dich gerne leiden mögen, so wie Du einmal bist, – mhm! – so kann doch jeden Tag etwas vorkommen, was ihn beleidigt, und wo er dann auf einmal den ›gemeinen Menschen‹ sieht, der eben doch ganz anders ist, als er gedacht hat. Dann ist's vorbei! Und Du darfst es ihm nicht einmal übel nehmen! Er hat ja gar keinen Anlaß gehabt, Dir überhaupt so viel Gutes zu thun und hat auch nie etwas versprochen! Und Dir stand gar kein Recht zu, ihn gerne zu haben, als wäre das ein Kamerad für Deinesgleichen! Ist Alles sein Belieben!« . . 196

Ei, mußte ich in der Stille denken, – weise spricht da ein Geringer. Haben nicht gerade in meinem Leben zahlreiche Bande bereits auf diese Art geendet, weil ich von jeher leicht mich selbst belog und trug in jedes Wesen, zu dem ich Neigung fühlte, mich selbst hinein.

. . . »Jaja – so wird es kommen! denk' ich mir zuweilen« – schloß jetzt Beppo sein Geständniß.

»Und dann?« – – warf ich ein.

. . »Und dann« . . rief er laut, mit einem plötzlichen traurigen Trotz, in einem Ton, so schmerzvoll, bitter, daß er mich tiefer traf, als die Vorwürfe, die mir in meinem Leben mit Worten gemacht worden sind, – »und dann« . . . er stockte wieder und schien sich selber erst besinnen zu müssen, was dann sei. Er hatte sich jetzt unbewußt ganz trotzig aufgerichtet und sah mir aus bleichgewordenem Angesicht mit großen finstern Augen voll ins Auge. In diesem Blick bemerkte ich sekundenlang das Funkeln einer ihm selber nicht klaren Feindseligkeit, ein jähes Zucken, das mich eisig kalt berührte. O, ich verstand es, ich begriff seinen tiefen Sinn! Das Emporschlagen des Hasses war es, der schuldlos Enterbten, die sich nicht wehren dürfen gegen die Bevorzugten, die sich ohnmächtig fühlen, gebunden in Allem, durch den grausamen Zwang ihrer Lage. So flüchtig aber, so flüchtig tauchte es auf, blitzartige Regung eines schlummernden Instinktes, daß es zu kurz war, um Beppo selber überhaupt ins Bewußtsein zu dringen.

. . . »Dann eben« – sagte er schließlich dumpf und neigte seinen Kopf, – »dann werde ich aufwachen!« 197

. . . Einen Augenblick blieb es todtenstill zwischen uns. Er selber schien erschrocken, daß da plötzlich laut geworden war, was bisher heimlich nur in ihm genagt.

»Du armes Kind!« . . war Alles, was ich dann für's Erste fand von Antwort.

Doch gleich darauf erhob ich mich, mit Macht zu ihm getrieben, und holte ihn herein.

An meiner Brust, in meinem Arm, die ich ihm jetzt mit bindendem Wort zur Heimath schwor, hat sich ein allzulang in liebeleerer Weite roh herumgestoßenes junges Blut mit Mühe und in wildem Ausbruch seines jahrelangen Sehnens nach einem warmen Menschenwort in dieser Stunde hindurchgekämpft zum Glauben an eines Menschen uneigennützige Liebe. Ich habe meines Herzens beste Weisheit mühevoll zu Worten reihen müssen, zu Worten, welche bauten, ohne aufzurühren was an unheilvollen trotzigen Zweifeln jetzt ganz nahe lag, damit dieser Abend nicht ein trauriger auf immer zwischen Beppo und mir geworden ist.

 

Montag, 3. Oktober.

Beppo war gestern nicht bei mir gewesen. Von seinen Kameraden war ein Streifzug geplant ins nächste Thal jenseits der Berge, und ich hatte ihm ein kleines Goldstück geschenkt, daß er mit ihnen gehen und sich einen fröhlichen Tag bereiten solle. Dagegen erschien er heute, mit mir den Nachmittag zu wandern. Der Meister hatte nicht genügend Arbeit und hieß darum die Gesellen diesen halben Tag noch feiern. 198

So streiften wir denn ohne bestimmtes Ziel hinaus durchs Feld. Rings an den Hängen prangten Busch und Baum schon in herbstlich bunten Farben. Ein leichtes Nebelgrau durchzog die Luft und wehte uns die herben kräftigen Düfte der welkenden Haide zu.

Das Feld verlor sich nach und nach in moorige Gründe, auf die in alter Zeit von den Bergen rechts und links die Felsentrümmer herabgestürzt sein mochten, die sich da und dort zur Seite unseres Pfades aufthürmten. Weiterhin war die Einöde nur noch von kleinen Wäldern und schwarzen Wasserspiegeln stumm belebt.

Beppo ging still einher, allein durch seinen Kopf beredt, in dem sich ein beglückendes Genügen ausdrückt, so oft er jetzt an meiner Seite wandern darf. Wie seliges, dankbares Ruhen war es, was seine Züge zeigten. Drum ließ ich ihn schweigend und sah ihn schweigend an. Mir war seine stille Nähe selber ein Ausruhen.

Wir kamen an dem Hügel vorbei, auf dessen Gipfel ich an jenem Sommerabend gesessen und drunten auf dem goldiggrünen Wiesenteppich die Menschen hatte kriechen sehen, wo ich ihrem elenden Rutschen und Mühen so lange zugeschaut, bis sie das Schauspiel jener Abendsonnenstrahlen staunend innehalten ließ. Und nun erging ich mich ja heute selber wieder als Figur mit einer andern Figur auf diesem Teppich und tanzte, weiterlebend und erlebend, ja aufs Neue vor dem Herrgott! . . 199

Mir zog, indem wir weiterschritten, mein jetziges Dasein im Vergleich zu damals vor dem Geist vorüber. Doch Beppo weckte mich bald aus meinem Sinnen. Wir standen eben mitten in einer kleinen Sonderwelt. Verfärbtes Buschwerk und tiefdunkle Tannen umzogen rings den Ort und schlossen ihn von Außen ab. Ein Felsklotz, zum Theil mit Moos bedeckt und überschattet von zwei Birken, lag wie eine Festung auf dem kleinen Haidefleck, und in dem dunkeln Wasser, das sich dabei dehnte, spiegelten sich still die Felsenhäupter des Gebirgs, die über jenen Tannen aufwärts ragten.

»In eine solche Einsamkeit möcht' ich mit Ihnen ziehn, sehn Sie, Herr Fermont!« rief Beppo ganz begeistert aus, – »es müßte aber auf einer Insel sein, weit fort von allen Menschen, ganz allein im Meer! Die könnte liegen, so fern sie wollte, und meinetwegen käm' ich nie zurück: mit Ihnen ginge ich doch dahin!«

Ich mußte lächeln. »Und warum denn so weit?«

»Ja . . . weil die Leute doch nicht für uns passen, und weil wir doch nur dann für immer beisammen bleiben könnten, wenn es gar keinen andern Menschen gäbe, ringsum! Wenn wir nun so allein und abgeschnitten wären und ich wüßte, ich bleibe jetzt immer da, . . dann würd' ich fragen, oh! noch viel hundert andere Dinge, als was ich Sie bis jetzt gefragt hab'!«

»Da hätten wir freilich Zeit!« antwortete ich lachend.

»Drum eben!« Er hielt jetzt an und betrachtete erst noch einmal den Ort, wie das entschwindende Bild 200 eines Glückes, das nicht für ihn gewesen. Nur zögernd setzte er seine Schritte fort und blickte im Weiterwandern wieder schweigend vor sich hin.

Was er zu fragen hätte auf jener einsamen Insel, war ihm wohl selber nicht genauer bewußt. Ich aber fühlte es ihm ab: es war das allgemeine Uebervolle, Ahnende und Suchende einer jungen Menschenbrust, die nach so lange ungeweckter Starrheit jetzt durch warme Berührung immer mehr zum Leben erwachte. Beppo verlangt jetzt instinktiv nach Bild und Klarheit, wo bisher nur Dunkel und kindlich ehrfürchtiges Vermuthen war.

Er deutete auf mein Fragen einige Punkte an, und da erkannte ich, daß dieser Junge in Allem, was er so bedenkt und äußert, zuvorderst eben Das noch hat, was wir Gebildete so oft kalt weglegen oder für überwunden erklären: die heilige Ehrfurcht vor dem Ahnungsvollen.

Mir war es reiner Genuß, von Neuem dieses von Bildung unberührten Menschen Inneres tiefer zu ergründen. Von Ernstem und Hohem redend in der ernsten Landschaft, kamen wir nach Stunden an das Ende des Thales.

Beim Bauern, der am Bergpaß wohnt, verweilten wir und traten erst nach Rast und Imbiß unsern Rückweg an.

Der Tag begann sich bereits zu neigen. Beppo schwang seinen Stock und summte im Gehen leis ein Lied.

. . . »Nun denn . . wie war es gestern?« fiel mir nach einer Weile plötzlich ein zu fragen. »Wo waret Ihr und was hast Du gesehn?« 201

Der Junge stockte in seinem Schritt und senkte den Kopf – als hätte er das befürchtet.

»Nun? . . seid Ihr denn nicht fort gewesen? Du bliebst doch aus!« . .

. . »Schon! schon; sie waren fort!« . .

»Sie? . . Ja und Du?«

Verlegene Pause – und Beppo roth, wie übergossen. Mir räthselhaft. Ich schaue ihm ins Gesicht, er mir, betreten, als fände er keine Ausflucht mehr.

Auf einmal reißt er das Gewand vorn auseinander: auf seiner Brust an einer Schnur liegt mein Goldstück – als Amulet! Er hatte ein Loch hindurchgebohrt und trug das nun »statt jener Reise«!

»So hab' ich nun auf immer etwas von Ihnen, auch wenn wir einst weit auseinander sind!« . . bemerkte er treuherzig.

Der Einfall überraschte mich. Doch während ich noch das blinkende Stück an Beppo's Brust betrachtete, überkam mich ein Erinnern, wie ich selbst in Stunden Aehnliches gethan, wo mein Inneres kurze Seligkeiten erlebte, wo Liebe mit ihren verderblichen Wonneschauern mein Herz durchglühte und ich mit verzweifelnden Händen nach ewiger Dauer griff, oder wo die Freundschaft tief mein ganzes Wesen füllte und bange Sorge um das Ende solchen Seelenfriedens durch meine Brust zu zittern begann.

»Du bist ein guter Mensch!« sprach ich zu ihm und sah mit Wärme in sein Auge. Und aus dem werdenden Manne schaute mir da, wie nie zuvor, glückselig das einfach treue Kind entgegen. 202

 

Freitag und Samstag, 6. und 7. October.

Zwei Tage in der höchsten Oede meiner Felsenwelt verbracht, die letzten wohl in diesem Jahre im Gebiet der sieben Quellen. Es galt mir noch einen kühnen Fang zu thun, bevor der Schnee die schmalen Steige zu den Schroffen auf einen neuen Winter ganz vermauert. Zur Jagd auf einen Adler habe ich dort gelegen, den ich vor Wochen schon entdeckt und immer wieder in jenem Gebiete betroffen hatte. Bald über dem zackigen Geschröffe kreisend, bald an den jachen Wänden langhin schwebend mit der stolzen Ruhe seiner Unerreichbarkeit, hatte er mich gereizt, wenn ich so dasaß in der großen Felsenöde. Oftmals und lange schaute ich ihm zu, gebannt in meine Tiefe, und neidete ihm sein ruhesames Kreisen dort im Aether.

So hatte ich mich an ihn gewöhnt. Und da der Herbst zur Neige ging, hab' ich geschworen: »Zu meinem stummen Gesellen will ich Dich auf immer machen, Du stolzer Freund da droben! Wir sind zwei Aehnliche, – und wenn der Winter nun bald seine Stürme um meine Mauern jagt, so sollst Du, kühne Beute und Angedenken aus meinem theuren Zufluchtsort, Deine Fittige über mich spannen, von der hundertjährigen Balkendecke meines Thurmgemachs!«

– Ich nahm mir einen erfahrenen Jäger dieses Thales und zog mit ihm hinauf. 203

Mit Gold umhüllte gestern noch einmal die Sonne alle Zacken. Zum Abend spann ein feines Nebelrieseln Alles rings in Grau. Wir langten glücklich in der höchsten Oede an, wo auch ein angehacktes Lamm uns bald erwünscht die Spur verrieth. Wir hielten Ausschau, warteten, bis wir gewiß waren, daß der Adler nirgends spähend über uns sei. Dann gingen wir ans Werk. An einer Stelle des weiten Felsenkessels, wo das Geröll recht hellen Untergrund gewährte, bauten wir die Falle. Im Rund gezogen eine Einfaßmauer aus Gestein, in deren Mitte ein todtes aufgerissenes Gemsenkitz gelegt ward. Das Blut ringsum in starken Flecken verspritzt, dem Adler in der Höhe erkennbar in seiner dunkeln Röthe auf dem hellen steinigen Grund. In dieser Mauer ließen wir drei schmale Gassen frei, durch die der Vogel, der sich außerhalb erst niederläßt und dann vorsichtig näher zu hüpfen pflegt, eindringen konnte. In jede dieser Gassen stellten wir bei Nacht ein starkes Eisen. Dann zogen wir uns weit zurück, jedwede Menschenspur mit Sorgfalt tilgend.

Auf einem höhern Platz, von wo der Blick gleich mit dem Morgengrauen unsre Mauer überschauen konnte, wählten wir den Aufenthalt zum Uebernachten.

Der Jäger hüllte sich in seinen Mantel und legte sich zur Ruhe. Ich opferte den Schlaf für dieses letzte Mal, da mir noch vor dem Winter hier zu sein vergönnt war, in meinem vertrauten Hochrevier.

Die Nacht war kühl. Es wehte stark aus Osten, und das Nebelgrauen, das sich um die Höhen gelegt hatte, verschwand um Mitternacht. In kalter 204 Sternenherrlichkeit erschimmerte das Firmament, und eine unbestimmte Helle wuchs von Ost gen Süden. Da, um die erste Morgenstunde schwamm in schreckhaft weißer Pracht der runde Mond über einer Wand empor. Ich stieg auf eine Felsenzinne und sah hinab ins Hochland, zu den Menschenstätten. Wo bisher noch die Nacht jedwedes Einzelne verhüllt und in dem großen Dämmerganzen aufgelöst, erstanden jetzt bald helle Punkte und zeichneten sich bleiche Schimmerbänder. Mein Auge folgte ihnen, dort drunten nach Bekanntem suchend, und fand, je höher über mir der leuchtende Mondball stieg, mit umso körperhafterer Deutlichkeit die kleinsten Orte.

Von jenen dunkeln Buschwerkmassen, die den Bergbach säumen, feldeinwärts schweifend, erreichte es den stillen Grund ums Feld-Kastell. Da blieb der Blick wohl lange haften! Weiß überfluthet, eine weltentrückte Klause, stand das kleine Bauwerk drunten auf dem stummen weiten Plan, mir fast erscheinend wie ein Traumgesicht. Und aus dem Schatten meiner hohen Wände schien es wie Hauch des Ewigen hinabzuwehen in diese mondnachtstille Einsamkeit. Wie ein entschwebter Geist, der fern im Erdengrund noch die verlassene Hülle sähe, so schaute ich auf mein Gelaß hinab . .  O Fülle ewiger Gedanken, wer faßte Dich ins Wort, wie Du in nächtiger Natur der Mannesseele nahst!

Ach! daß mir da ein Körper blieb, ein leiblich Sein, das mich zur Rückkehr zwang nach dieser Stunde der Erdentbundenheit, nochmals zum Menschendasein tief im Thal! . . . . . . 205


Spät erst begann der Tag sich anzukünden. Von meines Geistes tiefverschwiegenem Erleben wandte ich mich unsrem Werke zu. Ich weckte meinen Jäger, der sich mühsam aus dem Schlaf ermannte. Es galt von jetzt ab unermüdlich auszuspähen, ob der Adler nahe und wie er sich herbeiließ.

Noch lag der Schatten überm Felsenkessel, es war wohl um die achte Stunde – als mich ein leiser Ausruf des Genossen auf jenen Gipfel blicken ließ, an dem ich schon so oft das Thier auftauchen gesehn: ein schwarzes Pünktlein in dem bleichen Blau des Morgenhimmels, das sich zu regen schien. Es wuchs unmerklich, bewegte sich nun sichtlich von der Stelle. Der Adler stieg.

Die erste Zeit war es ein ergebnißloses Kreisen. Er schien nicht in den Grund zu sehn. Da, als die Sonne in das Felsthal drang und jenen hellen Grund der Steine voll beleuchtete, bemerkten wir, wie sich die Kreise plötzlich näher zogen. Sie gingen bald auch tiefer. Etwas – war erspäht! Vorsichtig schwebte der schwarze Punkt jetzt abwärts, hielt dann still und hing einen Augenblick wie angenagelt mitten im Luftraum über dem Kessel. Nachdem der Adler ausgespäht, daß Etwas lag, entschwebte er aufs Neue, langsam und behutsam. Er steuerte rückwärts zu den Felsenhäuptern und nahte bald dem Rande jenes Risses, dort eine Weile sitzend weiter auszuschauen.

So wechselte das Nahen und Entschweben bis spät am Nachmittag. Wir, unsrer Sache sicher, stiegen indessen außerhalb des Felsenthals die Wände hernieder und nahten auf verborgenen Kletterpfaden unsrem 206 Mauerplatz. In einer Kluft versteckt, verfolgten wir das Kommende aus der Nähe.

Die Abendzeit war da, die Sonne stand tief, und schon begannen sich am einen Ende des Felsenrunds die Schatten wieder langsam über den Grund zu breiten, – da ließ sich plötzlich der Adler zur Erde. In einiger Entfernung von der Mauer erreichte er den Boden. Dann hielt er an. Er wendete einige Male den Kopf, er schien beruhigt. Jetzt fing er an, mit Hastigkeit der Mauer zuzuhüpfen. Der einen Gasse nahe, legte er seine Fittige vollends zusammen. Noch einmal äugte er scharf umher, darauf schritt er in die Bresche; – – ein kurzer schriller Pfiff, ein jähes Flügelschlagen, durch die Mauer beengt, verkündete uns im nächsten Augenblick, daß er ins Eisen eingegangen.

Wir aus der Kluft in Sprüngen nieder und auf das festgeklemmte Thier. Das zischte uns entgegen und wandte seinen Kopf mit giftigem Beäugen entsetzt nach allen Seiten. Der grausige Schnabel hackte umher, der freie Fuß, bald krallend, bald gespreizt, griff jetzt nach Halt, dann wieder setzte er sich zur Wehr. In einem Sprunge war der Jäger schon dabei. Mit seinem langen Bergstock drückte er dem Adler Hals und Kopf zu Boden und hielt ihn also grimmig fest, daß jeder Versuch, noch mit den Fittigen dreinzuschlagen und mit dem freien Fuß zu packen, schnell erstarb. Bald kauerte das Thier ganz still, und mit dem zweiten Bergstock schickte ich mich an, es todtzuschlagen. Ich stellte mich davor hin. 207

In diesem Augenblick erhob der Adler seinen Blick. So, regungslos, durch List gefangen den gemeinen Tod erwartend, sah er mich an, voll königlicher Verachtung. Statt angstvoll wie zuvor, war dieser Blick jetzt plötzlich eiseskalt und stolz. Ich staunte. Ruhig hielt er mein Auge aus. Da schaute ich die Felsen drüben an – den Luftraum über mir – die scheidende Sonne. Was da in mir vorging!

»Halt' fest!« rief ich dem Jäger zu – »ganz fest!«

»Ich halt' schon! schlag' doch zu!«

Ich aber, wie von einer innern Macht getrieben, ich bückte mich blitzschnell, hielt mit meinem Stock, drauf knieend, auch noch den Leib und beide Flügel nieder, ließ dann das Eisen springen, schnellte wieder auf und schrie: »laß' los!«

Schon hatte der Adler die Befreiung gespürt – eine Sekunde des Zauderns, dann ein Ruck nach rückwärts: weitaus thaten sich seine Fittige und arbeiteten sich vom Boden frei. Nun noch ein Augenblick – und vor den entsetzten Blicken des Jägers stieg das befreite Thier empor.

»Was hast gethan!« schrie mein Genosse und fluchte laut.

»S'ist gut so!« winkte ich mit der Hand und schaute hinauf. Da packte Der erzürnt all sein Geräth zusammen und schüttelte voll Hohn den Kopf.

Was kann ich Dir erklären, dumpfe Menschenbrut!

Ich blieb – und starrte in die Lüfte, wo der Gewaltige erst eine Weile stieg und stieg, dann triumphirend kreiste und zuletzt hinüber schwebte zu jener 208 Reihe Zacken, die ganz zuoberst im zerrissenen Gewänd aufragt, senkrecht und gleichgegliedert, wie eine hehre Riesenorgel. Just sank die Sonne hinter ihr hinab, die ziehenden Wolken glanzvoll säumend.

Da athmete ich auf, und meine Brust ward weit und froh.

»Sei frei! Du stolzer Freund!« rief ich dem Weitentschwebten nach – »und bleibe frei, wie ich!« 209


Notiz von Georg Brandt

Von diesem Zeitpunkt ab scheinen sich um Fermont schnell und mannigfach die Fäden gesponnen zu haben, die ein gefährliches Netz bald enger und enger um ihn zusammenzogen, und zugleich zeigen die Notizen eine abermalige Lücke.

Beppo, seit jenem Auftritte, wo er Fermont seinen kummervollen Zweifel an der Dauer seines Glückes geoffenbart hatte, von diesem mit Liebe und Fürsorge überschüttet, war seinem Wohlthäter nun mit wahrer Leidenschaftlichkeit ergeben. Er fühlte sich jetzt freier und dem ungleichen Freunde mehr gewachsen, je näher Fermont ihn in weisem Ueberlegen und mit geduldiger Güte allmälig dem Ziele brachte, das er sich mit ihm gesteckt: in dem völlig Unentwickelten, aber seelisch so Begabten eine Weltanschauung heranzubilden, mit der er, unabhängig von der jeweiligen äußern Lebenslage und später selbst auch fern von Fermont, in sich selber den Halt finden könnte in allem Ungemach.

Das Feld-Kastell war so dem Jungen nun wirklich eine Heimath geworden.

Wenn er, dieser schönen Stellung sicher, der geahnten Sache mit Eva jetzt auch nicht mehr ängstlich 210 nachforschte, so wurde er über ihren Gang doch bald ohne sein eigenes Zuthun gründlich unterrichtet.

In dem kleinen Dorfgasthause, drin er Abends manchmal mit seinen Kameraden saß, inmitten der Gebirgler, fing er nämlich aus dem Gespräch von Holzknechten eines Tages auf: daß Fermont immerfort und sogar bei Nacht im Hochwald um den Karhof und an den stillen Jägersteigen jenes Felsgebietes getroffen werde. Die Vorgeschichte Eva's und ihr Verhältniß zu dem verwegenen Mathies hatte er von Andern auch bereits so nach und nach erfahren. Bald hörte er mit Schrecken gar, wie ab und zu ein Holzknecht diesem Menschen selber, der stets im Wirthshaus anzutreffen war, um ihn zu reizen, von jenem Fremden sprach, der jetzt der Evi nachgehe. Und als eines Abends Fermont – seit der Zeit von Beppo's Fußbruch das erste Mal – wieder im Gasthause erschienen war und sich, wie immer, allein in eine Ecke setzte, hatte der Junge einen heimlichen Blick voll Haß erschaut, den dieser Mathies dem Fremden zugeworfen. Das ließ ihn nicht mehr ruhen. Er ahnte dunkel eine nahende Gefahr. Doch, wie nur abermals etwas mit Worten berühren, wovon ihm nun einmal das Recht nicht zustand, Näheres zu wissen? Sein natürlicher feiner Sinn zeigte ihm die ganze Schwierigkeit.

Dennoch wagte er einen Versuch, Fermont auf die Gefährlichkeit des Mathies aufmerksam zu machen, indem er an einem Sonntag, scheinbar zufällig, die Geschichte jener Bauerndirne auf dem Karhof vorbrachte, wie er sie im Wirthshaus habe erzählen hören, und 211 daran eine Schilderung des Burschen knüpfte, der ihm den schlimmsten Eindruck mache.

Diese Warnung schlug Fermont völlig in den Wind. Ein kurzes »so?« – als hätte diese Erzählung für ihn gar kein Interesse, war Alles, was Beppo als Antwort hörte.

Von da ab schwieg er gänzlich, beobachtete im Stillen aber umso schärfer weiter.

Fermont, unvorsichtig wie zuvor, schweifte in den schönen herbstlichen Nächten fort und fort umher. Zur Tages- und zur Nachtzeit endeten seine Streifzüge beim Karhof, tollkühnerweise jetzt sogar zu Stunden, wo die Knechte zu Hause saßen, von denen er merken konnte, wie sie ihren eifersüchtigen Haß auf ihn geworfen hatten. Denn diesen Menschen mußte bei ihrer an keine Umschweife gewohnten Art sein beständiges Verkehren auf dem Hofe längst als ein Bewerben um die Liebschaft Eva's gelten. Die Bäurin fand keinen Anlaß, dreinzureden, und ließ die Sache ganz gewähren. Daher war es möglich, daß die Dinge sich dort hinten zu so hoher Spannung entwickeln konnten.

Bald kam ein erster Zwischenfall, der Beppo enger in die Sache zog. Eines Sonntags, wo Fermont und er – die sich im Dorfe drunten nicht gemeinsam zeigten und im Gasthaus nie zusammen setzten – spät Abends von einer Wanderung durchs Feld heimschritten, wurden sie von Mathies bemerkt. Er glaubte in der Dunkelheit den Schreinergesellen zu erkennen, der dort in ganz vertrautem Gespräch mit jenem verhaßten Fremden ging. Doch war er seiner Sache nicht gewiß, wohl 212 aber beobachtete er von da ab den Jungen mit mißtrauischen Augen. War Der vielleicht nicht auch ein Spion, wenn er, im Wirthshaus unter ihnen sitzend, so Manches mit anhörte?

Von da ab spitzten sich die Dinge zu.

Es wurde November. Fermont verbrachte seine Zeit fortwährend droben im Gebirg. Der Hochlandsherbst mit seinen schönen Tagen dauerte lange. Da ließ ein zweites, weit bedenklicheres Vorkommniß Beppo jäh entdecken, wie Alles stand.

Eines Donnerstag Abends, am Holztag, waren die Knechte vom Karhof nach Feierabendzeit noch unten im Dorfe und saßen im Gasthaus, als Fermont auch dort eintrat. Beppo, der ebenfalls anwesend war und an dem langen Tische unter dem Bauernvolke saß, hörte jetzt, wie des Freundes Erscheinen Anlaß zu spitzen Bemerkungen gab, mit denen die zwei Nebenbuhler den Mathies gegen den Fremden dort aufhetzten. Doch grüßten Diese Fermont, während Mathies seinen Hut trotzig auf dem Kopfe behielt und höhnisch hinüberblickte. Das bemerkte Fermont und glaubte daran endlich den Vielgenannten zu erkennen.

Als die Nacht schon tief hereingebrochen war, erhoben sich die Knechte und rüsteten sich zur Heimkehr nach dem Hofe. Nach einer weitern Stunde wandte sich auch Fermont zum Gehen, und da bemerkte Beppo, wie Mathies seinen Aufbruch heimtückisch beobachtete, jedoch noch scheinbar ruhig sitzen blieb. Dadurch beunruhigt, wünschte er nach Kurzem unauffällig gute Nacht und verließ die Stube. Er wollte Fermont in 213 einiger Entfernung unbemerkt nachgehen, die Gasse hinauf, ins Feld bis gegen das Kastell. Er mußte wachen, ob Mathies nicht dem Freunde nachschleiche; denn dieses Menschen heimliches Brüten hatte er nun lange genug beobachtet.

Draußen war eine dunkle Nacht; der Mond, einen matten Schein voraussendend, noch nicht über den Bergen herauf. Eine Wolkenwand thürmte sich längs den Zacken.

Kaum war der vorangehende Fermont am Ende des Dorfes und ging nun die alte Seitengasse hinauf, die zwischen einzelnen finster daliegenden Häusern und Baumgärten hindurch, an alten Umfriedungsmauern und Mäuerchen entlang ins freie Feld hinaus und gegen das Kastell hin führte, so hörte der ungesehen nachfolgende Beppo auch richtig den Mathies schon hinter sich herschleichen. Er drückte sich schnell in die völlige Finsterniß des Gemäuers und ließ ihn an sich vorüber. Dann folgte er ihm auf kurzen Zwischenraum. In ziemlicher Entfernung geht dieser hinter Fermont her, nähert sich ihm aber nicht. Es schien nur seine Absicht, einstweilen dessen gewohnten Heimweg zu verfolgen. Er hielt auch an, im Feld, als Fermont sein Kastell beinah erreicht hatte, und wartete, ob dieser wirklich hineingehe oder heute vielleicht noch weiter wandere. Doch drüben knarrte die Thüre – und Fermont trat in den Thurm.

In diesem Augenblicke will sich Beppo zur Umkehr wenden, um ungesehen zu entkommen; denn schon verkündet über der Wolkenwand ein hellerer Schein das 214 baldige Emporsteigen des Mondes. Da, wie sich der Junge umdreht, tritt er auf einen kleinen dürren Ast, es kracht – Mathies kehrt sich blitzschnell um und späht in die Richtung des plötzlichen Geräusches.

Beppo, flink wie eine Katze, ist mit einem Sprung über das niedere Gemäuer, an dem er gestanden, im Wiesengras und läuft im schützenden Dunkel so lautlos wie möglich über die weichen Matten, hinter den kleinen Bauerngehöften durch, ortskundig den Hinterhäusern und Ställen entlang, dem Hause seines Meisters zu. Mathies hinter ihm drein, noch in weiter Entfernung, aber stets den ab und zu erhaschbaren ungefähren Lauten der Tritte folgend. Er ahnt die Spur. Der Verdacht ist ihm aufgeblitzt, wer das sein kann.

Beppo, während dieser Flucht Alles voraussehend, was möglich war, erreicht glücklich den Holzschuppen des Meisters, reißt die Schuhe von den Füßen, schlüpft behend und leise durch die Hinterthüre ins Haus und gleitet lautlos in die Gesellenkammer. Da hört er seinen Nebengesellen Bastian und den Lehrbuben in tiefem Schlafe schnarchen. Hurtig reißt er ein paar seiner dort hängenden Kleidungsstücke von der Wand, legt sie sacht und schnell auf seinen Stuhl und gleitet dann, vollangekleidet wie er ist, ins Bett, sich mit der Decke bis an den Hals verhüllend. Da geht gerade der Mond auf. Hellleuchtend dringt sein Schein durchs Fenster, in schwarzer Zeichnung die Gitterstäbe auf die lichtbeschienenen Dielen des Bodens werfend. Beppo drückt sich ganz in den tiefen Schatten der Ecke, darin sein Lager steht. Doch kaum geschehen, vernimmt sein 215 Ohr auch draußen schon schleichende Tritte, und an dem Fenstergitter auf dem Boden zeichnet sich der Schatten einer Männergestalt. Der Junge regt sich nicht, sondern simulirt nun ebenfalls zu schnarchen. Zwischen halbgeschlossenen Lidern hervor aber blinzelt er unverwandt auf den Boden, den unheimlichen Schatten verfolgend.

Der gleitet spähend hin und her am Gitter. Aber die beiden Schläfer dort weiter hinten im Zimmer kann er nicht erkennen und das Bett zunächst in der dunkeln Ecke der Fensterwand, dessen Decke unbeweglich bleibt, nicht übersehen. Er lauscht, er sucht herauszufinden, ob Einer drin liegt, hört durchs Fenster jedoch nur ein unbestimmtes Schnarchen.

So strengt er sich eine Weile nutzlos an. Dann klopft er ungeduldig ans Fenster. Beppo bewegt sich nicht. Da klopft er abermals und stärker, und endlich dreht sich Bastian um und richtet sich schlaftrunken halb empor. Der Lehrjunge hört nichts und schläft weiter.

»Was ist? . . . wer ist da?« fragt Bastian halblaut.

Am Fenster klopft es wieder; da sieht er die Gestalt, gleitet aus dem Bett und erkennt den Mathies.

»Ist der Joseph daheim?« fragt Der mit ungeduldigem Flüstern.

»Da liegt er!«

»Jetzt meinte ich doch beim Teufel, ich hätt' ihn gerade wo gesehen! Ich wollt's nur sicher wissen!«

»Ja was willst Du denn, Der schläft ja und schnarcht!« 216

Der draußen fluchte dumpf.

»So pack' Dich doch fort, Nachtstreuner!« warf jetzt der Geselle dem Ruhestörer zu, der noch immer vor dem Fenster stehen blieb und sich zu ärgern schien, daß er so des Geflohenen Spur verfehlt hatte.

Er ließ ein mürrisches »Gute Nacht« vernehmen und glitt davon.

Am nächsten Morgen erzählte Bastian dem Beppo, was geschehen war.

Der aber wußte von Stund an, daß er für Fermont's Sicherheit gespannt zu wachen hatte. 217


Aufzeichnungen Fermont's

3. November in der Nacht.

. . . Unerträglich! dies beklemmend stumme Leben mit sich selbst in tiefer Finsterniß, wenn wild erwachte Sinne und der entzündeten Gedanken unaufhaltsam sprühende Reihen den Schlaf verscheuchen. Wie hört der Mensch, in wache Stille festgebannt, da seines eigenen Blutes Schlagen in den Adern! Unheimliche Begleitungsrhythmen zu den Nachtgedanken! Sich gleichsam selber leben hört er! Und was der Tag an Gut und Bös in uns hervorgebracht in Denken, Wort und Thaten, davon entrollt in solcher Stunde die richtende Gewalt der Nacht die Bilder schreckhaft klar auch vor dem Widerwilligen.

Vor mir – umsonst! Ich pflege Licht zu schlagen und zu scheuchen, wenn das Dunkel malt! So thu ich jetzt!

Ich bin von Sinnen! In mir loht ungebändigt wie nur je die Flamme meiner alten Natur empor. Erkennst Du ihn, der aus der langen Starrheit aufersteht, Mensch Adrian? Haha! Wie tagt das alte Glühn doch triumphirend aus dem künstlichen Aschenhaufen! 218

Wie einst durchwühlen Dinge meine Seele, die vor mir, mein' ich, noch kein Herz geahnt, die noch in keinem Menscheninnern geschauert, die noch kein Hirn ersann! An Liebe größer als Alles, was in Andern je gewesen, auch frevelhafter an Gelüsten und an höhnischer Verachtung alles Bestehenden! O! grade so wie einst, wie immer!

Wozu das Mühen: durch weltflüchtige Einsamkeit mich mönchisch einzuspinnen, mit einer Seele, die nicht einzuschläfern ist, mit einem Körper, der so trotzig seine Jugend aufrechthält? Die Einsamkeit – sie führte zur Natur und die Natur zur Liebe! Ein Jahr in dieser Klausnerei – und ich treib' in tollen Wirbeln der Leidenschaft schon neuen Abenteuern zu! . . .


 

Die Nacht darauf.

Nur allzu richtig ist, was ich in voriger Nacht auf dieses Blatt geschrieben. – Der Vollmondschein trieb mich aus meinem dumpfen Thurmgemach hinaus noch einmal auf den Söller, und unbeendet blieb die Nachtbetrachtung.

Schon früh am Morgen war ich unterwegs zu meinen Höhen. Noch immer verwehrt mir kein neuer Schnee den Weg dahin. Voll wunderbarer Klarheit that der Tag sich auf, und in der herben Morgenfrische lösten sich die Glieder vom Rest des traumverwirrten Schlafs, der meine Nacht erfüllt. Doch reinigten die kühlen Schauer, die mir Haupt und Brust umspielten, die 219 heißen Sinne nicht von ihrer Leidenschaft. Ein ungeheures Kraftgefühl durchrieselte die Glieder und sehnte sich nach That und wildem Erleben! Gedanken kamen, gingen, jagten sich, indem ich die bekannten Pfade aufwärts kletterte. Ich klomm noch einmal ganz empor bis zu der stolzen Zinne und sah mich da, so schwindlig hoch, mit immergleicher Wonne dem irdischen Bezirk entronnen; diesmal allein mit meiner Leidenschaft. Berauschend wirkte heute die Unendlichkeit des strahlenden Azurs auf mich, in den hinauf die Riesengipfel vor mir ragten! Berauscht auch ward ich von dem goldnen Feuerlicht, das über mir im Strom des Aethers schwamm, berauscht von dieser Urweltschönheit, die allem rings Geschaffenen heut gegeben war. Die Arme breitete ich aus, als müßt' ich alles Das umfassen und besitzen! . . . . . .

Das war mein Morgen. Mühselig auf den thaugefrorenen schattigen Felsenpfaden hatte ich zu Mittag das Versteck erreicht, von wo ich aus dem Saum des Hochwalds den kleinen Vorsprung mit dem Karhof übersehen kann. Der Tag war günstig. Mit den Knechten ging auch die Bäurin heut zu Thal, das wußte ich, – zum Begräbniß einer Schwester, und würde nicht vor übermorgen wiederkehren. So machte ich mich, als ich sie Alle hatte thalwärts ziehen sehn, schon gleich nach Mittagszeit gegen das Haus herzu.

Ich trete behutsam in die niedere Thür der Küche und sehe Eva, wie sie dem Hunde einen Fuß verbindet. Sie wird mich erst gewahr, als meine Tritte auf der 220 Schwelle ertönen, und das zurückgehaltene Thier anfängt zu bellen. Ihr Gruß erscheint mir heute nicht völlig unbefangen. Ich reiche ihr die Hand – und prüfe. Sie drückt sie flüchtig, schaut mir kurz ins Auge und macht sich dann wieder zu schaffen. Ich bitte um Mittagbrot.

Die nächsten Stunden vergingen noch in stillem Beieinandersitzen. Ich that ihr Handreichung bei ihrer Arbeit. Hätte sie geahnt, mit welchem stummen Kampf! Und doch! – wenn ich gewahrte, wie friedlich und vertrauend ihr Antlitz war, so schien es mir ein Frevel, schon mit Dem hervorzubrechen, wovon mein Inneres voll zum Bersten war.

Sie sprach von nichts, ging ein auf nichts, woran sich hätte knüpfen lassen, was auf meiner Zunge brannte. Ich mußte schweigen, konnte sie nur fort und fort betrachten. Doch schon ihr Anblick machte mich heute völlig toll! Ach, dieses Geschöpf zu sehn, voll verhalten heißen athmenden Lebens! Um Eva's Augen lag ein Schatten, wie von stärkerem Kummer, und dabei schienen ihre Lippen geschwellt wie von größerer trotzigerer Kraft.

Ich fragte obenhin, ob sie nichts Neues vom Thal erfahren habe.

Da sah sie mich wie strafend an und fragte mit einer verlegenen Strenge: »warum?«

»Ich dachte« . . .

. . . »Was dachten Sie?«

»Nun, weil die Knechte in den letzten Tagen mehrmals unten waren und weil ich sie im Gasthaus sitzen 221 sah, bei Einem, der mir zu stimmen scheint mit Dem, der Dir gefährlich ist!«

»Haben Sie keine Sorge um mich! So saßen sie schon lange beieinander! Das eine Mal wird auch nicht mehr verderben. Ich fürchte eher: Jener kümmert unsre Knechte jetzt viel weniger mehr, als Sie! Sie hassen Sie!«

»Wie weißt Du das? So lassen sie Dich's fühlen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich spür's!« . . .

»Mußt Du's entgelten?«

»O entgelten – nein!« Sie sagte das mit feiner Schonung, wie ich deutlich fühlte.

»Sie quälen Dich jetzt um meinetwillen« – rief ich – »sprich!« Im Innern packte mich ein wildes Verlangen, die beiden Hunde zu erschlagen, die diesem Weib in's schon verdorbene Leben neue giftige Reden streuten. Doch sagte mir zugleich ein leises Mahnen: und wenn es so ist, – wer trägt daran die Schuld?

Ueberzeugend fühlte ich, daß mit dieser Andeutung des Mädchens ein folgenschweres Wort gefallen sei, ein Neues eingetreten, was eine Lösung heischte und ein Weiterdauern Dessen, was bis heut gewesen, nicht mehr zuließ. Zahllose tolle Pläne, vom Augenblick geboren, jagten sich in meinem Hirn. Das Feuer war mit ihren wenigen Worten unverhofft noch mehr in mir geschürt.

»Mit Eva fliehn« – die erste Regung! Aber – Tollheit! hab' ich doch keine Beweise, daß sie mich wiederliebt!

Habe ich wirklich keine? 222

Und wenn ich nun in ihr jäh zur Bewußtheit weckte, was oft, so wie ich die Weiber kenne, nur unbewußt in ihrem Innern gährt und was auch Eva wohl in Dem, was sie für Freundschaft hält, zu mir hinzieht: in Schlummer gehaltene Liebe! Wie? wenn ich diese nun mit einem Schlag hervorzubrechen zwänge! . . . Aber . . . könnte nicht bei diesem Wagniß ihre stolze Ehre leicht auch gegen mein Begehren siegen? Das hieße also: meinen Sieg in klar vorauszusehende Gefahr bringen! Und Sieg muß meiner Leidenschaft hier werden, und koste es was es wolle! Was frage ich danach! Es ist mein Schicksal: zu verderben, was ich liebe! Ich muß! . . . . . .

»Was denken Sie, Herr Fermont, daß Sie jetzt so böse blicken? Warum sind Sie auf einmal so geworden?« befragte Eva mich beunruhigt. In ihren Augen lag ein Ahnen: daß etwas in mir vorging, was, erst ausgesprochen, fürchterlich zu hören wäre.

». . Ich? –wie geworden? wie bin ich denn?«

»Sie wissen es schon! Ich sagte das vorhin nur Ihretwegen, weil ich möchte, daß Sie sich vor den Beiden jetzt ein wenig hüteten, solange es noch dauert« . . .

»Dauert?« . .

»Ja! – – ich kann den Platz hier nicht behalten; ich sehe das ein und schreibe jetzt doch nach Amerika um das Geld zur Reise; ich hab' das Alles schon in meinem Kopf zurecht gemacht!«

»Du sollst nicht nach Amerika!« schrie ich, – »ich . . .

Ein Klopfen am Fenster schreckte uns Beide auf. 223

»Nun? Hast schon Heimgarten genug! Da wirst' wohl keinen Platz mehr für mich haben dadrin?« rief eine Stimme spöttisch durch die Scheiben, und draußen stand ein Schafhirt aus dem Dorf, ein Kamerad des Mathies, den ich schon einige Male im Geschröff getroffen und der im Siebenquellenthal an diesem Tage die letzten Schafe zusammengesucht und eine Strecke tiefer gegen das Thal getrieben hatte.

»So komm' herein und Deine dummen Flausen behalt' für Dich!« antwortete Eva und erhob sich mit verächtlicher Ruhe.

Der braune, sehnige Mensch trat ein und ließ sich von der Dirn mit Milch und Brot bewirthen. Auf mich warf er einige schiefe Blicke und schien mit Absicht einen Gruß zu meiden.

»Wann kommen Eure Knechte heim?« frug er Eva, – »es muß noch Einer mit mir an den grauen See! Ich höre dort ein Schaf in einer Spalte und bring's allein nicht heraus.«

»Hat sich's elend verfallen? . . . dann geh' ich selber mit!« antwortete sie.

»Das nicht; es steht und grast dadrunten.«

»Dann warte! 's wär' freilich auch bald Zeit für heute! Die Sonne steht ja schon am Wetterzacken. Bis Einer am grauen See ist, wär' es Nacht. Mußt halt bis morgen dableiben; vor Neune kommen Unsere so nicht heim! Kannst oben bei ihnen schlafen in der Kammer!«

»Und wo schläft Der?« – frug jetzt der Schafhirt höhnisch, mit dem Daumen über die Schulter nach mir hin zeigend. 224

»Der?« – schrie ich und sprang auf, fast glücklich, daß mich Jemand zum Aeußersten brachte, – »Der bringt Dir noch vor Schlafengehn Dein freches Maul zur Ruhe, Hund!«

»Was meinst'?«

Im nächsten Augenblicke lag ich mit dem Menschen auf der Erde, die Gurgel umkrallend, die das Mädchen angegeifert hatte. Er schlug mit seinen harten Fäusten einen Augenblick draufzu, dann griff er wie verteufelt nach dem Halse, wo meine Finger unerbittlich seine Gurgel preßten. Eva war vom Stuhle aufgesprungen und stand über uns. Den Hund, der wüthend auf uns springen wollte, hielt sie mit beiden Händen kaum zurück; entsetzt schrie sie: »Herr Fermont! . . Lorenz! auseinander!«

Der Kerl war allbereits bezwungen. Er fuchtelte nur noch mit den Händen in der leeren Luft.

»Willst Du hier Ruhe halten, wenn man Dir ein Obdach gibt, und gleich Dein giftiges Maul bezwingen?« fragte ich.

Der Trotz stieg wieder in das böse Faunsgesicht. Er machte noch einmal verzweifelte Versuche emporzuspringen.

»Sag' ja, Du Hund! oder ich schlage Dich lendenlahm!« . . und ich würgte den Niederträchtigen, bis er sich ergab.

Wie eine überrumpelte Bestie, die unerwartet ihren Meister gefunden, kroch er vom Boden auf und glitt hinter seinen Tisch.

»Kerl! hüte Dich vor mir und lauf' mir nicht sobald wieder in die Quere!« drohte ich ihm mit der 225 Faust; dann ergriff ich auf einen Wink des Mädchens meinen Hut. Mein Bleiben hätte die Lage für sie unhaltbar gemacht. Wenn ich ging, so wurde sie allein leicht für den Rest des Abends mit ihm fertig. Wir sagten uns vor seinen Augen wie im stummen Einverständniß unbefangen höflich gute Nacht, und ich schritt davon.

Kaum draußen aber, lag die Scene, die mir unverhofft das ungestörte Zusammensein mit Eva abgeschnitten hatte, wie leer, verpufft schon hinter mir, ja, war wie nicht geschehen, und ich empfand nur noch die plötzliche Hemmung jener größeren Gewalt, die vorhin ihrem Ausbruch nahe gewesen war.

Eine Wuth des unausgelebt Zurückgedrängten kam jetzt über mich.

In wilden Schritten stieg ich durch den Wald hinab. Mein Kopf, statt durch die Luft des Abends abgekühlt zu werden, wurde von einem plötzlich erwachten Föhn, der wie an einem Sommerabend niederstrich, nur heiß und heißer. Ein blindes Treiben war in mir. Wohin? Zu was? Kopflos strebte ich waldab und weiter. Die Nacht brach allgemach herein. Kaum merkte ich es. Das Toben meines Blutes im Innern, unter mir in finsterer Schlucht des Bergstroms Tosen, kletterte ich über ein schmales Felsenband, das ganz abseits vom rechten Weg, mich schneller in die Tiefe führte. Ich achtete kaum der Fährlichkeit des Weges in diesem Dunkel. Ich sann – und raste. Bedingung! fühlte ich es, Bedingung meiner Natur, daß etwas Großes, etwas Maaßloses geschehen mußte, 226 daß ich ein ungeheures Erleben brauchte, wenn ich, aus der langen Starre wild erweckt, jetzt überhaupt wieder weiterleben sollte.

. . Da – um die Ecke eines Vorsprungs biegend, höre ich plötzlich majestätisches Gebrüll. Den trotzigen, gewaltigen Laut von streitenden Hirschen. Und wie ich auf den mondbeglänzten Felsenrand hinsehe, erblicke ich auf dem schmalen Pfade vor mir zwei starke Hirsche mit verhängten Geweihen wüthend im Kampf, und über ihnen am Hang, dem obern Waldsaum nah, die Hirschkuh, die in unbeweglich starrer Ruhe ihren Kampf verfolgt. Ich halte an und schaue dem grausigen Ringen auf Tod und Leben zu. Von oben saust der Föhn auf sie hernieder. Sie streiten, stoßen, bohren, hacken zu, bis der Eine hart am Rand des Felsens fällt und überschlägt und wie sie mit den ganz vergabelten Geweihen ineinanderhingen, den Andern jählings mit zur Tiefe reißt. Ich höre sie fallen, kollern, über Fels- und Rasenbänder, ich höre knickende Gebüsche, rollende Steine, ein kurzes entsetztes Blöcken drunten in der leeren Luft, und unten tief einen dumpfen Fall mit einem letzten häßlichen Gestöhn. Dann noch einmal ein fernes schwaches Schreien . . . und sie treiben erschlagen im Wasser zu Thal: zwei Opfer ihrer wilden Brunst.

Von droben heulte der heiße Sturm durch alle Klüfte, den nächsten Tagen Schneefall kündend. Entfesselter noch als zuvor begann mein Blut zu kochen. Das grimmige Schauspiel hatte es vollends entzündet. Mit Mühe kletterte ich am starren Gestein hinab. 227 Mein Aug sah roth. Sinnlos war ich und sinnlos bin ich noch zu dieser Stunde. Aber ich will nichts wissen, ich will nichts denken! Eva! schrie es immerzu in mir: auf morgen! . . . . .

Uebers nächtige Feld hin stürmte ich nach meinem Thurm. Föhnwolken traten vor den Mond, und laue Dämmerung umhüllte lüstern die Weite. Vom Dorfe schlug es Neun. Ich nahte dem Kastell.

Da trat mir aus der Thüre Beppo entgegen, merkbar mit einem Anliegen meiner harrend. Der!

»Was willst Du?« . . herrschte ich ihn an.

»Ich warte schon, seitdem es dunkel ist! Ich muß Sie warnen« . . .

»Was? . . vor wem?«

»Ja . . ach . . Herr Fermont! einmal muß es ja doch sein, daß ich mich's trau und rede: ich habe an dem Mathies, der die Evi hatte, längst etwas gemerkt und hab' drum aufgepaßt! Ich sage Ihnen: der Mensch weiß Alles! . . und jetzt gar, heute Nacht« . . .

. . »Was? Alles wissen!« . . schrie ich – »was denn weiß er? Und was weißt Du?« . . Die Wuth stieg mir zu Kopf. Kam dieser blöde Junge hergelaufen: mich zu warnen! Haha! grade recht!

»Pack' Dich zum Teufel, naseweiser Bengel!« – schrie ich, wies wüthend mit der Hand zum Weg und schlug gleich drauf die Thür ins Schloß . . . . . . . 228

 

5. November.

. . . . . . Eine Nacht! Es rieselte Feuerströme vor meinen Blicken, Gesichte gaukelten vor meinen wirren Sinnen, Augen sah ich, die Gewährung verhießen, und Arme umschlangen mich, – Wahnsinn wie nie hat mich geschüttelt.

Und mit dem Morgen raste ich hinaus. Schwüle wie an einem Julimorgen lag immer noch in den föhnigen Lüften. Meine Gedanken schienen vertrocknet, meine Glieder waren von bleierner Schwere erfüllt. Dabei das Drängen, Toben im Herzen und im Kopf! . . .

Tagsüber hielt ich mich erst wieder auf der Lauer. Der Hof blieb still. Um die vierte Abendstunde ließ ich mich hinab. Die äußern Dinge hatten begonnen, übersteigerte Bedeutsamkeit für meine Sinne anzunehmen. Größer schienen mir die Strunke am Weg, ungeheuerlicher ihre Fratzen als sonst, und die Felsen, wie riesenhafte Menschenleiber geformt, schienen stumm zu locken, zu hetzen.

Dämonische Stunde! wo mitten im dumpfen Drängen der Leidenschaft auf kurze Sekunden wieder das Bewußtsein den Nebel der Sinne durchbricht: daß wir im Zuge sind, Schlechtes zu thun und wider unsere innerste Stimme zu handeln, – wo ein Hellsehen blitzt: daß nachher ein Zustand komme, der unwiederbringlich die Ruhe der Seele verzehren wird! Aber deßwegen abstehn? O nie! Man will, man muß! Und keinen Entschluß zum Widerstehn mag man fassen! 229 Die Augen zupressend, die Ohren verhaltend, störrig – die Bestie im Menschen – stürmt man drauf zu, mit wachen Sinnen sich blindlings dem Fatum überliefernd.

Wie Geister mit heimlichem Flügelrauschen zieht in solcher Sekunden Flucht noch einmal Alles vorüber, was sich zutraut, mit oftgehörter Stimme an unser besseres Ich zu dringen. Das warnt, das droht, das will mit edlem Vertrauen zur Umkehr verpflichten! . . Nichts! Nichts! Sinnlos, unaufhaltsam rast die Leidenschaft dahin!

Und was sich braute – ist auch geschehn!

Mit unruhigen Blicken empfing mich Eva. Ein Gemisch von Schreck und Bewunderung lag auf ihren Zügen, während ich mich niederließ, sie mit den Augen verschlingend. Mein Anblick, das fühlte ich, war ihr beklemmend. Sie stand in einem Bann. Etwas – schien mir in ihr zu tagen. Das reizte mich vollends. Unerwartetes Erkennen seiner überlegenen Gewalt treibt den Starken zum frevelsten Wagen.

Sie ging ab und zu. In der Ecke der Küche, dem Stalle zu, war ein Haufen trockenen Laubes hochaufgeschichtet, und sie füllte damit weite Säcke, zu Lagern für die Jäger, die in diesen Tagen zur Gemsjagd hierherauf rücken wollten.

»Ist der Schafhirt im Weiten?« fragte ich, da ich einen Rucksack mit einem Steinkrug unter der Wandbank bemerkte.

Sie nickte und schwieg.

»Kommt er wieder, zur Nacht?« 230

»Ich mein' schon!«

»So hat er Dich gestern dann nicht mehr belästigt?«

»Er hatte zu sinnen,« sagte sie sehr nachdenklich, – »mir schien, er sann Böses!« . . und ein besorgter Blick streifte über mich hin.

»Mir Rache? . . nun wohl, die warte ich ab!«

»Sie sind zu kühn, Herr Fermont!« rief Eva, und ein neuer Blick von ihr umhüllte mich förmlich, als sollte er mich schützen.

»Sie kennen unsere Bursche noch nicht! Ist Ihnen was aufgekreidet bei denen, so ruhen sie nicht, bis sie Gelegenheit schaffen, die Sache zum Austrag zu bringen!«

Ich lachte.

»Da, sehn Sie, brachte mir dieser Lorenz gestern höhnische Grüße von ihm!« . .

»Von Mathies?«

Sie erröthete jäh. »Woher wissen Sie den Namen?«

»Ich kenne ihn ja jetzt!«

»Und er auch Sie!« rief sie bedeutungsvoll. »Er wolle nur warten, ließ er mir sagen, bis es Platz gäbe vor den herrischen Besuchen, dann wolle er schon einmal kommen und mir zeigen, daß er wisse, wo ich jetzt zum Heimgartnen zu finden sei! Und wenn ich etwa denke, er scheue den Karhof wegen Vergangenem, so solle ihm dann siebenmal die Woche der Weg durch's Revier nicht zu viel sein! – So sind diese Bursche, sehn Sie! Weil Keiner erreicht, was er möcht', so halten sie jetzt Alle zusammen und machen einander die Boten mit giftigen Reden!« Und 231 zu eifern begann sie, zu drohen, mit einer Gluth, die sie schöner und schöner machte.

Ich reizte sie, ich weidete mich an diesem Anblick. So stolz und dabei unbewußt so herrlich sinnlich hatt' ich sie noch nie gesehn!

Draußen verglomm allmälig der Tag. Bald zündete sie auf dem Heerd ein mächtiges Feuer an, dessen große Scheite in die schwarze Küche flammende Helle brachten, und bereitete das Abendbrot. Wir aßen Beide davon nur wenig; stumm saßen wir uns gegenüber. Die Dinge wuchsen. Meine Blicke unverwandt auf sie gerichtet, sah ich ihr zu, wie sie die Mahlzeit wieder auf die Seite räumte.

Wie war auch sie jetzt still!

Sie nahm die Arbeit wieder auf, hielt wieder inne, brachte stoßweise, mit abgerissenen Worten wieder vor, was sie erfüllte. Und ich – ich trieb sie teuflisch in die Gluth der Sinnen, sie zum Geständniß lockend, was sie an Liebe im Leben schon gefühlt. Ein Schauspiel – Widerstreit von Sinnengewalt und stolzer Ehre – berauschend für meine lodernde Gier! Sie stammelte . . . sie hielt zurück. Ein gluthiges Leben strömte in allen Adern dieses schönen Weibes. Plötzlich sprang sie auf. Trotz flammte aus dem herrlichen Angesicht, Trotz schwellte ihre hocherhobene Brust. Sie warf die Fäuste in die Luft: »und wenn es Mathies noch nie erfahren hat, daß sich ein Mädchen selber gegen Einen wehren kann, der gar nichts scheut und keinen Teufel fürchtet, dann . . . zeig ich's ihm!« Vom Heerde lohte es hinter ihr empor, von 232 Scheiten, die zusammenbrachen, und umstrahlte sie mit rothem Feuerglast. Hoch bäumte sich ihre Gestalt auf diesem Gluthenschein. Das war mein Augenblick! Aufspringen und sie packen war das Werk des nächsten. Die Arme um ihren Leib geschlagen, preßte ich sie an mich, hob sie hoch empor und küßte, küßte wüthend ihre Lippen. Ich taumelte vor Sinnenglühn, . . . ich taumelte mit meiner Beute jener Ecke zu . . . da fühl' ich einen Schlag, mir mitten ins Gesicht gegeben. Sekundenlang besinne ich mich, die Bürde auf dem Arm, erstarrt, . . . in meinem Kopfe einen dumpfen Schwindel, . . . dann laß' ich los. Und bleich vor Schrecken, Scham, Empörung, richtet sich das Weib vor mir empor.

»So! – – so?« entringt es sich ihren bebenden weißen Lippen – »so . . machen Sie es mir? . . Das also heißen Leute Ihrer Sorte Freundschaft!« . . Einen Augenblick hielt sie inne, als müßte sie erst fassen, sich nochmals bestätigen, was eben geschehen war, dann klagte sie: »Oh! oh! Herr Fermont, Sie können das? . . Sie! . . . gegen mich! . . gegen so ein verjagtes Ding!« Und damit brach sie am Tische zusammen, begrub ihr Gesicht in beide Arme und schlug ein krampfiges gelles Weinen an. Halb klang es wie wahnsinniges Lachen.

. . »Was« – schluchzte sie, – »kann denn um Jesumariäwillen Unsereines thun, daß sich nicht jeder hergelaufene Mensch an ihm vergreift!« . . .

Ich stand . . und starrte sie an. Vom Heerdfeuer drüben lohte es über sie wie Höllenbrand. 233

Einen Augenblick wußte ich kaum mehr, wo ich war; dann sank es nach dem höchsten Taumel meines Blutes langsam wie Eiseskälte in meine Glieder. Eva erhob sich, zögernd, und wandte sich von mir weg. Ich folgte ihr . . nicht wissend, was zu thun.

Da blieb sie stehn, erhob ihr Haupt und blickte mich an; groß und erschütternd: – sie hatte mich unbewußt geliebt! Jetzt wußte sie es.

Und ohne einen Laut gingen wir auseinander.

 

6. November, Sonntag Abend.

In meinem Thurme sitze ich, die Thüre verriegelt, und blicke auf die wahnwitzigen Blätter, die mich Schlaflosigkeit zu schreiben trieb: fortdauerndes Zeugniß dieses Tages, an dem in mir der alte Dämon grinsend noch einmal sein Haupt erhoben hat.

Am Feuer kauernd, suche ich vergebens Schutz vor einem Schauern, das von innen kommt, aus meiner schuldbeladenen Brust, die ihres stummen Selbstgerichtes Qualen leidet.

O wie der Mensch umlernen muß am Leben, wo Trotzen gegen höheres Gesetz ihn irregeführt!

Zehnmal verflucht die Fessellosigkeit der Sinnen!

Der Blick voll Schmerz und Wuth, der mich aus Eva's Thränen traf, verfolgt mich, Furienmacht verletzter Weibeswürde, wohin ich fliehen mag, und übt mit seiner furchtbaren Gegenwart grausame Rache. Schlaf raubt er mir und Ruhe, nagt im Herzen, weckt 234 mir Scham und Reue, und ob ich meine Augen in die Kissen presse – er ist da!

Die Rohheit, die den Zügellosen überfällt, hat mich entwürdigt! Und weinen sah ich, weinen! was ich liebte, mißhandelt durch die Willkühr meiner Sinnlichkeit. So tief mußte ich gerathen, mußte an einem Opfer sehn, wohin das trotzig selbst ertheilte Recht führt: Alles auszuleben, was sich in mir regt! Jetzt, an der Qual der nachgefolgten Selbstverachtung lerne ich erkennen: wie des Gewissens stilles Richteramt sich niemals ungestraft mißachten läßt, und tiefen Sinn entdecke ich, wo ich sonst Widersinn verhöhnt.

Wohl mußte Der, der uns die Sinnenliebe gab, damit sie diese Welt erhalte, ihr gleich ein regelndes Gebot zur Seite setzen! Denn, unbeherrscht von Wille und Gesetz, ist sie geartet nur dem Trieb zu folgen, und – sei er schönheitsdurstig oder roh, – er greift doch immer frech in fremde Kreise ein! Wie ich gethan!

So sehe ich die Moral, die ich verlachte, hervorgegangen aus Nothwendigkeit und tief erkenntnißvoll bemüht, – was meinen eigenen Kräften schlecht gelungen ist: ein friedliches Verhältniß herzustellen zwischen jenen Forderungen unsrer sinnlichen Natur und zwischen den Gesetzen einer höhern geistigen Welt, der wir uns angehörig fühlen. Ich muß sie, die ich weggeworfen, anerkennen, ob es mich gleich demüthigen mag! Und ach, doch wollte ich jedes Opfer willig der Erkenntniß dieser Wahrheit bringen, könnt' ich nur ungeschehen machen, daß ein anderes Wesen meinen rohen Irrthum zahlte! 235

Doch That bleibt That. Und Rohheit hinterläßt dies ruhlos nagende Bereuen.

Muß nicht gerade Das als Zeichen einer ewigen Ordnung gelten: daß sich so jede Schuld nach ihrem Wesen straft? – –

 

Montag 7. November.

Ein schwerer Tag, doch ein wie ungeahnt versöhnender! O, Ehrlichkeit ist zwischen warmen Seelen eine wunderthätige Sprache! . .

Es hatte mich nicht mehr gelitten hier im Thurm. Und die Natur, durch die ich Klärung suchend lief, sie rannte mir durch all das Nebelbrauen nur immer düsterere Wahrheit zu. So mochte denn erfolgen, was da wollte: ich mußte hinaus, ich mußte sie sehen, ich mußte ein Wort, ein einziges, von ihr selber hören! Wohl mir – und wehe! daß ich's that. Denn nun ist auch beschlossen: Eva geht nach Amerika.

Sie, die sich so vor fremdem Geld gehütet, nimmt das meine – als schönstes Zeichen der Verzeihung. Wie großgeartet zeigte sich dies Herz! Vor meiner Reue, die sie tief empfinden mußte, ist in ihr bald alle Härte gewichen. Ich redete ernst und dringlich auf sie ein, und frei von allem falschen Stolz ließ sie sich auch zuletzt nach meinem Wunsche bewegen.

»Wenn es mir möglich wird, Herr Fermont,« sagte sie in schlichter Weise, – »so schicke ich Ihnen einst mit warmem Vergelt's Gott wieder, was Sie mir da geben!« – in richtigem Gefühl der Lage merkwürdig 236 wenig Gewicht auf den Werth des Geldes legend. Wahrhaftig groß für eine Dirne, die in Armuth steht! Und als die Bäurin, nach dem ersten Staunen der Forderung des Augenblicks nachgebend, ohne Groll die Erlaubniß ertheilte, wie da das Mädchen muthig und entschlossen verhieß, nun aber auch sofort zu fliehn!

Ich sorge für das Schiff. Sie reist durch Frankreich, und ich bitte Jane, sie zum Meer zu geleiten. Dem Oheim hat sie selber unverzüglich geschrieben, daß er sie erwarten soll. Und nun ist mir, als hätte ich den Todtenschein für etwas Liebstes unterschrieben!

. . Als Alles geordnet war, trat Eva ruhig vor mich hin und sah mir tief in die Augen. »Und nun behüt' Sie Gott!« sprach sie mit Festigkeit – »ich sehe Sie nicht wieder! Verwirren Sie mich jetzt nicht mehr; bleiben Sie im Thal, bis ich von dannen bin!«

Ich zauderte. Ich war noch nicht auf Das gefaßt.

Sie merkte es; sie fühlte, daß dieses plötzliche Ende mich erschrecke, und schien nun etwas Unbestimmtes von mir zu befürchten. Eine Röthe schoß ihr in die Wangen. Allem zuvorzukommen, faßte sie plötzlich, sich selbst vergessend, meine beiden Hände und preßte sie leidenschaftlich in den ihren: »Sie kommen nicht mehr hier herauß« wiederholte sie flehentlich, – »versprechen Sie mir das auf Ihre Hand!«

Ich wollte antworten, doch ich sah, sie hatte noch mehr zu sagen, und jede Unterbrechung würde es ihr erschweren. Ihr Athmen verrieth, wie stark erregt sie war, aber sie zwang sich wieder zu ihrer vorigen Ruhe. Den Blick senkend, fuhr sie fort: »Es ist nicht umsonst 237 gewesen, daß Sie hieher gerathen mußten, Herr Fermont; ich danke Ihnen Vieles. Und zuletzt war nun Alles zu meinem Besten. Das von gestern aber« fügte sie leiser hinzu – »ist vergeben! Es sei wie gar nicht geschehn!« Ich drückte ihr die Hand. »Aber Eines!« – und sie erhob warnend ihre Linke – »bleiben Sie auf der Hut vor dem Mathies, wenn ich bald aus dem Lande bin! Der Lorenz, glauben Sie nur, hat nicht geschwiegen! Also aus dem Weg, es ist mein Ernst! Und jetzt . . behüt' Sie Gott und unsre Heiligen!« Ein Druck der Hand, und eh' ich Worte gefunden, war sie aus der Thüre gegangen.

Sie ziehen lassen ohne ein Wiedersehn – das ist die Buße! Ich habe in Wahrheit kein Recht, sie weiter zu beirren!

. . . . Da draußen wehen zum Verzweifeln traurig diese Nebel! Ach, wie es mich in meinen Mauern fröstelt trotz der lohenden Scheite, seit meinem Herzen alles Recht verloren ging, sich an dem Herzen einer andern Menschenkreatur zu wärmen! . . .

 

Dienstag, 8. November.

So hab' ich doch den Einen wieder! . .

Als ich heute spät aus dem Thalgrund, drin ich meine innere Noth zu verwandern gesucht, zum Kastell zurückkomme, sehe ich eine Gestalt im dunkeln Thürbogen stehn. Ich gehe kurzweg auf sie zu, – es ist Beppo! Doch rührt er sich nicht, redet mich nicht an, – er wartet ab. 238

Ich schaue ihm, so, in der Dunkelheit, dicht in die Augen, und er – schaut mir zuerst auch einen Augenblick lang ins Gesicht, dann senkt er, immer noch schweigend, seinen Blick.

Ich öffne ohne ein Wort die Thüre und lasse ihn ein. Sie schlägt hinter uns zu und wir stehn im Finstern. Ich warte, was erfolgen mag. Doch ruhig geht er vor mir her die Treppe hinauf, schlägt oben Licht, wie er immer gethan, und bleibt dann neuerdings abwartend stehn. Seinen zarten Körper durchgleitet ein Beben der seelischen Spannung.

Da sage ich nur schlichtweg: »Beppo!«

. . »Herr Fermont?«

. . »Du kommst also wieder?«

»Ja.«

»Und was treibt Dich her?«

»Ich . . wollte nicht, daß Sie mich holen mußten,« erwiederte er in einem Ton, der zwar bescheiden klang, doch auch merkwürdig fest.

»Hast Du geglaubt, ich werde das thun?«

Er sah mir flüchtig in die Augen, als faßte er einen Zweifel gar nicht.

»Hast Du?« . . .

Ein flüsterndes »ja!«

»Wieso denn weißt Du das?«

Da deutete Beppo stumm und traurig auf sein Herz, biß die Zähne zusammen und blieb so vor mir stehn, zwei Thränen wüthender Verzweiflung in den Augen.

Ich war besiegt. Meinen Arm schlang ich um den treuen Menschen. »Komm, komm, mein Kind, Du hast 239 richtig gefühlt! Wir zwei gehören zusammen!« Ich zog ihn auf die Bank an das alte mächtige Kamin und schürte das Feuer.

Stunden gingen dahin, keine Worte brauchten zu sagen, was sie enthielten. Draußen heulte der Wind um den einsamen Feldthurm, drin schaute an meiner Seite wieder das sinnende Auge des Heimathlosen in die Flamme. Und in meiner Seele wogte ein Uebermaaß, schmerzvoll und drängend, Weh um Verlorenes und Mitleid und Liebe für das Gegenwärtige.

Die Nacht sank tiefer. Keiner dachte an Trennung. Stumm ein Nebeneinandersitzen, stumm ein Fühlen: daß die ungleichen Welten sich dauernd gehörten durch eine höhere Kraft. Das war Beiden genug.

Seine großen Arbeitshände hielt Beppo nach seiner Gewohnheit wieder gefaltet zwischen den Knieen, und mit seinen Schuhen stieß er ab und zu zerstreut gegen die Enden der Holzklötze, die aus dem Kaminfeuer auf die Steinplatten des Bodens herausragten. An der Kalkwand über dem alten Holzwerk aber gewahrte ich riesengroß den Schattenriß seines Kopfes, jene einfachen reinen Linien, die ich an der Mauer des Försterhauses im Kleinen einst hatte entstehen sehn.

Als der Glockenschlag der elften Stunde mit den Windstößen vom Dorfe herüberklang, schrak Beppo plötzlich empor und zählte mit ängstlicher Spannung.

»Es ist elf!« . . er sprang zum Fenster, – »aber finster, stockfinster! Es ist gut!«

»Warum gut?« 240

Er zuckte die Achsel, wie er thut, wenn er mit einem seiner plötzlichen Ausrufe mein Fragen veranlaßt und dann doch nicht Näheres zu erklären wünscht. In der nächsten Minute glitt er aus dem Thurm.

Und ich, noch eine Weile am Feuer stehend, machte die Wahrnehmung, daß, wenn mich diese junge Seele eben verlassen hat, mich in dem herben Gemäuer ein Zurückgebliebenes umgibt, als hätte ein guter Geist hier seinen warmen, reinen Hauch hinterlassen.

 

Mittwoch, 9. November.

Ich stand an den Scheibchen der Söllerthür. Der Wind fegte über das welke Novemberfeld, wie er seit Tagen gethan. Schneewolken stiegen auf, weißfahl im schwergrauen Himmel, und schwebten drohend über den Berghäuptern hin. Ich schaute ihnen zu und lauschte den Lauten des Sturms.

Da sah ich zwischen den Wellenlinien der Feldweite im Osten ein Fuhrwerk langsam, das Dorf umgehend, dem Tiefland zufahren. Ich schaue . . die Nebel verwehen das Bild; sie weichen . . und wieder erscheint es und näher und – ach daß ich nicht hinflog, dem heimlich fortfahrenden Wagen nach! Eva war es! die so in aller Stille von dannen fuhr, klug berechnet um diese späte Morgenstunde, wo ihre Knechte, wo alles Mannsvolk zum Holzfällen im Hochwald ist und die rauchenden Kamine des Dorfes anzeigen, daß die Weiber ihre Mahlzeit bereiten. 241

Kaum erkannte ich sie in der dunkeln Umhüllung, wie sie auf den zwei hölzernen Koffern dasaß! Doch mein Herz war mein Auge.

Ich stand und stand, langsam fuhr sie dahin, langsam bog der Wagen in den Feldweg ein, fuhr ferner und ferner und verschwand dann im grauen verhüllenden Nebel.

In dumpfem Wehbrüten blieb ich an die Stelle gebannt. Einen Augenblick war all' mein Empfinden ein stummer Segen, der der Entfliehenden folgte. Dann plötzlich irrten meine Blicke verzweifelt noch einmal hinaus, eine Spur, nur eine schwache, letzte von Eva zu entdecken – doch draußen braute jetzt wieder die leere Luft. Da wandte ich mich dem Gemache zu. Das lag so dämmerig und schweigend. An den mächtigen Pfosten, der die Decke stützt, habe ich mich hingelehnt und geschlossenen Auges den bittern Kelch der Stunde getrunken. 242



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