Walther Siegfried
Fermont
Walther Siegfried

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Aufzeichnungen Fermont's wiederbeginnend

4. April.

Das Buch Natur, das mir das Letzte, das mir Alles war, ist mir seit jener unheilvollen Nacht im Herbst, da ich zu tief darin geforscht und allzu Niederschmetterndes daraus gelesen, ein Blätterheft voll todter Buchstaben, inhaltloser Worte.

Da nun des Winters starre Zeit gebrochen ist, und ich aus meinen Mauern trete, die mich so lange wie ein Sarg umschlossen, wandere ich wohl wieder durch die Schöpfung, weil ich wandern muß, und sehe wieder, weil ich Augen habe; doch was ich sehe, sagt mir nichts.

Ich stehe hier am Fenster meines Thurms und schaue in die Felder, die ein lauhes Wehen über Nacht ergrünen ließ. Die jungen Blumen heben ihre Kelche auf zum jungen Licht, die ersten Lerchen jubiliren in den Lüften, der Bach zu meinen Füßen rauscht jetzt voll und schneller und zieht mit lautem Murmeln durch das Blüthenland, und an den ewigen Firnen zittern warme Schauer. Mein Auge sieht's, es hört's mein Ohr – doch das Gehirn nur faßt es; meinem Herzen sagt es nichts! Fühllos und starr steht heut mein Inneres vor den Wundern dieses Werdens, fühllos 93 und starr am Rande dieses Wassers, das, ein Symbol des ewigen Stromes der Natur, mir ehedem die Fluth des Denkens und Empfindens hätte wecken und mit sich fort in's Weite ziehen müssen, Entflohenem nach und hoffnungsvoll viel neuem Künftigem entgegen.

. . . Die feierliche Morgenstille, all' die ahnungsvolle Weite, sie schließen mir vollends den Busen. So großem Schweigen liebte ich von je die tiefste Antwort zu entschöpfen. Bis zu der Nacht, da mir das größte Schweigen hehrer kalter Urwelt jene tiefste Antwort gab. Da ward ich unzugänglich für dies stille Feierprangen der Natur, das mit der trügerischen Macht des Scheines nun zu Andern reden mag und ihnen predigen von der Schöpfung Herrlichkeit und Güte!

. . . . . . Horch! unter'm Thurm dies häßliche Geschrei, das schnell das gleißnerische Friedenathmen Lügen straft! Ein Greis stößt einen Karren, schwer mit Holz beladen, her durch's Feld. Der Kopf ist ihm von langer Last des Lebens auf die Brust gesunken. Er schwankt daher, geduckt und stumm, und schleppt zu seiner Bürde auch des Alters letzte Last: Gebrechlichkeit. Achtlos für all' das Glänzen um ihn her, lenkt er mit harter Mühe seinen Karren durch die ausgefahrenen Geleise dieses Feldwegs. Da rennt von hinten, wie gehetzt von Haß und rachedurstigem Geifer, ein altes Weib, verhärmt, zerlumpt und häßlich, mit nackten dürren Beinen quer durch's Feld in seine Nähe.

»Du Hund! Du Tropf!« schreit sie – »kriechst Du auch wieder hervor aus Deinem Loch, weil's wärmer 94 wird? Fuchs, alter! Todtengeripp, elendes! So hat's Dich gar bei einem solchen harten Winter noch nicht weggeputzt! O Du vermaledeiter Sünder, Du geknickter, grauer! Da, stiehl Dir wieder einen Karren Holz zusammen, dadrauf kommt's jetzt auch nimmer an! Mich armes Weib hast Du um baare hundert Gulden gebracht! Und hattest sie doch meinem Mann, Gott hab' ihn selig, auf die Hand versprochen! Um hundert Gulden! Hörst Du?« schreit sie ihm nun dicht von hinten in's Genick. »Hund! Hund! Oh . . . Du!« – und bleibt darauf, die knochige Faust in greisenhafter Wuth aufwerfend, stehn.

Und er – stößt seinen Karren weiter, ohne eine Miene in seinem welken, faltigen Gesichte zu verändern, das nur für die Last da vor ihm Aufmerksamkeit verräth. Er hat von Allem gar nichts wahrgenommen: er ist vor Alter taub! . . .

Ich schaue nach ihr: das Weib ist so verschwunden, wie sie kam.

Der Alte wendet sich zum Dorf. Die tiefe Stille kehrt zurück. Des Baches Wellen einzig murmeln wieder, und eine Schaar von jungen Staaren fliegt mit kindlichem Gezwitscher dort aus einem Acker auf.

. . . . . So ist ein Menschenpaar mit seiner niedern Qual durch diese Frühlingslügenpracht gegangen.

 

8. April.

Die Monde, dachte ich, würden für mich ohne Neues nun so weiter ziehn, wie sie seit jenem Tag 95 dahingezogen, als der Schnee mir über Nacht erwünschte Wälle um die kleine Welt gebaut, und in die immergleiche graue Dämmerstille meines selbstgewählten Kerkers kaum jemals ein Laut von Außen, nie ein fremder Eindruck drang. Jedoch ich muß am eigenen widerwilligen Fleisch und Geist erfahren, daß ein Mensch dem eingeborenen Wesen seiner Gattung nicht entrinnen kann. Der Körper, der nicht mehr mit sich gerechnet, das Herz, das sich aus eigener Wahl für todt erklärte, sie fühlen Beide, wie ein Neues täglich neu anstürmend ihre Starrheit brechen möchte.

Die Erde hat sich nun schon ganz mit frischem Grün bedeckt; ringsum ertönen Laute, die nicht abzuwehren sind, die Einem, der sie hassen möchte, in die Einsamkeit der Einsamkeiten folgen würden, ihm das Lied vom Auferstehen der Natur zu singen. Und mein lebendiger Geist, so sehr er sich auch sträubte, kann sich nicht länger wehren, wohin er schaut, im großen Wesen dieser rings sichtbaren Welt wahrhaftige Wunder zu erblicken, die sich selber predigen: als Offenbarungen eines Schöpfers, der in ihnen wenigstens erstaunliche Ordnungen geschaffen.

Und da ich wider Willen diese Dinge sehen muß und sie erkennen, so zieht es mich aus Nacht und Mauern langsam wiederum hervor. Schon find' ich mich des Oeftern auch zur Tageszeit im Freien, abgelegene Winkel dieses Thals durchstreifend und forschend, wie die Schöpfung zu mir sprechen möchte.

Kehre ich am Abend dann in meinen Thurm zurück, beschlichen vom Bedürfniß, das Geschaute und 96 Herangedrungene abzuschütteln und mich in meines Herzens Groll auf's Neue zu versenken, so will es manchmal nicht gelingen, wie vordem. Ein Neues möchte sich drängen zwischen mich und meine eigene starre Welt, in der ich bis dahin die einzige Möglichkeit zu leben fand. Doch – was kann daraus werden, überließe ich mich dem Neuen! Noch bin ich tief im Alten, und was lasse ich mich blenden von einem jungen Lenzgewand der Welt, die doch die alte ist!

 

17. April.

Ich muß mich wundern, wie die Leute dieses Thales mir das Gefühl der Einsamkeit viel weniger stören, seitdem ich sie von Nahem sehe und ihr Wesen kennen lerne. So lange lebe ich zunächst vor ihren Stätten im Kastell, durchstreife ihre Berge, treffe ihrer Einzelne im Hochwald droben oder auf der Heimkehr da im Feld, und niemals hat mich Einer mit der Neugier Fragen angehalten. »Ein Fremdling!« – das genügt, mich meine Wege ohne weiteres Forschen gehen zu lassen. Fast merkte ich nicht mehr, daß diese Wesen, die ich treffe, der verhaßten Gattung angehören, die sich Menschen nennt.

Ich dachte auch, der Zustand meines Innern müßte wo nicht gar durch meine Kleider eisig an die Andern wehen, so doch auf meiner Stirn zu lesen sein und Alle scheu aus meiner Nähe schrecken. Doch scheint dem gar nicht also. So einsam ich auch meine Pfade suche, wie bisher, und wenig Dessen achte, der vorüberkommt, 97 so scheint doch etwas von mir auszugehen, was sie anzieht. Das stumme Achten meiner Abgeschlossenheit will, wie ich jetzt bemerke, einem unbeholfenen Bezeugen ihrer Vertrautheit mit meinem Anblick weichen, und Wenige lassen mich mehr ungegrüßt vorübergehen. Am Anstieg des Gebirges droben, bei einem kleinen, waldumgrenzten See, hat mich ein betagtes Weib sogar mehrmals gebeten, doch auf der Bank vor ihrer Hütte bei ihr zu rasten, bevor ich aufwärtsstieg. Mit Augen, drin ein ungewöhnlich gutes, stilles Feuer lebt, sieht sie mich an; mit Augen, die mir stumm zu fragen scheinen: gewiß ein Mensch mit einem Kummer? Die Alte scheint mir lebensreif und doch von Kinderart.

 

20. April.

Ein seltsames Menschendasein, das sich unter dem niedern, steinbeschwerten Hüttendach der Alten birgt, am Bergsee droben!

Seitdem sie mich heranrief, mich fast wider meinen Willen in die Hütte führte und Einblick in ihr Leben nehmen ließ, getrieben von ich weiß nicht welchem Zug zu mir, entdecke ich mich ab und zu aus eigenem Antrieb auf dem Weg zu ihrer Schwelle.

Wie engumgrenzt ist Alles dort, und darinnen welche Welt! In dieser Frau ein Menschenloos, den vollsten Menschenloosen gleich.

Ein argloses Kinderherz, dazu gemacht, das Gute und das Schöne froh zu lieben, ist sie mit unbegreiflicher Grausamkeit an ein fast unerträglich freudloses 98 Dasein gekettet; sie, die in allen Aeußerungen Liebesfülle zeigt, an einen Mann gebunden, der ihr Wesen roh mißhandelt. Denn er, eine Natur, die Brutalität und Schwäche in häßlich unvermitteltem Gemische zeigt, ist mir so recht ein neues Dokument der Schöpfergüte, die solch ein Menschenwesen voll von angeborenen Fehlern werden ließ, zu seiner eigenen und zu Anderer Qual. Schon von verkommenen Eltern stammend und in Trunkenheit gezeugt, hat er sich während seines Lebens zum Ererbten noch mit angenommenen Schrullen vollgesteckt. Und also plagt er nun, lieblos und stets mit seinem Schicksal hadernd, auch noch Jene, die seine Erdentage in dem engumzogenen Kreise mit ihm theilen müssen. Ein elender junger Mensch, der ganz verwachsen, unter vielen Geschwistern in der Armuth der elterlichen Hütte ein trauriges Dasein zu erwarten hatte, ist als angenommenes Kind von klein auf dieses alten Paares Genosse. Eine barmherzige That der Frau, die so der eigenen weggestorbenen Kindlein Angedenken weihte.

Seltsam und je nach Laune wie er, ist auch die Thätigkeit, womit der Alte unter Murren sich sein Brot erwirbt, vom Sohne still und scheu bedient, derweil die Frau auch dieser Arbeit wie dem ganzen harten Leben noch hundert eigenartige kleine Freuden abgewinnt, ein jedes, was sie thut, mit ihren guten suchenden Gedanken, mit ihren kindlichen Empfindungen umspinnend.

Sie fertigen aus Federn der mannigfaltigen Vögel dieses Berglands, die die Jäger ihnen bringen, schmucke 99 Büsche an, von allen Sorten, für die Hüte der Bursche und Mädchen dieses Thales und der Nachbardörfer. Sie stopfen Adler, Geier, Weihe aus und kleinere Thiere, sie machen künstliche Blumen für Kirchen und Kapellen und setzen Beerengeist und Kräuterwässer an. So leben sie – er nennt sich Othmar, sie Veronika, der bleiche Jüngling Vitus – in läßlicher Thätigkeit und abgetrennt vom Volk des Thales ein eigenes Leben, versteckt mit ihrer Kuh, den Bienen und dem Taubenvolk der Frau im Schatten ihrer alten Ahornbäume an dem kleinen dunkeln See.

 

21. April.

Dem Frühlingsprangen, das mir schon vor meine Mauern unwillkommene Blumen streute, ist ein später Wintersturm gefolgt. Hoch deckte über Nacht der Schnee auf's Neue alles Land, in undurchdringlich dichten Wolkengeländen war die Bergwelt rings verschwunden, das Leben, das sich allerorten schon gerührt, auf einmal wieder ganz verstummt.

Als sich aus solchem düstern Tag ein reiner Abend löste, schritt ich hinaus und suchte angetretene Pfade, mich in dem stillen kalten Prangen zu ergehn. Im Westen lagerte, da sich das schwere Schneegewölk verzogen, jene kühle grünlichgelbe Helle, in der die härtsten Wintertage sonst zu Ende gehn.

In meinen Mantel eingehüllt, war ich so während Stunden kreuz und quer gegangen; da führte mich, von einem Schlitten angebahnt, ein Pfad von außen 100 um das Dorf herum auf meinen Heimweg nach dem Thurm. So kam ich an dem kleinen Kirchhof vorüber, der vor den letzten Häusern draußen liegt, am untern Feld, umfriedet von einer hohen hundertjährigen Mauer. Am Eingang steht, vom Sturm der Zeiten altersgrau und müde gewettert, die kleine Todtenkapelle, in der von je Geschlechter um Geschlechter die Menschen dieses Thales ihren letzten Erdengruß erhielten, bevor man sie in dieses Kirchhofs stillen Ruhbezirk hinabgesenkt. Daneben stand das niedere Mauerthörlein ungewohnterweise nur halb angelehnt, und durch die gewölbte Oeffnung sah ich am andern Ende des abgeschlossenen Ortes über die dunkle Mauer hinauf in den dämmernden Abendhimmel einen großen Christus ragen. Die feierliche eisige Ruhe lockte mich hineinzutreten und aus der Nähe einen Blick zu thun in die Stätte Derer, die vom Dasein ruhen.

Ich machte einige Schritte in dem hochumschlossenen Ort. In wirrer Menge ragten da die niedern Kreuze, schwarz, vergoldet oder rostig, aus dem Schnee empor, durcheinander stehend, bald gradauf, bald schräg, bald umgesunken. Und statt daß ich ein Bild der Ruhe erschaute, wollte mich's bedünken, als sei ihrer Jedes hier der Ausdruck dessen, was sich unter ihm berge und was noch keineswegs Ruhe habe. Mein Blick blieb überrascht auf diesem Chaos haften, und immer mehr . . . und immer deutlicher hatte ich den beklemmenden Eindruck: als läge in ihrem Ragen, Zueinanderstreben und Sinken eine qualvoll ohnmächtige Anstrengung von stummen Gegenständen, zu einander 101 zu reden! Als strebten diese scheinbar unbelebten Dinge in gegenseitiger Mittheilung dessen, was sie deckten, nach Erlösung.

Die Todtenstille dieses abgeschlossenen Orts vollendete das Grauen. Und über all dem niederen Gewirr stieg dort vom Rand der hintern Mauer das schwarze Kreuz mit seinem riesigen Christus in die bleiche Luft, und über des Erlösers nackten Leib hin spielten fahle, kalte Lichter. Ich stand und schaute lange Zeit, gebannt, ich wußte nicht durch was, und ganz erfüllt von etwas Unbestimmtem; von einer Art von Grauen, das ich längst verloren wähnte, und von ehrfurchtvoller Scheu, die ich mit Widerwillen spürte. Ich schaute . . . starrte auf den Ort, den Christus und den immer bleichern Dämmerschein.

Auf einmal hallt ein Ton, ein kurzes Husten innerhalb der Mauern. Ueberrascht blicke ich schärfer in den tiefen Schatten, der von dem hohen Gemäuer einwärts in den Friedhof fällt. Und eine Gestalt wird mir da vorn langsam erkennbar, die ich bis jetzt nicht wahrgenommen hatte und die auch sichtlich meines Kommens Tritte auf dem Schnee noch nicht gehört. Ein blutjunger Handwerksbursche, halb den Rücken gegen mich gekehrt, der dort im Schnee stehend, unverwandt zu dem Christusbild aufschaute. Seinen Hut hatte er auf dem Kopf behalten, den Wanderstab hielt er in den herabgesunkenen Händen. Jetzt trat er einen Schritt zurück, und sein Antlitz zeichnete sich, aus dem Schatten der Mauer steigend, auf den lichteren Himmelsgrund. 102

Ein feines braunes Köpflein von den reinsten Linien und ruhend auf fast überschlankem Halse; das dunkle schwere Haar tief auf die Stirn gefallen. Ein heller Hut, wie ihn die Leute dieses Thales nicht tragen, war wie zum Ruhen nach dem langen Wege weit zurückgeschoben.

»Warum Der nicht baarhäuptig vor dem Christus steht?« denk' ich und sehe eine Weile diese rührende Gestalt an, wie sie im Anblick dieses Crucifixes ganz verloren steht. Auf einmal sehe ich, wie ein Beben seinen Leib durchfliegt, der Bursche seinen Stab zur Erde gleiten läßt, das Haupt voll Grimm erhebt und plötzlich gegen diesen Christus droben beide Fäuste ballt. So steht er einen Augenblick. Dann bricht er, sein Gesicht mit beiden Händen deckend, in ein leises krampfiges Weinen aus.

»Der trotzt dem Gotte!« – zuckt es wie verwandter heißer Strahl durch meine Brust; doch dieses Menschenherz in seinem dunkeln Augenblick nicht aufzustören, wollte ich mich schnell und still aus diesem Ort entfernen. Da wendet sich der Bursche um, und einen Augenblick lang treffen sich die Blicke. Halb überrascht, halb ruhig-sicher, dunkel und inhaltvoll war der seine. Sie halten sich wie in seltsamem Trotz eine Weile aus, tief . . . groß . . . so, als verstünden sie sich; dann wende ich mich um, dem Unglücklichen den Eindruck zu ersparen, als hätte ich etwas von dem Vorhergegangenen gesehen, schreite langsam gegen das Thörlein und gehe davon. . . . .

Den Kopf von diesem Eindruck voll, kam ich zurück. Und nun kam mir auf einmal heiß der Wunsch: ich 103 hätte diesen Menschen angesprochen und einen Blick in seine Innenwelt gethan.

 

22. April.

Der Bursche ist noch hier im Ort. Ich sah ihn in dem Hausgang eines Bauern Suppe essen.

 

23. April.

Sie haben ihn zusammen mit einem häßlichen, zerlumpten alten Strolchen, der gebettelt hatte, heute um die Mittagszeit gebunden in einiger Entfernung von mir abgeführt, nach einem nächsten Orte, wo das Gericht für diese Gegend ist. Ich wollte laufen, nach der Schuld zu fragen, die er begangen haben sollte. Doch kam ich schon zu spät. Sie packten Beide eben auf den Schlitten eines Bauern, und dort vor meinen Augen ging es im Galopp davon.

Da lief ich hinaus in's stille weiße Feld, erfüllt von rathenden Gedanken.

Das Leben dieses armen, heimathlosen, jungen Blutes, vorgestern – gestern – heute? . . . . .

 

16. Mai.

Die alte Veronika am See ist eine wahre Weise und in ihres Herzens Einfalt groß.

Unwiderstehlich zwingt sie mich, ihren Worten ruhig zuzuhören, bei ihr zu weilen und mich mit ihrem Wesen zu beschäftigen, durch die kindlich 104 selbstverständliche Art, mit der sie mich behandelt, gar nicht ahnend, welchem wilden gottentfremdeten Gemüth sie ihre frommen Erfahrungen anvertraut.

An diesem Frühlingsabend, da ich von den Höhen niederstieg, rief sie mich eben wieder in die Hütte. Die Männer waren über Land nach Kräutern und kehrten erst in später Nacht zurück. Allein war sie geschäftig in ihrer niedrigen Küche; die untergehende Sonne schien herein durch's kleine Epheufenster und strahlte goldig mild um ihre guten Züge. Sie hieß mich sitzen, neben ihr am Heerd, und bald begann sie zu erzählen, wie es die Stunde gab.

Ein Zeichen ihrer Zuneigung zu mir und ihres Wesens ohne Argwohn: sie fragt mich nie von mir, was ich nicht selber sage, erzählt mir aber rückhaltlos von ihrem Hause und von sich!

So kam sie heute auf ihr eigenes tiefinneres Leben. Wie sie in Unschuld und in wunschloser Zufriedenheit, nichts Böses kennend, eine lange Jugendzeit in ihrer Heimath froh durchlebt und auf dem fernen großen Hofe bis zum dreißigsten Jahre gedient, wie das eigene Kind gehalten und ohne jemals ein rauhes Wort zu hören. Wie sie auch nichts Anderes geahnt, als daß es immerfort so bleiben werde. Dann sei sie unerwartet einst nach einer Marktfahrt, wo ihr Mann sie sah, zu dieser Ehe beredet worden, von Verwandten, die den Othmar so von ungefähr, doch nicht genau gekannt, und von dem Pfarrer, der ihn nie gesehen, ihr aber die Ehe als eine Pflicht geschildert habe. Wohl sei ihr sein Gesicht zuerst so gar nicht richtig und 105 freundlich vorgekommen, doch wie hätte ein einfaches Mädchen ihres Schlages denn verstanden: warum? Heute wüßte sie schon besser aus den Zügen der Menschen zu lesen!

In der That sieht Othmar jetzt als alter Mann mit seinem kleinen, bartlosen, bleichen Gesicht und den verkniffenen Mienen so abstoßend aus, als müßte schon in jungen Jahren eine Spur davon bestanden haben.

Genug, sie habe sich zum Jawort bestimmen lassen. Und da sei nun mit dem ersten Tag ihr altes Glück zu Ende gewesen, und das Elend habe angefangen. Jähzorn, Lieblosigkeit und rohes Wirthshausleben fand sie hier. Haltloses Schwanken zwischen Leidenschaft und Reue, Verzeihungflehen und neuem Toben war des Mannes Art. Wie ihr gewesen, erst betäubt und wie im Traum, und was sie dann empfunden und gedacht! Und als das stets so weiter ging, so war, so blieb: »da hab' ich gleich den Herrgott selber gefragt« – rief sie – »warum nun das! Was hast Du mich nicht gelassen, wo ich gewesen bin und wo ich stillzufrieden gern geblieben wäre? Warum nun diese rohen Worte, wo ich doch nichts Uebles thue? Warum grade mir den Mann, dem Alles verhaßt ist, was ich liebe, und der nicht leidet, daß ich thue, was ich thun muß?

»Die Thiere um mich herum, die ich so gern hab' und die ich schon von Jugend auf gewohnt bin, mir zu halten, die muß ich noch jetzt vor ihm in Schutz nehmen. Er haßt die armen Tauben, weil sie Futter fressen, und meine Bienen, die kein Futter kosten, bloß 106 weil sie meine Freude sind. Die einzigen paar armseligen Freuden, die ich habe! Und wenn ich früher einem Menschen, dem es elend gegangen ist, ein Weniges hab' zukommen lassen von dem, was wir gerade genügend hatten, so ist ein Schelten und ein Quälen losgegangen, und er hat es mir verboten. Da hab' ich lernen müssen, jedesmal wenn ich gesehen habe, das Geben sei meine Pflicht, es im Verborgenen thun. Und habe doch zuvor in meinem Leben nie was Heimliches leiden können; ich hab's verachtet und hätte gemeint, roth müßt' ich werden, und ein Jedes sehe mir's an. Und Niemand ist gewesen, weit umher, dem ich Dergleichen hätte sagen können, oder der mir beigestanden wäre. Er hat mich ganz in der Abgeschlossenheit gehalten. Nur er allein ist unter die Leute in's Dorf gegangen und hat mich als junges Weib oft ganze Wochen jede Nacht allein in der Einsamkeit gelassen, da hinten am See. Nun, 's ist ja gut gewesen so, mein' ich heute. Viel besser sogar, ich hab' allein um all das Elend gewußt. Aber damals! – – Ich hatte mir von der Ehe so etwas gedacht, wie es bei meinen guten armen Eltern gewesen war. Und nun eine Hölle auf Erden! Warum hatte das nun über mich kommen müssen? Das sollte mir ein gütiger Herrgott sein, der Solches zuließ! Und ein ganzes Leben lang konnte das nun so bleiben?«

Ich stutzte, als sie so zu reden begann, und meine Blicke schweiften durch das Fensterlein, hinüber nach den harten weißen Zacken des Gebirgs, an denen auch der letzte Sonnenschimmer jetzt erloschen war; ich hörte dumpf den Ahorn vor den Scheiben rauschen. 107

»Auch Du?« sagte ich zu mir, – »Du, Kinderseele, Du hast Gott gelästert?«

Da fuhr sie fort; »So, seh'n Sie, hab' ich gethan und laut geklagt! Jedoch der Mensch wird älter, und Manches schaut er morgen anders an, was er heute noch nicht verstanden hat.

»Als mich auch noch das Unglück getroffen hat, daß unsere Zwillingskindlein Beide uns gleich nacheinander genommen wurden, da bin ich erst vollends betäubt und fertig gewesen. Ich habe vorerst gar nicht mehr gewußt, an was ich nur noch glauben sollte. Als aber nach dem besseren Verhalten in der ersten Zeit danach der Othmar wieder in den alten Sünden getobt hat, heute getrunken und geflucht, morgen wieder reuig gewesen ist, da hab' ich plötzlich hell erkannt, warum die Kinder uns weggenommen worden waren. Seh'n Sie: damit sie sicher aufgehoben seien! Wie hätten sie zu rechten Menschen werden können, wenn ich hierhin gezerrt hätt' und der Vater dorthin an den armen Seelchen!

»So habe ich aus aller Dumpfheit nun auf einmal Gottesgüte in dem schweren Schlag erkannt und von da ab wieder denken können wie ein Christenmensch und Alles so auslegen und betrachten, wie ich es vordem gethan hatte, als ich noch fromm und glücklich gewesen war.«

Sie hatte sich gesetzt und fing an auf dem Tisch die Gerste für das Abendessen zu erlesen. Ihr Antlitz nahm dabei den weisen, milden Ausdruck an, der mir so tiefen Eindruck macht an dieser Frau. In Sinnen 108 fuhr sie fort: »Und von den Kinderseelchen bin ich dann auf's Denken über Othmar's Seele hingeleitet worden und habe da entdeckt, daß es wohl seinen Grund haben mochte, daß ich an Den gerathen bin und bei ihm bleiben mußte. Denn, lieber Gott! was wäre aus ihm geworden, mußt' ich sagen, wenn eine Andere neben ihn gekommen wäre, die vielleicht unduldsam, ihn noch ganz von Haus getrieben oder gar die bösen Leidenschaften liederlich mit ihm getheilt hätt'! Verdorben und verkommen wär' er, und seine Seele für die Ewigkeit verloren! So habe ich ihn doch immer noch so weit zum Rechten zurückführen können, daß er einmal, so glaub' ich, doch kein hartes Sterben haben muß. O seh'n Sie, als ich einst plötzlich krank geworden bin, weil er mich so mißhandelt hat, da ist er vor dem Bett auf seine Kniee gefallen und hat mich um Gotteswillen um Vergebung gebeten. ›So sag's – – so sag's!‹ – hat er geschrieen, voll Angst, ich könnte sogleich sterben, – ›denn wenn Du mir nichts nachträgst, hab' ich vor dem Sterben einstmals keine Angst. Ich habe mich in meinem Leben gegen keinen Menschen sonst versündigt, als nur gegen Dich!‹

»Da hängt's ja also doch von mir ab, nicht wahr, daß ich ihm einmal zu einem sanften Tod verhelfen kann, und das will ich ja auch gerne thun.«

Wehmüthig schüttelte sie jetzt den Kopf. »Es hat dann freilich nie lang vorgehalten mit der Reue! Sobald ich genesen war, hat er von vorne angefangen. Grad' wie ein Kind! Doch, mein Gott! wer kann einem Menschen je sein Blut austreiben? Was drin 109 steckt, zeigt sich immer wieder, sobald der Anlaß kommt, und seh'n Sie, ich meine: die so schnell reumüthig sind und die so gar verzweifeln über ihre Fehler, die sind gerade die Schwächsten, wenn's wieder darauf ankommt, daß sie sich überwinden sollen.

So ist es viele Jahre fortgegangen ganz im Argen.

Selbst noch in spätern Zeiten habe ich manchmal gemeint, ich müßte ihm drauslaufen und mich lieber, so alt ich war, noch irgendwo als letzte Stalldirn' verdingen. Aber wohin, wo Keiner mich erkannt hätt'?

Wenn es dann so fast nicht zum Aushalten gewesen ist, habe ich auf einmal zu mir selber gesagt: aber Veronika, was ist denn das so Schweres, was Du da zu tragen bekommen hast? Unter Schmerzen einem Menschen ohne Halt die Stütze zu sein, damit er nicht ganz verloren gehe! Du, die von rechtschaffenen Eltern kommst und in Frömmigkeit und etwas Gutem hast aufwachsen dürfen, wogegen er nie etwas Richtiges gehört und gelernt hat! Was ist dieses Kreuz gegen jenes, was unser Herr für Dich getragen hat? Er hat Euch gezeigt, was man kann, und Du müßtest Dich ja schämen, wenn Du Deinen Theil nicht auch redlich trügest, so gut Du es vermagst.«

Hier hielt die Alte plötzlich inne und ich sah ihr gutes Dulderangesicht sich krampfig wild in Schmerz verzerren. »Zuweilen . . . freilich . . . will es mir doch scheinen, er sei wohl groß genug, mein kleiner Theil!« schrie sie auf einmal laut hinaus, überwältigt von einem Ausbruch ihres lange nie mehr 110 ausgesprochenen Herzweh's, und ein Strom von Thränen schoß aus ihren Augen. Die Lippen heftig aufeinander pressend, faßte sie die Schürze und wischte sich über das Gesicht. Dann stand sie auf vom Tische. Sie drehte sich mit einem heftigen Ruck dem Heerde zu, den Rücken gegen mich, damit ich nicht mehr Zeuge ihrer Schwäche sei, und mit der fieberischen Hast verschluckten Weh's begann sie unter lautem Lärm an ihren Eisenringen und Geräthen zu hantiren.

Ich weiß nicht, wie mir ist, gedenke ich jetzt dieser Augenblicke von heut Abend. So neben mir ein Anderes sich im Weh des Daseins krümmen sehen, hineingezogen wider Willen in das Leben andrer Menschen, die mir fremd sind, die ja Menschen sind von jener gleichen Menschengattung, die ich hasse! – und die mich dennoch zwingen, ihnen meine Gedanken zuzuwenden!

Veronika, tapfer wiederum gesammelt, fuhr dann fort: »Es geht jetzt freilich besser, als ehedem. Schon die Jahre haben geholfen. Die Heftigkeit so eines Mannes wird doch mit dem Alter schwächer, und Kränklichkeit hat ihn nach und nach von selbst in seinem wüsten Leben gehindert. Was jetzt noch ist, trag' ich schon zu Ende, und ich hab' es auch viel leichter tragen können, seit ich zu meinem Herrgott ganz zurückgekehrt bin und recht einsehen kann, warum in meinem Leben Alles grade so gekommen ist. Ich klage nicht mehr um das Glück, das ich bis zum dreißigsten Jahre ungestört besessen habe; ich denk' im Gegentheil jetzt mit Dankbarkeit an eine so lange frohe Jugend. Die eben 111 war mir nur gegeben, damit ich drin erstarkt bin und die Aufgabe auch habe leisten können, zu der ich dann berufen worden bin. Ich klage meine Verwandten und den Pfarrer nicht mehr an, daß sie mich überredeten, dem Othmar Ja zu sagen; sie sind doch nur Werkzeuge in unseres Herrgotts Hand gewesen! Und eine Aufgabe ist das Leben, mein' ich halt ganz gewiß! Eine Aufgabe, nur eine Aufgabe, so nehme ich es jetzt, – und keine Zeit, in der man trachten darf, so glücklich und ungeplagt als möglich durchzukommen, wie ich früher gedacht habe. Mein immer größeres Unglück hat mich das zuletzt gelehrt.«

»Und manchmal erlebt man ja sogar auch eine kleine Freude und eine Ermuthigung. Wenn man so sieht, daß etwa eine Sache, die nicht recht ist, nicht geschieht, die so ein Nebenmensch ohne unsern Einfluß eben hat thun wollen, oder wenn er etwas nach viel Brummen und Schelten doch erfüllt, was Gott und Nächstenliebe von uns fordern und was er aus sich selber nie gethan hätt', so scheint uns das bereits großmächtig viel! Und denken Sie: wenn man die Aufgab' lieb bekommt, so bekommt man vor lauter Gewohnheit, sie zu erfüllen, fast den Menschen lieb, an dem man sie vollbringen muß. Ach, wissen Sie, lieben – verzeih' mirs Gott, aber lieben kann ich den Mann seit der Kinder Tod nicht mehr, wo er sich so oft und so grausig verfehlt hat.«

Ein neuer heißer Thränenausbruch hemmte des armen Weibes Stimme einen Augenblick. 112 »Ich weiß, – – – ich spür's in meinem Innern heute noch, daß er der beiden Kindlein Tod verschuldet hat durch seine Sünden, und daß er mir so auch das Einzige verscherzt hat, was mir vom Herrgott selber erlaubt gewesen ist und gegeben zum Lieben. Aber . . . ich habe mich gewöhnt, freundlich gegen ihn zu sein soviel ich's kann, und ich glaube, ich werde vor Gottes Stuhl einst stehen dürfen, und unser Herr muß selber sagen: ja, Veronika, was Dir möglich war, – wahr ist's, das hast Du gethan!«

In stillem Weinen hatte sie derweil ihr karges Mahl zu rüsten beendet. Ich schüttelte zustimmend nur den Kopf, gab ihr die Hand und wendete mich zum Gehen.

Was wollte ich vor der schlichten Großartigkeit dieser Frau? Ihr in diesem Augenblicke antworten, daß ich ihre demüthige Kreaturauffassung nicht theile? Jedes Wort war mir verboten! Stumm hatte ich da zu ehren!

Diese Eine hatte sich auf ihre Weise, im kleinsten Lebenskreise um's Größte kämpfend, in hohem Sinne selbst geholfen!

Ich schickte mich an, den dunkeln See entlang heimwärts zu wandern.

»Und Sie kommen halt wieder einmal zu mir herauf!« rief sie mir nach, mit einem Blick voll Wärme aus den nassen Augen, – als wäre ich ihr ein langbekannter Freund, bei dem sie sich erleichtern könnte. 113

 

17. Mai
aus einem Notizbuch

Was ist mir denn! Bin ich das selber? Was laß' ich mich von einem innern Glück, von einem Seelenfrieden, wie ihn mir diese Frau am Bergsee da mit ihrem Leben möglich zeigt, seit gestern und die halbe Nacht in meinen eigenen Bahnen stören? Was folgt mir der Gedanke daran durch diese Abendstille selbst, auf meinem einsamen Gang hier durch das Hügelland hinan? Was habe ich denn innerlich mit dieser Frau zu schaffen! Mag sie sich ihre Bürde zurechtrücken, wie sie's braucht! Mir kann, ich fühl' es klar, ihre Weisheit doch nicht frommen! Ich bin geformt aus anderer Masse. Niemals könnt' ich mit solchem stillen Sinne tragen, was mich niederdrückt: dies aufgezwungene Dasein.

Beuge Du Dich, gute Seele, da Du es kannst! Mir ist das Aufrechtgehen angeboren. Und daß ich so bin, anders bin als Du, ein Herz zum Zweifeln in mir trage, statt der Gabe, schlicht zu glauben, – wer hat die Schuld daran? Ich doch nicht selber? Frag', fromme Alte, Deinen Gott, den Du so weise nennst, frag' ihn: warum? Doch ich muß bleiben, wie er mich erschuf!

Wohl leide ich so mehr als Ihr, die Ihr gelernt habt knieend preisen, was Euch auch kommen mag, Freud' oder Leid; doch hilft mir das Bewußtsein meine Last ertragen: daß ich mir so doch immer selber treu geblieben bin. 114

. . . Horch, was für ein Gesumme! da ich um diese wellige Hügelseite biege. Von unten dringt's empor, von da, wo sich dies grüne Weidenvorgebirg aus engem Seitenthälchen aufwärtszieht. Ein dumpfes Plärren, wie von vielen Stimmen! Das Buschwerk über'm ersten Rande unter mir verdeckt mir noch den Ausblick in die Tiefe; doch dort wird's freier. Ein schwarzer Zug erscheint, sich langsam fortbewegend aus dem schattigen Thalweg! Rothe Flecken schweben drüber und goldene Punkte: – es ist ein Wallfahrtszug! Zu jenem Gnadenorte, der im Bergwald liegt, steigt er hinan. Jetzt tritt er aus der Felsenenge näher unter mich, und lauter tönen die Gebete und die Sänge hier heraus. Die Männer mit den bloßen Häuptern vornedran, die Frauen noch im Felsenschatten hinten. Welch ein Gewirr, ein immer lauteres Geschnarr von Stimmen, eintönig, wie mechanisch leiernd, grell gedankenlos! Dem unbefangenen Aug' und Ohr ein plappernder Menschenknäuel, der sich dumpflich vorwärtswälzt.

. . . Wie sie da schaarenweis in stumpfer Unterwürfigkeit dem Priester folgen in der Prozession! Jaja . . . und sind am Ende dennoch Alle ruhiger und zufriedener als ich, indem sie so das Nächste nehmen, ungefähr und halbverstanden, was man ihnen bietet, den Abgrund zu überdecken, der so wie in meines, auch in ihr erbärmlich hartes, arbeitsvolles Dasein klafft. Willfährig Denen, die sie lehren, lallen sie gedankenträg Gebete nach zu einem Gotte, der allmächtig und allgütig sei. Die Güte glauben ihrer Viele 115 zwar nicht recht; doch spüren sie wohl desto härter seine Allmacht, und wie Manchen hörte ich schon sagen, wenn er sich in schweren Nöthen wand: Der droben scheine ihm doch unbarmherzig!

Aus knechtisch unterwürfigem Schrecken also betet Ihr zu ihm, Ihr Frommen drunten, und nicht aus Liebe und Bewunderung! Ihr betet in der Hoffnung: seine Gnade zu erwerben, Euer Loos gelind zu wandeln! Nun, Jeder thue nach seiner Art! Zieht Eures Weges in Frieden und seid glücklich, wenn Euch dies Knechtthum helfen kann! . . .

Der Stimmen Klang fängt an, dumpf zu verhallen, und sie verschwinden Paar um Paar im hintern Felsengrund des Thälchens. Ich aber steige weiter zu dem grünen Wall hinan, der dort als höchster diese weiten Wiesenberge krönt . . .


Wenn ich von hier aus um mich blicke, wo ich den höchsten Punkt erreicht, so ist mit einem Male verschwunden, was sich im Aufstieg meinem Auge dargeboten, und ich erschaue und übersehe dagegen von hoch herab den ganzen kleinen Flecken Erde, drauf ich zur Zeit die Last des Daseins hin und wieder schleppe. Der Abend senkt sich rings ins Thal des Feld-Kastells. Schräg schießen aus dem balligen Gewölk noch späte giftige Strahlen nieder und gleiten über den weiten goldig grünen Rasenteppich tief im Grund, indessen des Gebirges Masse, in dichten blauen Abenddunst gehüllt, wie ein bedrückendes Riesenmauerwerk das Thal umgrenzt. 116

Als sollte er die Menschen schrecken, so zuckt der gleißend goldene Glanz jetzt über den Thalgrund hin, verschwindet wieder, rings die Tiefe stumpf und lichtlos lassend, um dann von Neuem zu erscheinen. Und auf den Feldern dort dem Dorfe zu entdecke ich, gleich kleinen Käfern, Menschen, die am Boden knieen, mit harter Mühe die Saat vom Unkraut zu befreien.

O, höchst merkwürdig Schauspiel: zuzuschauen wie sie rutschen, wie sie krabbeln, wie sie sich mühen, diese winzigen Lebwesen auf dem weiten grünen Grund, da drunten zwischen den erdrückenden Bergungeheuern! Gibt das mir nicht die Vorstellung, wie Gott herabschauen mag auf seine Kreaturen?

Ja, ja, so eben breitest Du den Teppich dieser Erde aus, den lustigen, goldgrünen, gleich wie ein irdischer Tyrann den Teppich breiten läßt, drauf seine Sklaven ihm grausame Tänze aufführen müssen! Und dadrauf lässest Du nun, unbarmherziger Moloch, Dir zur Augenweide Deine Erdenkreaturen tanzen, lässest sie sich winden und krümmen vor Kummer und Gram ihrer Seele, sitzest auf Deinem hohen Berg und ergötzest Dich daran, wie sie sich zu helfen suchen, und wie sie Kapriolen machen in ihrer Verzweiflung. Dort oben thronest Du, sicher und gewaltig in Deiner erhabenen, ewig unenträthselbaren Verhüllung und spielst bei jenen mächtigen Wolkenballen mit den Sonnenblitzen ein himmlisch Feuerwerk, sie zu verblüffen mit der Herrlichkeit!

. . . Oh! wie so urweltgroß und prächtig jetzt auf einmal dort die schrägen Strahlen, breit wie 117 goldene Riesenwassergüsse, zum grünen Thalgrund niederströmen und in die dumpfe, sonnenlos gewordene Tiefe leuchtende Luftwunder weben! Wie aus entrückter Lichtwelt steigen sie hernieder. Und seht! Die Käfer dort, die kriechenden, die mühbeladenen, sind plötzlich still geworden, bleiben unbeweglich, halten einen Augenblick in ihrem harten Rutschen inne und staunen ehrfurchtsvoll das Feuerwunder Deiner angebeteten Allmacht an!

Ich aber, allerhöchster Tyrann, ich sitze hier, hoch oben fast wie Du, und sehe Dir in's Spiel! Der Bergstrom drunten rauscht herauf, wild rauscht er auf; ein Wind, der sich von allen Orten zumal erhebt, trägt mir sein Trotzlied zu. Und dieser Wind schwellt meine erwachende Wuth; mit Macht erfaßt er mein Gewand, als wollte er mir Schwingen geben; er greift in meine Seele, wie eine zornentflammte mächtige Hand in eine dröhnende Harfe greift. Auf spring' ich da! Unwille und Empörung schüttelt meine Glieder: »Und mich auch, Moloch da droben! lässest Du also tanzen vor Dir und mich winden in Seelenqual! Meine Figur auch hast Du hergezerrt auf diesen goldgrünen Teppich da drunten, mich vor Dir zu krümmen, wenn es Abend wird, unter der Last eines neu verlebten Tages von meinem verfluchten Dasein! O Moloch, Moloch! grausame Gottheit, die Lust hat am Leid!

Eines aber bleibt mir doch dem Schauspiel Deiner Macht entgegenzusetzen! Hohnjauchzend ruf' ich es Dir zu, durch all das Strahlenflirren dieses Sonnenblendwerks, das meine Sinne nicht beirrt, wie die der 118 Andern drunten, – eines: unbeugsam mein Trotz! Trotz biete ich Dir auch heute! Und ob ich tausendmal die Kreaturenohnmacht fühle, so beugt sich meine Seele nicht vor Deiner gleißnerischen Übermacht!«

 

18. Mai.

Ein Wetter hat mich überrascht, da ich in der vorigen Nacht von jenem grünen Hügel höher durchs Gebirge stieg. Des Jahres erstes stolzes Ungewitter. Der Donner grollte durch die Schlünde nah und näher, die Blitze schlugen in der Bäche tosendes Gewelle neben mir, und Ströme kalten Hagels fuhren hernieder. Verirrt im sonst so wohlbekannten Gebiet der Höhen stand ich, geblendet von dem weißen Zucken in der schwarzen Nacht, schon lange Zeit an einem überwölbten Felsblock, als mir ein heller Blitz tief unter mir am Saum des Hochwalds eine Hütte zeigte. Auf dem grünen Vorsprung einer Alp einen kleinen Hof.

Mit Mühe ließ ich mich am Felsgewände hernieder, Schritt für Schritt das Leuchten eines Blitzes erwartend, und tastete mich durch den laut durchstürmten Bergwald bis hinab zu dieser Menschenwohnung. Der Hund schlug an, ein altes Weib erschien mit einem Licht am Fenster, öffnete ein Scheibchen und rief an: »Wer ist noch in der Nacht da draußen?« Ich ging drauf zu und gab ihr Antwort. Bald eingelassen, verlangte ich ein Obdach für die Nacht.

Am Hinterkarhof heißt es, wo ich hingerathen, und eine alte Bäurin führt den Hof mit einer Dirn, und 119 ein paar Knechten, die gestern schon zu Bette lagen, als ich kam. Die Dirne saß allein noch bei der Alten, still mit einem Buch, darin sie eifrig las. Sie legte es weg, als ich hereingetreten, grüßte mich nur kurz und ging. Ein Blick aus großen innerlichen Augen streifte den meinen. Ihr hoher schlanker Körper zeichnete sich einen Augenblick im niedern Rahmen der Thüre, durch die sie in die Küche schritt, wo noch ein helles Feuer brannte.

Nach einer Weile brachte mir die Karhofbäuerin zu essen, setzte sich zu mir und wollte nach alter Frauen Art mehr wissen, als ich sagen mochte.

»Eure Tochter hat mir gut gekocht!« schnitt ich die Fragen ab.

»Nicht meine Tochter, Herr! Bloß eine Dirn! Ich habe keine Kinder mehr. S'ist aber eine brave Dirn, die Eva, und treu im Haus wie eine Tochter!«

Da trat die Jüngere wieder ein und glitt mit stillem sicherem Wesen nach der Ecke ihrer Bank, zog schweigend das Buch an sich und las drin weiter, ganz so, als ob kein Dritter unter ihnen wäre.

Die Alte sprach bald Dies, bald Jenes. Auf ein an sie gerichtetes Wort antwortete mir die Junge kurz, mit einem herben Anstand, wieder mit dem klaren, tiefen, ruhigen Blick, und legte sogleich ihren Kopf auf's Neue in die beiden aufgestützten Hände, mir zeigend, daß sie hier nicht mitzusprechen wünsche.

Die Alte wurde allmählich still und stiller, ich blieb ihr gegenüber wortkarg, und schließlich schlief sie langsam ein. Jetzt legte ich mich zurück, den Rücken an 120 die Wand, und sah nun schweigend vor mich hin, in diese niedere braune Stube mit den vielen Epheuranken an der Decke, dem geschnitzten Herrgott dort im Winkel und mit den beiden stummen Frauen. Das Ungewitter draußen war mit immer schwächerem, fernerem Grollen nach und nach erstorben, und an den frostig angelaufenen Fensterscheiben glitten lautlos Regentropfen nieder, gleich letzten Thränen, die nach wildem Schmerzenssturm noch im Besänftigen fließen.

Wie schön war diese Eva! Wie anmuthvoll und herb zugleich! Ein stolzes, wildes »Etwas« lag auf Mund und Nasenflügeln, aber ein schmerzvoller Zug schien es zu mildern und breitete über das Antlitz einen Hauch von rührender Weiblichkeit. Die braunen Flechten trug sie um das Haupt geschlungen, und zwischen ihren Händen ließ sie jetzt eine hoheitvolle, kindlich reine Stirn erblicken, die ich lange betrachtete. Zwei dunkle Brauen wölbten sich in stolzen Bogen, und von den grauen Augen schwebten schwere dunkle Wimpern schattig nieder auf die leichtgebräunten Wangen. Stolz, stolz war von Natur aus dieses Weibes Schöne!

Auf einmal schien sie zu gewahren, daß es still geworden, drin und draußen, schaute auf – und wieder, sowie sich unsere Blicke trafen, glitt der ihrige gleichgültig beiseite. Sie erhob sich ruhig, fragte mich, ob ich meine Lagerstätte wünsche, klappte ihr Buch zu, weckte die Alte sanft und holte dann eine Decke und Kissen, um mir ein Bett in dieser Stube aufzuschlagen.

Als sie mit dem Herrichten fertig war, wünschte sie mir gute Nacht mit kurzem gelassenem Grüßen, 121 ließ die Alte noch das Letzte ordnen und ging zur Ruhe.

– Als ich das Licht gelöscht, blickte schon der Mond durch weiße, feuchte Wolken, die vorüber eilten, in die Fenster und breitete stille Silberhelle in mein schweigendes Gemach. Ich hörte durch die hölzerne Decke noch die Frauen oben halblaut eine Weile reden. Dann ward es still. Und von den Hagelgüssen angeschwollen, rauschten draußen rings die Wasser laut von Fels zu Felsen nieder.

Vor Sonnenaufgang war ich unten im Kastell. Ich habe es nicht ausgehalten, dort zu ruhen unter einem Dach mit andern Menschen! Der bleiche Mond, der durch die Morgendämmerung schwamm, erweckte mich aus wirren Träumen. Und diese unfreiwillige Einkehr wäre mir wie ein Traum, wenn nicht ein Räthsel noch mit unerwünschter Zähigkeit in den Gedanken haften bliebe: das schöne herbe Mädchen auf dem tiefeinsamen Hof?


24. Mai.

Legende

(In einem der alten Bände gefunden, die von einem frühern Bewohner dieses Kloster-Kastells noch auf dem Brett der Täfelung stehen, und in denen ich zuweilen blättere.)

»Es ging einmal St. Augustin am Meeresstrande her und hin. Das Wesen Gottes, unsres Herrn, wollt' er erforschen gar zu gern, und es dann bringen in 122 ein Buch. Er kannte jeden Bibelspruch; drum schien die Sach' ihm gar nicht schwer. So wallt er sinnend hin und her und meint wohl schon im eitlen Wahn, ihm sei der Himmel aufgethan. Auf einmal wird sein Aug' gewahr: ein Knäblein schön und wunderbar; es macht ein Grüblein in den Sand und bückt sich dann hinab zum Strand und schöpft vom Meer das Wasser drein mit einer Muschel weiß und fein. »Du lieber Knab', was machst Du da?« fragt Augustin. »Du siehst es ja! zum Zeitvertreibe faß' ich mir die See in dieses Grüblein hier.« Der Heilige lächelt: »Dieses Spiel, mein Kind, es bringt Dich nicht zum Ziel!« »Ei« – sagt der Knab', – »wer das nicht kann, der bleibe hübsch auf seiner Bahn! Viel ist dem Herzen offenbar, doch wird es dem Verstand nicht klar!« Und flugs, da schießt ein Flügelpaar dem Knaben an, und wie ein Aar schwebt er empor zum Sonnenlicht. Der Heilige schaut ihm nach und spricht: »Der Knab' hat recht, des Menschen Sinn kann über Zeit und Raum nicht hin.«

 

19. Juni.

Veronika, in deren guten Zauberkreis ich immer und immer wieder gezogen werde, ob ich will oder nicht, traf ich heute, wie sie sinnend vor der Thüre stand im hellen Sonnenschein und einem Bergfinken, den Othmar eben fertig ausgestopft hatte, mit sorglichem Streicheln die Federn glättete. Rings um sie Sommermorgenpracht und Bienensummen. Auf ihrem guten 123 eckigen Gesicht mit seinen blauen Augen und den grauen Haaren freundliche Verklärung, als wäre sie voll guter Empfindungen für ein Lebendiges, das sie da in den Händen hielte.

Ich grüßte sie.

»Mein! lieber Herr!« rief sie auffahrend, – »da hab' ich jetzt dies Vöglein angeschaut und dabei denken müssen: warum hat Dich der Herrgott nicht auch solch ein Thierlein werden lassen, daß Du hättest frei sein können und fliegen und singen, wie es Dich gefreut hätt'? Warum, hm? grad ein Mensch werden und eingesperrt sein und soviel Kreuz tragen. Sehn Sie, so bin ich immer wieder, wenn ich zu denken anfange. Aber – hab' ich selber drauf zu mir gesagt, – Du alte Närrische, der Herrgott wird in seiner Weisheit wohl gewußt haben, warum!«

Sie schaute mir plötzlich, wie um Zustimmung fragend, grad ins Auge. Und als sie da nicht gleich Bestätigung fand, bemerkte sie kleinlaut: »Freud' an der Natur hätt' ich freilich viel gehabt, viel mehr als hundert andere Leute.« Sie putzte hastig an den Federchen weiter, die Lippen zusammenbeißend, und ich sah, daß eine Thräne kommen wollte. Darauf fuhr sie, nach ihrer Art, wenn die Gedanken plötzlich wieder eine ihrer schnellen Wendungen nehmen, fort, und lachte heiser dazu, wie in wehmüthiger Selbstüberwindung: – »aber er wird halt gedacht haben, etwas Anderes könnt' er der Veronika doch noch aufgeben, als grade nur fliegen und singen, und da hat er mir halt meine Menschenaufgab' zugetheilt!« 124

Seltsame Frau! Mit ihren vierundsechzig Jahren tritt bei ihr noch Alles wie im Kindesleben hervor. Wenn sie erzählt, so wechselt das mit Weinen und Lachen, schmerzlichem zornigem Beben und gleich darauf mit Resignation, sobald sie, vom Geschehenen zur höheren Betrachtung übergehend, aus dem erlebenden, leidenden Einzelmenschen plötzlich zum bewußten Geschöpfe eines höheren Lenkers wird. Und von dem Schauspiel dieser kindlichen Natur kommt man nicht wieder los. Man muß da stehen bleiben, um es immerzu nur anzusehen, und Zug um Zug bin ich gezwungen, denkend zu beachten.

Ich muß an ihr, das fühle ich, wider Willen erleben: daß man doch bei den Menschen wieder und wieder reine Güte trifft, und muß erschauen und mir selbst zum Trotz am Augenschein gestehn: daß immerhin ein unverderbbar Tüchtiges stecken kann im Menschen, ob es auch nur vereinzelt anzutreffen ist, wie im milliardenkörnigen Meeressand die Perle.

Wie kindlich und unmittelbar sich mir in hundert Zügen diese Güte äußert!

Es ist Veronika unmöglich, die kleinste Freude allein zu genießen. Ganz unbewußt, im Augenblicke eines unerwarteten Vergnügens, schreit sie: Vitus! Vitus! So stellte sich heute, als ich bei ihr war, ein Spaßmacher aus dem Dorf, der eben den Berg hinanstieg, auch ein wenig zu ihr an die Thüre, erzählte ihr eine lustige Geschichte und schnitt auf einmal selber die Gesichter seiner handelnden Personen. Veronika, die nach ganzer Kinderart ungemein empfänglich ist für 125 plastisches Erzählen, jubelte laut hinaus, schoß gleich ins Haus und rief, als brennte es, den armen Pflegesohn herbei, damit sie auch auf seinen kränklichen Zügen Freude sehen möge.

Nie sah ich sie ein Stücklein Backwerk in den Wein eintauchen, ohne daß sie es darauf schnell kostete, ob es gut sei – und im nächsten Augenblick die Hälfte vor den bleichen Jüngling legte. Und wie sie ihrem Manne stets das Beste von den Speisen, den Rahm vom Topfe ihrer kalten Milch, den ersten Wein aus einem Kruge gibt, den trüben Rest für sich behaltend, – dem Manne, den sie doch nicht liebt! – das spricht, ihr selber völlig unbewußt, bis in's geringste Handeln ihre unendliche Güte gegen ihren Nächsten aus, so Mensch, wie Thier.

Mit diesem Wesen bringt sie mich dazu, des Menschseins kleine Dinge, die mir nichtig und verächtlich waren, noch einmal prüfend zu betrachten, nachdem ich unvermerkt doch einmal angefangen habe, sie wieder wahrzunehmen.

 

23. Juni.

»O, heute muß ich Ihnen etwas zeigen!« rief Veronika mir zu, als sie mich diesen Abend über ihrem Haus am Berg entdeckte. »Kommen Sie herab! Nicht lange, gar nicht lange!«

Und von dem Ausstopftische holte sie zwei schlanke Wiesel, eines braun, das andere blendend weiß.

»Nun schauen Sie, was die Natur für Dinge schafft: ein und dasselbe Thierlein, he? – – da weiß, da 126 braun! Wie unser Herrgott doch so wunderbar für jedes geringste Geschöpflein denkt und sorgt! Da schau nur Einer! Im Sommer, wenn die Aecker braun sind, macht er so einem Wiesel auch seine Haare braun, damit es unbemerkt auf seine Nahrung ausgehen kann und nicht vom Geier aus der Höhe gleich erspäht wird. Und wenn dann der Winter kommt und Schnee fällt, so färbt er es gerad so weiß wie der Schnee, damit es wiederum drauf springen kann, bis es sich ganz verschlüpft, ohne daß ein Raubthier es schnell sehen und fressen kann. So etwas! he? Ja, 's ist grad wunderbar!« Dabei betrachtete sie die beiden ausgestopften Thiere wie verzückt.

»O sehn Sie, wenn man einmal anfängt aufzumerken, da hört ja das Entdecken gleich gar nimmer auf! Wie nur ein jedes Thierlein um uns her seinen besondern Verstand bekommen hat für das, was ihm gerade nöthig ist! Jetzt lassen Sie sich nur erzählen, was ich gestern gesehn hab!« – und damit zog sie mich auf ihre Hausbank nieder.

»In einem Acker ist ein Flug von jungen Staaren gewesen, die sind dicht wie die Beeren an den Aesten eines alten Hollunderbusches gesessen. Da haben sie den Weih gemerkt; der hat frech schon lange über ihnen gekreist und nur gewartet, bis sie aus ihrem Astwerk flögen. Was thun die Staare: fliegen mitten in die Heerde Schafe, die am Wiesrand gegrast hat, und ducken sich hübsch unter ihre Beine. Die Schafe das gemerkt und gleich zusammengestanden und die Vögel ganz verdeckt, bis der da droben weg gewesen ist! Da 127 sag' noch Einer, daß die Thiere dumm sind! – Jeh! und erst der Vogel, – einer von den grauen aus dem Neste hinterm Bienenhaus ist es gewesen, mit den rothen Kröpfchen, Der erst! Als Der im vorigen Sommer Junge gehabt hat, da hat er einmal früh am Morgen den jungen Jagdhund unsres Försters kommen sehn, als grade seine jungen Vögelchen vom Nest ins Gras geflattert waren. Der Jagdhund hat sie auch schon bald erschnuppert und ist schnell darauf zugekommen. Ja, meinen Sie, der alte Vogel wär' geflohn? Geschrieen hat er, daß man staunen muß, wie ein kleiner Vogel nur so schreien kann, und ist mit seinem Schnabel immerfort dem Hund entgegengeschossen, immer von oben gegen die Augen, so daß der gar nicht näher zu den Jungen hat hinkommen können. Zuletzt bin ich vors Haus gerannt, weil ich schon lange dachte: wo doch ein Vogel so erbärmlich schreit? Da seh' ich Alles, – und vor lauter Staunen hab' ich nicht einmal gleich zugegriffen und den Hund verjagt! . . . Da sieht man, was in einem solchen Thierlein steckt! Und diese Dankbarkeit! seitdem ich ihm die Jungen wieder in das Nest gesetzt und Futter und Regenwürmer vom Garten hingelegt hab'! Seitdem ist mir das Alte ganz vertraut. Und singen thut's am Abend dort auf jenem Pfahl im Garten, ja, grad als wenn es wüßt', daß ich das Singen so gerne höre.« . . .

– Ich schüttelte den Kopf, als ich geraume Zeit nachher, da diesen paar Beispielen noch unzählige andere gefolgt, der Alten Hand gedrückt und einsam überm See am dämmerigen Berghang aufwärtsstieg. 128

»Nun« sagt' ich mir, – »wenn Du jetzt nicht als starrer Finsterling und blind beharren willst im Einen, Einzigen, was Du im All mit Gier Dir suchst: im Widersinnigen und im Grausamen, dann möchte dieses Weibes gegentheiliges Betrachten und Erkennen beinahe mächtig werden, Dir am Bau der eigenen düstern Theorieen zu rütteln!« Mir ist, was sie mir da gezeigt, Aufruhr und Schlag in meine schwer erlangte starre Ruhe des Verneinenden. Doch, da ich anerkannt, was sie mir heute vorzuweisen hatte, – muß ich es nicht auch weiterdenken?

 

7. Juli.

Wie soll man das erklären, was da in uns vorgeht, wenn wir – ein Phänomen, das meist bei Menschen vorkommt, die schon viel erlebt und viel erlitten haben – durch eine unerklärliche Gewalt aus unsern Gedanken aufgestört, dort plötzlich einen Blick gewahren, der auf uns weilt? Und wenn wir und der Andere, zwei Menschen, die sich nie gesprochen, auch im gleichen Augenblicke deutlich fühlen: daß im erstaunten Verweilen dieses Auges in einem andern das dämmernde Erkennen eines dunkeln Zusammenhanges liegt, daß dieser unerwartete Blick eine geheimnißvolle Saat ist, die aufgehen wird, ja, die es muß!

So wanderte ich heute vor mich hin, das Dorf hinab, am Nachmittag da Alles still, die Häuser überall geschlossen und die Bauern auf den Feldern waren, als ich durch eben eine solche unerklärliche Macht 129 getrieben werde, aufzuschauen und meine Augen nach dem Werkstattfenster eines Schreiners hinzuwenden, obschon keinerlei anlockendes Geräusch dorther ertönte. Da steht im Innern hinter den verstäubten Scheiben dicht am Fenster jener junge Handwerksbursche, den ich im Kirchhof angetroffen hatte und den ich Tags darauf zum Richter führen sah. Im Arbeitshemd, den Hobel in den Händen stand er da, den Blick ganz regungslos auf mich geheftet: einen Blick, in dem ich weiß nicht was lag, das mir sagte, daß wir uns keine Fremden seien, daß für ihn ein Band bestehe zwischen ihm und dem da draußen, – ein gemeinsam Erlebtes, was uns Zwei einander nahestelle.

Ich mag den Blick erwiedert haben mit dem Inhalt, den ihm mein augenblickliches Empfinden wohl zu geben gehabt; denn nachdem der Bursche ihn eine flüchtige Weile lang ausgehalten, neigte er bescheiden seinen Kopf vornüber und begann, um nicht dreist zu erscheinen, seine Arbeit wieder.

So ist der arme fahrende Geselle hier im Orte unter Dach! Was dieses Menschen Innenwelt ist, wird mir also die Zukunft doch vielleicht erschließen? Etwas steckt in ihm, was der Haufe, der durchs Leben tappt, nicht hat! Sein Blick ist eine Wiederspiegelung von Dingen, die zu kennen mich verlangt. In ihm hat eine Menschenseele stumm zu mir geredet. 130

 

10. Juli Sonntag.

Wie hat mich mein Empfinden auf die rechte Spur geleitet! Der Bursche ahnte mich, ich ahnte ihn; sein Blick war Sprache seiner hülfsbedürftigen Seele.

– Ein sonnenheller Morgen hatte mich hinaufgetrieben ins Hochgebirg, ins Felsenthal der sieben Quellen. Früh, ehe die Glocken des Dorfes ihren ersten Sonntagsruf ins thauige Thal gesandt, klomm ich empor und lebte meinen Tag einsam im kühlen reinen Aether jener unbegangenen Höhen, die mir und meinem Denken rauhe Heimath sind.

Als ich am Abend auf dem Abstieg gegen das Försterhaus zuschreite, wo ich zum Imbiß öfter Einkehr halte, erblicke ich von weitem vor dem Hause den Tisch mit jungen Burschen aus dem Thal besetzt und erkenne mitten in den grünen Federhüten aller Andern den hellen Hut des Handwerksburschen. Ich gelange näher und sehe, wie zwei Kameraden ihn, der zunächst am Hause sitzt, an seinen Schultern fassen, ihm so zum ruhigen Halten seines Körpers helfend, indessen ein Dritter versucht, den Schattenriß seines Kopfes, den just die volle Abendsonne scharf aufs lichte Mauerwerk des Hauses wirft, mit einem Kohlenstücke nachzuzeichnen.

Ich komme von der Seite her, nach der er seine Augen richtet, und nehme wahr, wie in dem regungslos gehaltenen Kopfe die innere Bewegung ihre Spuren malt, als er mich plötzlich dicht vor sich erblickt. Doch hält er still, so lange der Andere es braucht, während ich mit kurzem Gruß mich an den Tisch hinsetze und 131 mir Speis und Trank bestelle. In seine Wangen sehe ich in der sonderlichen Lage eine leichte Röthe steigen, Spur der Verlegenheit, wie sie den kindlichen Gemüthern eigen ist.

Als nun sein Abbild fertig war, und er sich wieder zu den Andern und zu mir herwendet, grüße ich ihn noch besonders und gebe ihm nun meinerseits im Gruße zu verstehen, daß er auch mir kein Fremder sei.

Während ich darauf mein Abendbrot verzehre, tauschen die andern Bursche – nach dem freimüthigen Brauch dieses Bergvolks, wenn sich Unbekannte aus den Höfen oder im Gasthaus treffen – in vertraulich heiterem Tone ab und zu ein Wort mit mir und ziehen mich in ihre Unterhaltung.

Als sich die Sonne dem Grat der höchsten Bergwand näherte, fragte mich einer, ob ich auch bald zu Thale gehe und ob ich die Wege kenne. Und so ergab es sich, daß wir darauf gemeinsam unsern Heimweg nahmen.

Da habe ich mich denn zu dem jungen Handwerksburschen hingesellt, den sie Beppo nannten, und der als der Letzte schlendernd seinen Kameraden auf dem schmalen Abstieg folgte. Der Weg ging zwischen mächtigen Felsentrümmern hin durch eine Lichtung. Von drüben strahlten die höhern Schroffen goldig ihren letzten abendlichen Wiederschein auf uns herab, und weiche Luft des Sommerabends fluthete um alle Formen. So schritten wir, bald neben, bald hinter einander gemächlich abwärts. Und da ich mich, ohne die frühere Begegnung anzudeuten, gleich nach des jungen Menschen 132 Umständen erkundigte, trat er aus seiner ersten Scheu alsbald heraus.

. . . »Aus Franken bin ich«, erzählte er – »aber halt schon lange auf der Wanderschaft. Vom fünfzehnten Jahr weg, wo ich aus der Lehre kam, war ich immer von zu Hause fort und bin auf diese Weise weit herumgekommen.«

»Jaja, das sieht man schon an Deinem Hut; der ist schon viel gewandert und sicher nicht aus diesem Land!«

Er lächelte. »So haben Sie das schon gesehen? Waren Sie vielleicht schon selber in Italien?«

»Sieh da, das hab' ich gut errathen; solche Hüte sah ich um Neapel. Kommt er wirklich von dort her?«

»Jawohl! ich habe ihn im vorigen Herbste dort von einem deutschen Maler bekommen. Trag' ihn nur Sonntags, wenn er auch nicht neu und schön ist, weil's doch ein Andenken bleibt, daß man in seinem Leben einmal dort gewesen ist!«

»Wie kamst Du nach Neapel? Erstrecken sich die Handwerkswanderschaften denn so weit?«

»O nein! 's war auch nicht auf der Wanderschaft! Ich . . . muß es Ihnen schon gestehen: ich . . . war so dumm und wollte nach Jerusalem wallfahren!« Der Bursche wurde roth. »Nun ja . . . wir waren unserer fünf, und Einer hatte halt den Andern angesteckt.«

»Und da?«

Er schwieg und sah mich an, als wollte er fragen: ja muß ich Dir denn Alles beichten, was dahinten liegt? 133

»Ja . . . das ist nicht so schnell erzählt. Es war halt allerlei dabei, und . . . dann hat's erst ganz anders kommen sollen, als ich mir's gedacht. Heut bin ich schon nicht mehr so dumm! Wie es so geht: die Pfaffen reden einem so viel in den Kopf hinein, und wenn man noch niemals aus dem Land gekommen ist, so meint man freilich, was die sagen, müsse sich schon so verhalten und werde auch wohl das Beste sein.«

Er schwieg, und seine Miene war halb betreten, als fürchtete er, zu kühn herausgeredet zu haben, und wiederum halb trotzig, als bestünde er dennoch drauf.

Der Hochwald empfing uns jetzt mit seinem tiefen Schatten. Nur in der Höhe zog der goldige Abendschein noch um die Wipfel, und in der sinkenden Dämmerung erblassend, blickte da und dort ein Stück der schneeigen Häupter durch das düstere Grün. Indem wir nun in diesem Waldesdunkel weiter abwärts schritten, die Andern singend schon in weitem Vorsprung vor uns her, erzählte mir der Bursche weiter, schlicht, oft treffend an Gedanken, wenn auch im Worte unbeholfen, wie er durch ganz Italien, das er sich als frommes Land der Kirche ausgedacht, als eine einzige lange Wallfahrt vorgestellt, von Ort zu Ort, von Woche zu Woche unverkennbarer das dortige Pfaffenthum als eine schandbare Heuchlergesellschaft durchschaut habe. Wie er vollends in Rom im Lazareth, wo er fünf Tage krank gelegen, von andern deutschen Burschen, die so gläubig hergekommen waren wie er, dann Dinge erfahren, die ihm weiter dienten, und daß ihm bis Neapel schon der ganze Glaube an den Werth der 134 Wanderung nach Jerusalem verloren gegangen sei. Denn Alles stand ihm jetzt im Zweifel, was er bisher geglaubt, da er auf Schritt und Tritt hatte einsehen müssen, wie das Meiste was die Pfaffen lehrten, nur darauf ausging: »das dumme Volk nach ihrem Willen in der Hand zu halten, während sie selber vor seinen Augen das schändlichste Gegentheil von ihrer Lehre schamlos lebten.«

Am Meere in Neapel fanden dann überdies nur Drei von ihnen Zutritt auf das Pilgerschiff, und er und ein Genosse blieben brotlos und ohne alle Mittel dort zurück. Zwei Monate voll Elend und Gefahren brauchte es, bis sie nach dieser mißlungenen Wallfahrt wieder die ersten deutschen Laute in Tyrol vernahmen.

»Doch habe ich in dieser Zeit des Rückwärtswanderns grad noch einmal sehen können und noch viel deutlicher, was ich wissen wollte« – schloß er, – »und heute glaube ich gar nichts mehr! Gehn Sie . . . ich weiß jetzt wie ich dran bin, seit sie mich dort denken lehrten, und man macht mir nichts mehr vor!« Er wendete bei diesen Worten seinen Blick nach mir, mißtrauisch, ob ich wohl versuchen werde, ihm seine Meinung auszureden, und seine Miene schien zu sagen: gib Dir nur keine vergebliche Mühe!

»Da hast Du freilich viel erlebt,« erwiederte ich ruhig, – »und Dir die Augen gut gewaschen. Ja, ja, ich kann Dich nur begreifen!«

Verwunderung und Vertrauen war die Wirkung dieser Antwort. Er sah mich wieder fragend an. So 135 war ich also Keiner, der einem Menschen seines Schlages das Dummsein vorschreiben wollte?

»Wie hast Du Dich nun aber seither zur Kirche verhalten, da Du wieder im Lande bist? Du kannst doch wohl in diesem Ort nicht gänzlich anders thun, als alle Andern um Dich her?«

»Ich bin erst kurz im Dorfe. Doch geh' ich nie in meinem Leben mehr zur Beichte! Wie's sonst wird, weiß ich nicht. Die Leute sind vielleicht hier recht bigott; da muß halt einer schauen!«

»Nun, nun, und weißt Du, Eines sollst Du doch nicht thun: das Kind gleich mit dem Bade ausschütten, wie man so sagt. Es ist denn noch ein großer Unterschied zwischen den Pfaffensatzungen, die Du durchschaut hast, und zwischen der Religion selber, die Du damit verwirfst!«

Er machte eine Bewegung des hülflosen Unbehagens.

»Ja, das versteht halt Unsereiner nicht; ich hab' ja keine Bildung! Ich weiß nur das: daß ich einstweilen nichts mehr glauben kann und richte mich drum einzig noch nach dem, was jeder rechtschaffene Bursche aus sich selber weiß von Recht und Unrecht. Ich hätt' schon lange kein einziges Vaterunser mehr zu beten vermocht, und wenn's mir noch so schlecht erging« . . .

Bei diesen Worten ward er plötzlich stutzig, hielt den Schritt an, . . . ein Erinnern war ihm jäh erstanden und erheischte eine Aufklärung, von der er fühlte, daß sie, wenn er sie mir offen gab, eine tiefere Einweihung in sein Inneres wäre, als er heute nach dem kurzen Kennen eigentlich gewähren wollte. 136 Dies Bürschlein hat etwas so Ausdrucksvolles in seinen Zügen, seinem ganzen Körper; seine Seele spricht durch die Materie hindurch so wahrnehmbar zu Dem, der sich darauf versteht, daß ich Alles begriff, was in der flüchtigen Minute in ihm wogte, wo er zögernd stehen blieb.

Mit reinem Strahl ergoß sich jetzt das Licht des aufgegangenen Mondes durch die Föhrenwipfel hernieder, und ich konnte deutlicher sein bräunlichbleiches Angesicht betrachten. Verschämt und ehrlich, die Augen niederschlagend, hub er endlich an: »Sie müssen nicht glauben, ich hätte gebetet, als Sie mich damals auf dem Kirchhof vor dem Herrgott stehen sahn!«

Ich schwieg und sah ihn unbefangen an, ihm Zweifel lassend, ob ich Zeuge alles Dessen gewesen, was er dort gethan.

Er schien mich zu sondiren, dann, in aufwallender Vertrauensregung ein volles Ausschütten seines Herzens für das Bessere zu halten und fuhr fort: . . . »probiren, freilich, hab' ich schon wollen, ob ich's nicht wieder einmal könnte. Zuerst bin ich nur hineingegangen, weil ich das Thörlein grade offenstehen sah und dort den Herrgott hängen, und . . . es war ja Niemand drin! Den Hut hab' ich sogar noch auf dem Kopf behalten; ich wollte nicht Respekt vor Pfaffenzeug bekunden. Dann kam mir wirklich einen Augenblick die Lust zu beten. Aber . . . seh'n Sie . . . ich hatte gerade die Nacht zuvor in einem Heuschober übernachtet, trotz kaltem Schneegestöber, weil ich in dieser Gegend, wo der böseste Richter ist weitum, kein 137 Nachtquartier zu verlangen wagte. Und hatte, ausgehungert wie ich war, sehr hart gefroren und den ganzen neuen Tag auch nichts gekriegt. Wie mir nun dieses Alles einfiel, als ich dastand in dem tiefen Schnee und immer ärger Hunger litt und fror und auch noch gar nichts Anderes vor mir sah, – und Der, zu dem man betet, hing da droben, und sie hatten ihm lauter goldige Strahlen um den Kopf herum gemacht, und er half mir doch nicht, – – da ist mir, statt daß mir die Andacht kam, vor Grimm und Elend grade der Stecken aus den Händen gefallen und die Fäuste hab' ich ihm gemacht! Beten – hätt' ich nicht mehr können um Viel; es hat mir's ganz verschlagen, als mir so schlecht zu Muthe war. ›Er hat doch nichts für Dich gethan!‹ hab' ich gesagt, und über meiner Noth sind mir die Thränen gekommen, und das geschieht bei mir doch sonst fast nimmer!«

»Am andern Tage hab' ich auch richtig schon im Gefängniß gesessen, weil ich ein paar Pfennige zusammengebracht hatte. Vierundzwanzig Tage wegen ein paar Pfennigen! Der Mensch, dieser Richter, will den Ruhm haben, daß es in seinem Bezirke keinen Bettel gibt und da straft er so hart er will. Der stellt an jeden Handwerksburschen die Bedingniß, daß er, wenn er angehalten wird, einen Geldbetrag vorzuweisen hat, von dem er mindestens ein paar Tage leben kann. Den hatte ich freilich nicht! Woher auch? Ich kam ja grade vom Südtyrol herüber und aus Italien und war zufrieden, daß ich nur noch meine Füße hatte! Da wollte ich, bevor ich in den nächsten Flecken kam, wo dieser 138 Richter sitzt, hier noch das Nöthige zusammenbringen und wenn es nöthig wäre, selbst zusammenbetteln. Ein Bauer hieß mich jenen Abend eine Arbeit meines Handwerks bei ihm machen, gab mir dafür ein wenig Geld und behielt mich über Nacht. Der nächste Morgen brachte nichts als leere Abweisungen an jeder Thüre, wo ich zusprach. Und als ich um die Mittagszeit zuletzt anfing zu betteln, ward ich gleich erwischt.«

»Ich habe es gesehen,« warf ich ein, – »von Weitem, wie sie Dich mit einem Alten führten; ich dachte aber, man schiebe Euch bloß bis an die Grenze des Bezirks, sonst hätte ich wohl näher nachgefragt.«

Der Bursche schüttelte sich mit der Miene grellen Abscheus. »Mit jenem alten Säufer habe ich die ganze Zeit hindurch ein kaltes Loch getheilt! Ich war schon vielmal eingesperrt in all den Jahren meiner Wanderschaft, aber so elend noch nie! Vom zweiten Tag ab hatte ich immer Schmerzen, und von der Suppe, die es dort als einzige Nahrung gab, wär' Einer auf die Dauer schon halb krank geworden, so widerte die einen an. Das wußte der Wärter und hat es benützt. Meine vierundzwanzig geweihten Rosenkränze, die ich in Rom gekauft für meine Base, – sie hatte mir's so angelegentlich aufgetragen, – waren ihm in meinem Felleisen zu Gesicht gekommen, und Alle hat er mir pfiffig abgehandelt, an jedem Tag je einen gegen ein Stück Brot. Und weil wir in den kalten Tagen fast erfroren sind, hab' ich ihn immer wieder gefragt, ob ich nicht eine Arbeit thun dürft', Holz spalten oder Erde schaufeln, 139 nur um Bewegung zu haben. Nichts! So dasitzen, nichts thun und auf seine Schmerzen passen!«

»Der Hund!« entfuhr es mir da.

»Ach ja,« begütigte der Junge sogleich mit einem Bedürfniß der Rechtlichkeit – »aber so Einer muß auch mit der Zeit halb viehisch werden; er hat auch oft nur Vieh von Menschen unter sich; das kann ich selbst bezeugen; denn ich hab's genug erfahren.«

»Und als Du dann entlassen wurdest? Das muß nun doch schon eine Weile her sein!«

»Man machte grade eine Wasserleitung in dies Dorf. Und weil so vom Gefängniß heraus doch Keiner sogleich einen Meister findet, hab' ich halt nichts Anderes gewußt, als Erdarbeit zu thun. Es war wohl gar nicht meine Sache; denn ich bin ja nicht so stark gewachsen, wie es dazu nöthig ist! Doch konnte ich mitthun, und nach ein paar Wochen bekam ich dann den Platz im Dorf, als meinem jetzigen Meister ein Geselle fortgelaufen war. So bin ich hier geblieben.«

Wir waren im Gespräch den Bergwald abwärts auf den ebenen Pfad gelangt. Noch war es ziemlich dämmerhell hier außen in dem freiern Thalgrund. Der Mond schwamm hoch in klaren Lüften. Durch wilde Hinterauen, immer dem Ufer des Bergstroms folgend, zog sich der Weg ins Thal und führte als mondbeglänzter weißer Streifen durch das dunkle Gras dem Dorf entgegen. Die Kameraden meines Begleiters waren weit voraus schon in den Feldern und sangen ohne Ermüden ihre Lieder. 140

Mir war ganz sonderlich, daß ich da so in eines Andern Brust geschaut, und die Strecke Weges, die ich sonst so oft im tosenden Lärm dieses Wassers einsam durchschritten, schien mir heute wie ein Gang durch neue Orte, da dieser Zweite neben mir ging.

»Wirst Du nun im Dorfe bleiben oder bald wieder weiter wandern?«

»So lange der Meister mich behält! Wenn's auf den Sommer ginge, trieb' es mich vielleicht hinaus. Doch bald schon kommt der Herbst, und da muß einer froh sein, wenn er sich zum Winter halten kann, wo er grade ist; sonst steht er auf der Straße. Ich möchte wohl am liebsten immer nur in kürzeren Stellen sein und dagegen recht weit wandern und viel sehen. Man lernt dabei immer wieder Neues. Aber, damit man zu Gewandung und zu Zehrgeld kommt, ist man gezwungen, öfter wieder an einem ruhigen Ort eine längere Weile auszuharren.«

»Hast Du keine Eltern mehr, zu denen Du zuweilen gehen kannst, keine Mutter, die Dir für das Nöthigste sorgt?«

»Sie ist todt!« Er sagte das mit so sonderbarem Ton, so plötzlich abbrechend, als unterdrückte er einen weitern Ausspruch.

Ich sah ihn an. Er schien es als stumme Frage aufzufassen und fügte leis hinzu, so wie für sich: »Und wenn sie auch noch lebte, könnte ich sie doch nicht gerne haben . . .«

Ich schwieg betroffen, und da er weiter nichts mehr hören ließ, so fragte ich nach Näherem nicht. 141 Stumm ging er eine Weile neben mir her, den Stock in seiner Rechten lässig nach sich schleifend. Er schien im Widerstreit mit sich, ob er zu viel, zu wenig ausgesagt.

»Ist auch der Vater todt?«

»Nein, nein, mein Vater lebt, und der hat mich schon gern; er ist aber nur ein armer Zimmermann und hat genug für's eigene Brot zu sorgen. So lange ich klein war, hat er mich bei sich behalten, ob er auch kein Hauswesen mehr führte. Nicht einmal der Base hätt' er mich gegeben, die wir noch haben und die bei einem Pfarrer ist! Er ließ mich auch ein wenig schulen und hat mich noch ganz neu gekleidet, als ich dreizehn Jahre alt war. Dann mußte ich in die Lehre gehen, für die er auch noch baares Geld bezahlen mußte. Das war schon Opfer genug! Sein Lohn ist klein; und seit er einmal beide Beine gebrochen hat, ist es mit seiner Gesundheit nicht mehr so wie früher. Da! . . . sehn Sie . . . das hier ist mein Vater!« – und damit zog er aus einer großen vergriffenen Brieftasche, die seine Papiere, mit rother Schnur zusammengebunden, enthielt, eine verblaßte schlechte Photographie heraus. Ein unbeholfenes Bild eines Mannes, der die Haltung alles niedern Volkes zeigte, wenn man es portraitiren will, aus dessen nicht unschönen Zügen aber eine schwermüthige Güte sprach.

Ich mußte mich im Zwielicht dieser späten Abendstunde dicht darüber beugen und gewahrte, also Kopf an Kopf, wie gespannt des Sohnes Augen warteten, ob ich an seines Vaters Bildniß einen Antheil nehme. 142

»Gewiß ein guter Vater! Schreibst Du ihm auch zuweilen, da er Dich so liebt, wo Du Dich aufhältst und wie es Dir ergeht?«

»O schon, wenn ich ihm sagen kann, es gehe mir gut; sobald ich aber schlechte Zeiten habe, nicht; da muß er warten! Am nächsten Sonntag schreib' ich ihm zum ersten Mal, seit ich in Rom gewesen bin.«

In der Ferne, bei des Dorfes ersten Häusern, riefen jetzt die Kameraden nach dem weit Zurückgebliebenen: »Beppo . . Beppo!« Zur Seite in den Feldern war schon das Kastell.

Da bot ich ihm die Hand zum Abschied. »Hörst Du? Deine Kameraden rufen! Gute Nacht!«

»Ja, wohnen Sie denn da?« fragte er, verwundert, mich im freien Feld zu diesem einsamen alten Bauwerk meinen Weg nehmen zu sehn.

»Jawohl!«

Verlegen blieb er stehen, und es kostete ihn Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. So nahm nun unsre Unterhaltung ein so plötzliches Ende, da er doch eben erst warm geworden war? »Auf Wiedersehn!« zu sagen, wagte er nicht, und doch fiel es ihm sichtlich schwer, zu denken, daß er mich vielleicht nicht wieder treffen werde. Sein Auge blieb ganz kindlich fragend auf mir haften.

»Nun,« sagte ich da, – »wenn Du Lust hast, mich da drüben zu besuchen, so komm' am Sonntag, wenn Du Deinen Brief geschrieben hast.«

Ein Leuchten ging über sein Gesicht. »Ja – wenn Sie meinen, aber . . . Schon! ja schon! Mit Ihnen möcht' ich wohl noch reden dürfen!« 143

»So komm' Du nur! Du heißest Beppo, wenn ich recht gehört habe?«

»So nennen sie mich, aber nur aus Spaß, weil ich grad aus Italien komme, und weil scheint's hier im Dorf einmal ein Italiener war, so recht ein schwarzer Teufel, der sich Beppo nannte. Ich heiße Joseph!«

»Nun denn, auf Wiedersehn!«

Indem ich durch die hohen Halme schritt, die leis im Abendhauche wogten, habe ich ihn noch lange am gleichen Platz verweilen und mir nachschauen sehn.

 

Sonntag Nacht, 17. Juli.

Was für ein Menschenloos gleich meinem, das Leben dieses armen Beppo! Bestätigung zu Allem, was ich dem Himmel je von Anklagen hingeschleudert! Und ärmer noch, um ein Gewaltiges ärmer noch als ich! Denn ihm fehlt der Blick zu weiterer Ueberschau. Ein Mensch steht neben mir, der kein geistiges Gegengewicht hat in den Nöthen seines rauh herumgeworfenen Lebens, und der doch mit begabter, warmer, tiefer Seele all sein Elend fühlt und ein verzehrend Sehnen hat nach Besserem!

– Er kam, als traute er der Ehrlichkeit, der Dauer meines Interesses an einem so geringen Menschen, für den er sich hält, nicht eben recht, heute gegen Abend, klopfte schüchtern an und war zu Anfang noch in Scheu befangen. Dem einfachen Menschen schwindet so leicht die Sicherheit, wenn er den Boden freier Außenwelt, der gleiches Recht an Alle gibt, mit einem Raum 144 vertauschen muß, darin ein Anderer, gar ein Höherer, Herr ist.

Doch fühlte Beppo bald, daß ihm in meinen Mauern gleiche Freiheit zustand, wie auf unsrem letzten Gange. Und diese Stunde, die er bei mir zugebracht, hat mir sein Inneres erst ganz erschlossen.

Die Seele dieses Burschen nimmt im Leben Dinge auf, steht unter Eindrücken, von denen man sonst annimmt, daß sie nur im Boden des hochentwickelten Menschenthums zu keimfähigen Saatkörnern werden können. Er drückt das Alles unbeholfen aus, wenn er drauf kommt, naiv, auf seine eigene Weise, die ich aber mit dem Ohr der Seele wohl verstehe!

Wie viel von dem, was er mir anvertraute, war Echo meiner eigenen Leiden! Doch wie viel hoffnungsloser da, weil unerkannter! Und – durfte ich diesem dunkel Tastenden entdecken, wie er mir nur Beweis ist der Richtigkeit alles dessen, was ich längst selber aufgestellt an wilden Philosophieen? Im Gegentheil! Die Antheilnahme an eines andern Menschen Loos, die sich da unerwartet wieder regte in meinem Innern, zwingt mich hervorzusuchen, was diesem Schwankenden Muth und Streben geben und ihn aufrechthalten könnte! Und seit er von mir weggegangen ist, muß ich unaufhörlich sinnen über Dinge, die meinem Denken eben noch ganz fern gelegen haben! . . . . . .

Dem heimathlosen Wandernden, der keinen vertrauten Menschen hat, der jungen Seele, die sich nach etwas Gutem, Wärmendem sehnt, etwas zu geben, das ihr an jedem Orte bliebe, treibt es mich an. Doch wie? 145 da jener Halt, der einem Menschen von Beppo's Art ja einzig frommen kann: ein Gott und eine Religion des Glaubens und Vertrauens, in meiner eigenen Seele nicht besteht? Da ich ihn selbst noch nicht gefunden, vielleicht auch niemals wieder finde, wie sollte ich ihn einem Andern wecken? Für mich hätte ich das Suchen fürder aufgegeben! Das Leben mochte mir eines Tages selber offenbaren, was mir noch weiter zu erkennen bestimmt ist! Doch für diesen Andern, der nicht zu suchen begabt ist und der nun plötzlich an meine Seite trat, muß ich es unternehmen. Er heischt vertrauend Brot von mir – wie dürfte ich ihm Steine geben!

So suche, Adrian! . . so suche jetzt nach Brot!

Doch – bis ich finde, was ich ehrlich geben kann, was thue ich für ihn inzwischen? Kann ich sein äußeres Loos verbessern? Kaum! Und wie wenig würde das allein ihm bedeuten! Das Gegengewicht vielmehr muß ich ihm finden helfen gegen sein Geschick! Um das zu können aber, muß ich vor Allem neben ihm stehen, das fühle ich, nicht ferner über ihm. Die Wohlthat Derer, die von oben zahlend spenden, kann dem Armen nur die Noth des Augenblicks vermindern, des Elends Wurzel aber nicht berühren. Ich muß dem Heimathlosen Zufluchtsschooß gewähren, muß diesen Beppo, bis ich ihm ein Dauerndes zu geben habe, seine traurige Leere, seine arme Jugend vergessen machen, so gut es das Verhältniß zuläßt zwischen zwei Verschiedenen, wie wir sind. 146

 

Sonntag, 24. Juli.

. . . Er ist mir zuvorgekommen! Schon heute, wo ich auf solche Dinge noch keineswegs vorbereitet war, hat er mir mit scharfen Fragen Worte abgezwungen, von denen ich mich hinterher jetzt wundern muß, wie ich sie nur gefunden!

Ich hatte ihn zur Kirchenzeit bestellt, und da ein herrlicher Morgen war, so gingen wir zusammen dem Fluß entlang und dann bergauf, am Seelein der alten Veronika vorüber, dem schattenfrischen Hochwald zu. Dort haben wir unter einer alten Föhre, hoch am Berg, eine Holzknechtbank entdeckt und wollen jetzt des Sonntags öfter da zusammentreffen.

Zuerst erzählte Beppo mir von seiner Woche, dann auf meine Fragen seine Wanderschaften aus den letzten Jahren. Welch ein erbärmlich Leben, welch ein Wandern durch die Welt ist dieses! Vom Hunger und vom Schub der Häscher angetrieben, weiter, weiter. Bald allein, in Scheunen und auf Feldern übernachtend, bald in Gemeinschaft mit Genossen, deren Keinem nur zu trauen ist. Durch Wochen oft kein Geld und keine Arbeit. Dazu beständig die Furcht vor dem Abgefangenwerden. Doch alles das ertrage sich leicht im Sommer; der Wandertrieb scheint eine stille innere Wonne mitzubringen, die hundert Mühen und Entbehrungen auf sich nehmen läßt. Doch fällt die Zeit des Wanderns fast alljährlich auch in die Winterszeit. Denn, wenn eine Stellung ein paar Monate, im längsten Fall ein Jahr gedauert hat, so kommt meistens 147 gerade mit den ersten kalten Tagen des Meisters Abschied. Und wahres Elend wird dann auf Wochen so eines Burschen Loos. Der karge Lohn hat für Bekleidung und für ganzes Schuhwerk ausgereicht, aber für Ersparnisse ist kaum etwas übrig geblieben, und nun fehlt wieder auf unbestimmte Zeit der Verdienst. »Wenn etwa Einer aus Barmherzigkeit so einen Zugewanderten im Winter aushülfsweise einstellt, so nimmt man es wie ein Glück! Da streckt man unverhofft wieder ein paar Tage seine Füße unter einen Tisch und wohnt in einer Kammer, schläft in einem Bett und ißt, wie andere Menschen, warme Suppe!« Dann heißt es: weiter, wieder auf die kalte Straße, in die unbekannte Weite! Und dieses Leben führt nun Beppo schon ins vierte Jahr.

Wir kamen weiter im Gespräch und unsern tiefern Dingen näher.

»Wie kamst Du denn auf einen so kühnen Gedanken, wenn schon die Wanderschaft im eigenen Lande so Hartes bringt, gar nach Jerusalem zu wollen?« fragte ich.

»Ach was,« – erzählte er – »ich hab' gedacht: noch schlechter gehn als hierzulande kann es Dir ja nirgends! Und wenn Du hier durchkommst, so bringst Du Dich, so gut als einige Andere, auch bis nach Jerusalem durch. Und dann war einer von den Burschen, die ich traf und die dann Alle mitgehn wollten, der hatte ein gar großes Maul und machte uns die Sache leicht; ein Anderer war so sehr bigott, der that uns predigen, daß man denken mußte: wenn man diese 148 Wallfahrt mache, könne einem hernach nichts mehr fehlgehn im ganzen weitern Leben! 's ist ihm dann freilich übel fehlgegangen!«

»So? warum?«

»Das habe ich Ihnen ja das vorige Mal noch gar nicht erzählt: die Drei, die auf dem Schiffe angenommen wurden in Neapel, sind Alle umgekommen und haben Jerusalem nie gesehn. Das Schiff ging unter! Als wir Zwei, die zurückbleiben mußten, wieder nach Rom kamen, haben wir das im Lazareth erfahren, wo wir einen Landsmann besuchten.«

Ich stutzte. »Und da, was machte Dir das für einen Eindruck?«

»Nun, das war freilich eine Bewahrung, sagte ich zu mir. Aber sehn Sie, ob jetzt das wirklich Gott gewesen ist, oder Zufall, wer kann's wissen! Früher hätt' ich schon gesagt: das war der Herrgott selber, der Dich behütet hat, aber jetzt! . . . Kurios – bleibt's freilich, und ich muß noch oft darüber denken.«

Ich schwieg. Nun fühlte ich kommen, was auch kam. Was sollte ich thun? Ihm Gott einreden in diesem Fall? Er ließ mir aber nicht Zeit zum Ueberlegen.

»Was glauben denn Sie? wenn ich doch schon fragen darf,« rief er und schaute mir dabei scharf ins Gesicht, als ob er mir die Möglichkeit abschneiden wollte, irgendwie ausweichend zu antworten.

. . . »Nicht wahr, Sie glauben es auch nicht?« drängte er, da er aus meinem Schweigen ein Verneinen rieth. »Und Sie glauben gewiß auch nicht 149 mehr, daß wir es einmal später anderswo so viel besser haben, wenn's uns hier unten jetzt recht schlecht ergeht?«

»Wie könnte das Jemand mit Sicherheit entscheiden, Beppo!« wehrte ich ab. »Wer kann Dir da antworten: ja, oder nein!«

Er schaute mich unbefriedigt an. »Ja, aber was glauben denn Sie?«

»Ich . . . für mich selber . . . will es, möchte es immer wieder annehmen, daß es so sei, und ich möchte auch denken, daß es nicht Zufall ist, sondern Absicht, wenn uns etwas geschieht, oder wenn wir vor etwas bewahrt bleiben, wie Du dort!«

»Ja . . . hm . . . ich habe aber einmal Einen gehört – in einer Arbeiterversammlung ist's gewesen, und Kameraden hatten mich hingebracht, – der hat darüber eine ganze Rede gehalten und das hab' ich mir Alles wohl gemerkt. Was einem Einzelnen geschieht, hat Der erklärt, – bedeute gar nichts! Die Welt und die Sterne und der Himmel seien so groß, daß auf einen einzigen Menschen und was mit dem vorgehe, nichts ankomme! Und mit dem Seligwerden, das wir uns zum Trost einbilden, sei es auch nichts. Das sei ganz anders zu verstehen! Nicht wir selber thäten nach dem Tode weiterleben und selig sein, wie die Dummen und die Frommen es sich vorstellten, sondern wir seien dann mit unsrem Tode fertig, und nur das, was wir gemacht oder erdacht oder erfunden haben in diesem Leben, das bleibe von uns übrig. Und darum müsse Jeder die Zeit benützen, etwas Tüchtiges zustande zu bringen, wenn er nicht umsonst 150 gelebt und Alles ertragen haben wolle, und wenn noch etwas von ihm weiterleben soll.«

»So? – Und was hast Du Dir denn dabei für Dich gedacht?«

Da stieg eine Zornröthe in den Kopf des Burschen, eine Art ohnmächtiger Empörung über die dunkle Wirrniß, in der er seine Seele herumgestoßen fühlte.

»Was ich dachte? . . als ich das gehört? So! dacht ich, – dann kannst Du freilich zufrieden sein mit Deinem armseligen Leben! Ist ja schön, wenn von Dir einmal ein paar hölzerne Thüren noch halten, wenn Du selber dahin bist, und weiß kein Mensch, wer die gemacht hat; . . . und ein paar hundert Hobelspäne liegen noch herum! Sie können damit einen Ofen warm machen. Ist auch was! Lohnt sich schon, dafür ein Leben lang ein armer Teufel zu sein! So hab' ich zu mir selbst gesagt. Denn was soll Unsereiner etwa erdenken oder erfinden, damit er fortlebt? . . Aber aus dem Kopf bring' ich die Sache doch nicht! Es kann ja grade so gut wahr sein, daß es so ist, wie's jener Redner in der Versammlung erklärte, als so, wie es uns die Pfaffen vormachen. Er hat auch sonst noch viel gesagt, ich hatte auch noch Manches begriffen, als ich es hörte; aber so gut behalten konnt' ich es eben nicht, daß ich jetzt mit Ihnen noch davon diskuriren könnte!«

Als ich, verblüfft über die heiße Lebhaftigkeit, die der junge Bursche da plötzlich zeigte, nicht sogleich antwortete, legte er mir bittend die Hand auf den Arm: »So sagen Sie mir jetzt, was Sie davon glauben, und 151 daran will ich mich halten! Das muß das Rechte sein, und das glaub' ich dann auch!« Sein Blick ruhte auf meinen Lippen, halb angstvoll, halb gierig. Ich fühlte die ganze Verantwortlichkeit des Augenblicks.

Ich suchte, mit den Augen das Gewirr der braunen Nadeln, das Gewebe und Gezweige der Tannenwurzeln vor mir auf dem Waldboden verfolgend, nach Gedanken, die in dieser Lage das Richtige träfen. Und Beppo, neben mir, erwartete ungeduldig schon die Worte.

. . . »Ich glaube« – sagte ich nach einigem Besinnen, – »daß jener Mensch auf alle Fälle Unrecht hat; denn unsre Seele, die so Vieles leiden muß und die am Menschen die Hauptsache ist, die käme ja zu kurz, auch wenn der Geist die schönsten Wunderdinge hinterließe! Und all' die Millionen von Unglücklichen, die nicht mit höherem Geiste begabt sind und doch ihrerseits auch ebensoviel Hartes leiden, die wären ja ohne ihre Schuld im größten Nachtheil gegen die Begabteren. Wissen allerdings – kann ich ebensowenig etwas Sicheres wie Du, Beppo! Aber eine Lebensauffassung, nach der er leben mag, kann sich doch ein jeder Mensch nach dem, was er so selber an sich erfahren hat, mit der Zeit zusammenstellen! Und wenn Du durchaus wissen willst, wie ich Dir rathe, so höre: trachte jedenfalls auf Erden das Bestmögliche aus Dir zu machen und in jeder Lage Alles zu thun, was in Deinen Kräften liegt! Das ist auf alle Fälle und ohne Frage jedes Menschen Pflicht, und die spürt auch ein Jeder dunkel in seinem Innern. Nicht wahr?« 152

Beppo nickte.

»Sei ein so guter Handwerker als Du kannst, und ein so braver Mensch als Du sollst! Denn, wenn dann auch kein Glück von Außen kommt, so hast Du wenigstens im Innern Frieden. Das ist die Hauptsache im Leben und läßt uns alles Andere leichter tragen. Der Rest liegt ja doch außer unsrer Macht; das Schicksal trägt daran Verdienst und Schuld! Verstehst Du das?«

Er bejahte stumm.

»Doch dabei hoffe Du nur weiter ganz getrost, daß es ein späteres besseres Leben gebe! Denn, ob auch nicht bewiesen ist: es gebe eines, so ist doch noch viel weniger bewiesen: es gebe keines! Und tausend Dinge in und außer uns im Weltenall, die deuten mächtig darauf hin, daß nach dem Tode etwas Höheres, Besseres komme.«

Er hatte Wort um Wort in sich hineingesogen. Jetzt schüttelte er nachdenklich den Kopf. Er hatte Anderes erwartet. Einen leuchtenden grellen Blitzstrahl aus einem ungläubigen Geist, einen Blitzstrahl, der ihm vollends den letzten dunkeln Rest von dem hätte wegblenden sollen, was er für Pfaffengerede hielt. Jetzt hatte er Mühe, sich zurechtzufinden.

Ich aber, während ich so neben ihm saß, abwartend, was aus seinem Schweigen würde, begann erregt mit meinem Stock die Rinde einer umgestürzten Tanne vor mir wegzubrechen. Mich überkam es beinah wie Entsetzen über das, was ich gethan. Hatte ich nicht eben eine Untreue an mir selbst begangen? 153

»Wohin« – mußte ich mich plötzlich fragen – »ließest Du Dich führen? Du, der in Bitternissen Gereifte, der verneint, wirst hier durch dies verlassene Kind ein Prediger dessen, was Du selber bis zum heutigen Tag verwarfst. Wenn auch in weitester Fassung erst: Du bekanntest Gott!«

Beppo erhob sich, sagte nichts. Wir wanderten den Heimweg still und sinnend nebeneinander her. In meinen Ohren aber redete eine unwillkommene, aufdringliche Stimme leise fort und fort, gleich einem zweiten Ich, das zu dem ersten spräche und ihm zeigte, wo es wider Willen hingerathen war.

Die Mittagsglocken fingen an zu läuten. Wir waren ins Feld gelangt, und Beppo reichte mir die Hand zum Abschied. Es war mir, als erlöste er mich aus einem beklemmenden Traum

Treuherzig sagte er: »Ich muß das Alles, was Sie mir heute Morgen da gesagt haben, nun erst ein Weilchen bei mir behalten. Ich frage Sie vielleicht noch mehr . . . ein ander Mal, wenn ich nur dürfte! Es gibt sich ja sonst Niemand ab mit Unsereinem, und ich muß Ihnen schon viel danken für Ihre Geduld. Es muß gewiß recht dumm anzuhören sein, wenn man so viel weiß und es fragt Einer so einfältig?«

». . . Frag mich nur wieder! Komm am Sonntag in den Thurm –« glaube ich darauf gesagt zu haben. 154

 

Nachts

Auf dem Söller sitze ich und träume in die nächtige Weite und spüre stärker all das Irrsal in der Menschenbrust. Und die Gedanken, die mir seit diesem Morgen folgen, versuchen aus der Asche meines Herzens längsterloschene Fragen aufzuwecken. Umsonst! Ich frage nicht mehr.

Aber Beppo fragt!

O wissensdurstiger Jüngling, wärest Du jetzt hier, ich wiese Dir diese nächtige Weite. Da könntest Du, wie ich einst gethan, die ewigen Sterne ausforschen, die droben funkeln, und die Wellen des Bergbaches fragen, die drüben hinrauschen durch die Sommernacht, und könntest gleich mir auf ihre Antwort harren.

Dann würdest Du es plötzlich stärker funkeln sehen in dem Lichtermeer, wie ich es einst zu sehen glaubte, und lauter rauschen hören durch die weite stille Nacht, und wenn Du dann so recht inbrünstig lauschtest, so vernähmest wohl auch Du zuletzt der Wellen alte ewige Antwort: Schweige! . . Wir wollen durch die heilige Weltenstille rauschen!

 

Sonntag, 31. Juli.

Die Wochen scheinen mir schneller dahinzufließen, seitdem ich Beppo kenne und öfter um mich habe. An den Sonntagen weiß er sich seine regelmäßigen Stunden zu verschaffen, um bei mir zu sein, und in der Woche nach der Arbeit schleicht er sich jetzt auch zuweilen um 155 das Dorf und kommt an meinen Thurm. Ich habe ihm geboten, über mich zu schweigen, wenn er wolle, daß mein Kastell ihm offen sei. Ich will im Dorf ein Fremder, Ungekannter bleiben, und der Verkehr mit einem Einzelnen soll meine Abgeschlossenheit nach außen nicht zerstören. Das hält er denn auch strenge ein, mit einem feinen Instinkt, den ich bewundern muß.

Das Wesen Beppo's wird mir Wohlthat. Oft wenn er dasitzt, ohne daß ich mich mit ihm beschäftige, bald vom Altan ins Weite schauend, bald mit einem Buch am Tische, scheint mir, als strömte fühlbar Harmonie von diesem Menschen aus, hervorquellend aus seiner jungen, guten, schuldfreien Seele. Mir wird dann warm durch seine bloße Gegenwart, und an der Wirkung auf mein lang verpanzertes Gemüth muß ich erkennen, daß es ein Schönes, Gutes sein kann um das Wesen eines Menschen, wenn es noch frei geblieben ist von jeglicher Verkrüppelung durch des Lebens Stürme. Und Neues entdecke ich von Mal zu Mal in dieser feinen, seltenen Natur! Ein helles Merken, seltsame Ideen und Gelüste, als Ausfluß einer begabten Eigenart.

Was mich jedoch an ihm verwundert, ist sein starker träumerischer Zug. An ihm! der gar nichts hat, an was er sich als an vergangenes Glück in solchen Augenblicken erinnern könnte, wo er ganz traumverloren vor sich hin ins Leere blickt.

Den gleichen Hang habe ich auf meinen weiten Fahrten durch die Welt bei Menschen aus dem niedern Volke zwar oft getroffen, doch meistens waren das 156 Geschöpfe, die, einem schönen oder eigenartigen Land entstammend, ihr Leben fern davon verbringen mußten und dann von Zeit zu Zeit von einer unbewußten Heimwehstimmung überfallen wurden. Ein Glück, ein Reich der Kindheit, eine mächtige Natur, Meer oder Berge, die fern im Raum oder im Vergangenen lagen, waren ihres Träumens Gegenstand. Bei Beppo fehlt das Alles! Nicht einmal so viel hat das Geschick für ihn gehabt! Zuweilen spricht er von den engen, düstern Gassen einer alten Stadt, drin er geboren, und wie dort Kinder seine Spielgenossen waren, die bei der öftern Wohnungsänderung all der armen Eltern beständig wieder wechselten. Nur an alte Festungswälle mit großen Linden erinnert er sich, von deren Höhe aus er zuerst in die weite Ferne und an waldige Höhen gesehen und wo er den ersten Wandertrieb verspürt hat.

Das Bild der Mutter sieht er nur verzerrt: eine ehemals schöne, schlaue, heftige Frau, die in den Jahren, da er sie gekannt, durch Trunk schon tief gesunken war und ihrem braven Manne Schulden und Schande machte. Beppo war siebenjährig, als sie starb. Der Vater aber hatte ihm, da er ihn noch halb Kind nach Brot gehn heißen mußte, ins Leben gar nichts mitzugeben gehabt, als den Verweis auf Gottesfurcht und Glauben. Und selbst dies Einzige war ihm nun zerstört.

Trotzdem ihm also jede sonnige Erinnerung an eine Heimath fehlt, verfällt auch er in dieses Sinnen, das bei den Andern stille Trauer um eine verschwundene glückliche Jugend ist. 157

So scheint der fühlende Mensch, wenn er den Schmerz der wachsenden Lebenserfahrung tief verspürt, die bloße Unbewußtheit seiner frühern Jahre schon für ein entrissenes Glück zu nehmen und hängt in unbestimmten Träumen dem Vergangenen nach wie einem verlorenen Paradiese.

Auch heute Morgen saß er also sinnend in einer Ecke meines Söllers und wartete, bis ich bereit war, mit ihm fortzuwandern, nach unsrer Bank im Hochwald droben. Er schaute wortlos zwischen dem grünen Schlingwerk der Brüstung hinaus ins Feld, wo mit Bachesrauschen und Käfersummen und all dem weiten, leisen, tausendfältigen Brauen der Sommermorgen seinen Zauber spann. Seine Hände lagen still gefaltet zwischen seinen Knieen, wie immer, wenn er mir zuhört oder wenn er träumt.

Als ich ihn nun so gewahrte, traf mein Blick, von seinem Gesicht wegschweifend, plötzlich ebendie Hände, und ein Zucken durchfuhr mich: – im Anblick dieser großen, übermäßig entwickelten, groben Arbeitshände! In ihrer ergebenen Bewegung bei dieser fast ungeschlachten Stärke und Verhärtung lag etwas unaussprechlich Rührendes, Bemitleidenswerthes und wieder beklemmend Trauriges: die Lebens- und Resignationsgeschichte einer ganzen Menschenklasse! Sie schienen mir, Wahrzeichen eines Erdenlooses, in ihrem schwerfälligen Daliegen und Ruhen in höhnischem Widerspruch zu stehen mit dem Kopf, der sich da gegen die Morgenhelle zeichnete. Dies Antlitz zu betrachten, diese Linien des Hauptes in ihrer erlesen feinen Schönheit, ja, den 158 ganzen zarten Organismus dieses jungen Menschen, der nur gemacht schien für die Quintessenz des Lebens, der edel ist in jener Art, wie wir es sonst nur als Ergebniß langer Vererbung innerhalb der höchstentwickelten Klassen finden – und dazu diese Hände! Abkömmlinge der Niedrigkeit, der bittern Armuth, die im allzu harten Kampf ums Brot sich bis ins Unverhältnißmäßige ausbilden mußten!

Einen Augenblick wollte sich mir das wie traurige Bestätigung des Darwin'schen Satzes von der Anpassung und Vererbung aufdrängen, im Anblick dieses armen menschlichen Arbeitsthieres.

Beppo bemerkte nicht, daß ich ihn aus dem Innern meines Thurmgemachs betrachtete. Sein dunkles Auge blickte unter den langen schwarzen Wimpern hervor nachdenklich immerzu ins Weite, und auf den feinen Lippen lag ein Ausdruck stillen Ernstes. Indem ich ungestört so Zug um Zug das Rührende an ihm gewahrte und verfolgte, wollte mich's bedünken: Der müßte Alles verstehen, was ich ihm sagen könnte. So sehr schien mir sein Angesicht jetzt der Spiegel einer tiefen Seele.

Und doch! – wie rufen mir dann plötzlich wieder gewisse Dinge die ganze ungeheure Kluft ins Gedächtniß, die zwischen ihm und mir, – dem armen Kinde des niedersten Volkes, das ohne Erziehung immer nur herumgestoßen lebte, und dem Gebildeten liegt, der zu dem vollen freien Gebrauch seiner Seelen- und Geisteskräfte entwickelt, dadurch auch sicher in sich selber ist! 159

Er, den die groben Scheltworte seiner Meister, die gemeine Herumbalgerei mit seinen Genossen nicht mehr verletzt, der über den gröbsten Schmähungen der Unbarmherzigen und der Häscher nicht mehr zornroth wird, erröthet, wenn ein warmes Wort von mir ihn fühlen läßt, daß ich jetzt mehr als bloßes Interesse an seinem Erzählen nehme, daß ich ihn selber schätze, um seines Wesens willen. Er bleibt, so unbefangen und mittheilsam er sonst geworden ist, dann sichtlich erstaunt: daß eine gütige Behandlung und ein Mitgefühl andauern können. Und oft scheint mir, als wartete er in einem Augenblick, wo ihn ein solches Wort der Freundlichkeit beglückt, mit angehaltenem Athem darauf: wann denn zu all dem Licht der Schatten endlich komme?

 

Sonntag 7. August.

Es ist für mich ein wahres Studium, wie ich in Wort und That für Beppo stets das Richtige treffen mag und ihm, gerade indem ich immerfort den ganzen Unterschied zwischen seiner und meiner Stufe im Auge behalte, diesen nie zum Bewußtsein kommen lasse.

Wie schwer ist es, das lerne ich im nähern Umgang erst erkennen: in einer Weise, die zu wirklicher Wohlthat wird, einem niedriggeborenen, gehetzten und an nichts Gutes gewöhnten Menschen Freund zu sein! . . . 160

 

Montag, 8. August.

. . . Sympathie? . . = Zusammen leiden! –


 

Donnerstag, 11. August
im Felsenthal der sieben Quellen.
(Aus einem Notizbuch.)

Seit vielen Tagen hat der Himmel seine Ströme hernieder gesandt, und Thal und Bergwelt ringsumher sind in ein frostiges unermeßliches Grau gesunken. Da stieg ich wieder einmal einsam in die wilden Klüfte, die ganzen Schauer dieser regenschweren Bergnatur in meine Seele tief und still zu athmen.

. . . Hier, unterhalb des großen Felsenkessels und im Schutze dieser Wand schau' ich seit einer Stunde einem düstergroßen Schauspiel zu. Vom Thale, wo ich hergekommen, trennt mich schon der Riesenwall der schwarzen Wände, von denen Regenbäche stäubend niederschießen. Und vor mir baut sich sündfluthhaft das Bild der nebelnassen Felseneinsamkeit.

Von unten steigt dort dunkel ein Waldberg wie ein Vorbau aus der Tiefe und zieht sich schräg durch all' das Grau hinan. Seines Kammes finstere Tannen, geisterhaft gezeichnet auf den kalten Dunst, besäumen ihn mit schwarzen Zacken, wie mit dornigen Schuppen eines Ungeheuers. Und hinter ihm, schwächer sichtbar in der feuchten Nebelluft, baut sich des Schroffensteins gewaltige Pyramide auf. 161

Der Tiefe, wo am Fuß des Felsenriesen in enger Schlucht der Bergstrom rollt, entsteigen brauend ohne Ende weiße Dämpfe und ziehen langsam, gleich den feierlichen Quälmen, die das Erscheinen der Erdgeister ankünden sollen, am ragenden Fels empor, sich hier zertheilend, dort aufs Neue suchend und sich zu sagenhaften Dunstgebilden formend, bei deren Anblick sich die Menschenseele mit großen unbestimmten Schauern füllt. Dort droben in den höchsten Höhn verlieren sie sich, wo das Auge nichts mehr zu erkennen vermag, als unermeßliches gleißendes Grau – ob sprühende Nebel, aus Lüften geboren? ob wirbelndes Schneien? ob Wolkenregion?

Im Anblick dieses Wallens ganz verloren, fühle ich, wie ich mich über diesem hehren Schauspiel selbst vergesse. Mein Athem einzig, den ich in der ungeheuren Stille dieser Nebelwelt als Laut vernehme, gibt mir Bewußtsein, daß ich da bin, ich, ein einzig lebend Wesen mit der ewigen Natur allein, in diesem frostigen Bergweltdämmern.

. . . Ob wohl die Wolken, wenn sie so, aus Nichts geboren, in flüchtigem Dasein über diese Felsenweite ziehn, am trotzigen Steinriff drüben wieder zu zerfließen, ob sie sich auch als ein Geschaffenes fühlen und bangend Fragen in sich wälzen? Sie, als ein gar so schnell schon der Vergänglichkeit Verfallenes! Oder warum erwecken sie uns Menschenkreaturen in Wesen und Bewegen die Empfindung von beängstigender Flüchtigkeit? . . .

Ob wohl dagegen diese Felsenmauern, die Jahrtausende mit Lenzeswehen, Sommerbrand und 162 Winterstarrheit wirkungslos an sich vorüberziehen sahen, ob diese dauerhafteren Materien, diese ältesten Formen ein Erinnern in sich bergen, ein Bewußtsein haben, ihrer ungeheuren Dauer, und dadurch ein Gefühl von Sicherheit, – daß ihre Erscheinung auf uns diesen majestätischen Eindruck ausübt von Ruhe und erhabener Ueberlegenheit, – daß sie uns vor uns selber zu Ameisenwesen, zu einem winzigen Nichts heruntersetzen und in ihrem stummen Predigen von Riesendauer fast erdrücken? Und sind sie dabei wohl glücklicher als wir?

. . . Die Dämpfe drüben qualmen reicher. Der Waldberg, da die Dämmerung allmälig naht, will täuschend einem Drachen gleichen, der dort kauert, und jene Dünste strömen ihm aus seines Rückens Zacken. Die Lüfte wallen schnell und schneller. Ein großes wildes Lied scheint dort im Rund der Gipfel zu erbrausen.

Am Ende redet es in diesen grauen Lüften von Gebilde zu Gebilde: wie da droben Alles voll von stummem ewigem Genügen sei, wie Jedes von dem Flüchtigen und von dem Dauernden, was ich erschaue, ein höheres Sein bedeute, als das Menschendasein ist, und daß sie nach der überstandenen Zeit des Menschenlebens, das auch sie einstmals durchschritten, das Bittere für ewig überwunden haben. Am Ende sind sie Alle, die da droben ziehn und ragen, aufgerückt zur Stufe seligen Einsgefühls mit einem Allerhöchsten, Ewigen und Vollkommenen und sehn auf mich, den Erdenwurm, der noch zu ihren Füßen ringt, voll hehren Mitleids nieder?

. . . Jetzt weitet sich auf flüchtige Spannen oben das gewaltige Rund des Felsenkessels, und auf dem Meer 163 des weißen Dunstes, der ihn füllt, beginnen plötzlich, unentdeckbar wo entstanden, flüchtige dunklere Streifen einherzuflattern. Sie haschen sich, vermischen sich und dehnen sich in eiliger Flucht zu weithinreichenden Geländen, die dort ins Leere der Lüfte trügerisch viel neue ragende Zacken zeichnen, so blitzschnell und so täuschend, als träte aus zerstiebendem Nebelvorhang ein wirkliches zweites Gebirg hervor. Ein Blendwerk! wie es fern auf Meeresweiten die Fata morgana irrenden Schiffern als Ufer vorgaukelt.

Vom Windhauch aus der Tiefe hergeleitet, schweben andere, neue Gebilde daher, gespenstische Fetzen, Geisterschaaren gleich, und gleiten wie in feierlichem Reigen unheimlich lautlos jenem trügerischen Dunstgeländ entlang. Ein Schauspiel der Urwelt, die sich in sich selbst ergötzt! Und ich, ich Menschenwurm, bin stiller Zeuge! Ach, daß ich so, in diesem Anblick völlig mich vergessend, in dieser entrückenden Musik des ewiggroßen Weltenrauschens mich verlieren könnte und niemals, niemals mehr erwachte! . . . . .

Jedoch – ich lebe und wache und lausche! Daß Ihr drum wenigstens eine Sprache reden möchtet, Ihr großen Schweigenden ringsum, die meiner Menschenseele verständlich, ihr den einen Glauben wiedergäbe, den sie verzweifelnd weggeworfen: daß so wie Ihr da droben, so auch wir hier unten vernünftigen Zweck und Sendung haben! Möchtet Ihr mir nur die einzige Gewißheit geben: daß was der Einzelne hienieden als seine Sendung ahnt, auch wirklich seines Lebens Zweck bedeute, und daß er, wenn er dieses Eine 164 nur erfüllt, zugleich auch seines Daseins ganzen Zweck erreiche!

. . . Die Felseneinsamkeit hier oben wird mir heute neuerdings zum Ort der stillen Sammlung und des Ueberschauens. In diesen stummen Höhen hört wie nirgendwo das Herz sich ungehindert selbst!

O all' Ihr kühlen Nebelwogen, die Ihr um meine Stirne streift, weckt mir Gedanken, die mir endlich aus dem Dunkel leuchten! Du wilderhabene, andachtvolle Dämmerstille, gib meiner Seele Ahnen: was sie fürder soll!

 

11. August, Nachts.

. . . Ich habe im Abstieg aus dem Felsenthal das Mädchen aus dem Karhof wiedergesehn! Dort in der Tiefe lag die Alp – hier oben führte der schmale Steig seitwärts vorüber – ich mußte hinab!

Ich traf sie ganz allein und hielt bei einer Schüssel Milch an ihrem Heerde Rast. Und was ich in der kurzen Stunde heute erschaut und was sie, mit dem Rocken ihrer Bäurin gegenübersitzend, zu mir gesprochen, das Alles hat mir den Eindruck jener Nacht bestätigt und erhöht: daß hier ein stolzes Räthsel wohnt!

Doch habe ich vorzeitigen Abschied nehmen müssen, weil die Knechte des Nebels wegen früher aus dem Holz heimkehrten. Auffallend war mir da die Art von Scheu, mit der sie alle Drei, obgleich die Meisterin nicht zu Hause war, sich in gemessener Entfernung von der Dirne hielten.

Das ist nicht Brauch im Volk und läßt mich vollends fragen, wie dies Geschöpf in diese entlegene 165 Hütte kam und wie sie es vermag, bei dem schwachen Regimente einer alten Frau drei Knechte so in Schranken zu halten und unbehelligt dazustehn? . . .

 

13. August.

Ein trauriges Ereigniß hat mich aus den abenteuerlichen Gedanken gerissen, die mich seit meiner neuen Einkehr auf Karhof erfüllten!

Veronika, die Heldin im Ertragen, ist jäh dem Erdenleid enthoben, zu jenem bessern Leben eingegangen, an das sie so unerschütterlich geglaubt.

Der bleiche Vitus kam verstörten Angesichtes gestern auf mich zugelaufen, als ich zur Abendzeit vom Feld her kam, und bat mich, doch mit ihm nach Hause an den See zu kommen, wo Veronika im Sterben liege.

Der alte Othmar hatte wieder einmal mit ihr getobt, und plötzlich, die Vertheidigung noch auf den Lippen, sei das arme Weib wortlos zusammengestürzt. Ein Herzkrampf hatte sie, wie früher schon, befallen, und die zwei Männer hatten sie zu Bette tragen müssen. Sie fühlte auch bald, daß dieses Mal das letzte sei, und seit zwei Stunden liege sie sterbend in der Kammer. Da habe sie zu Vitus leis gesagt, sie wünschte nur, sie könnte mich noch sehen. Ich solle doch noch kommen, ihr die Hand zu geben.

Ich eilig dahin und den weiten Weg von einer Stunde in das Seitenthal in halber Zeit zurückgelegt, den Vitus im Anstieg hinter mir lassend. Ich trete in die Hütte und in die Kammer. Ueber den eklen 166 Anblick, den der alte Othmar bot, der jetzt verstört, geknickt und winselnd, gleich einem Knäuel neben dem Bette kauerte, hob mich das Bild, das ich dahinter schaute, ganz hinweg.

Da lag die müde Dulderin still und bleich, von ihres Körpers Schmerzen eben auch verlassen, regungslos, und sah verklärt vor sich empor, den Tod erwartend, der mit dieser eingetretenen Schwäche nahte.

Als ich mich über sie beugte, flog ihr altes Lächeln über ihr Gesicht; sie hob die Hand und faßte schnell die meine, und ihre Lippen fingen bebend an zu flüstern: »Sind Sie da! . . o mein! . . nun sehn Sie, wie's der Herrgott gut meint zu der Stunde, da es ihm gefällt! Bald bin ich hinüber . . und drum wollt' ich, daß Sie sähen, wie glücklich und leicht der Mensch doch sterben kann, wenn er fest an seinem Herren hält.« Sie sah mich so von der Seite mütterlich an: »Ich mein' halt immer, lieber Herr, so recht haben Sie das doch nicht annehmen wollen, was ich Ihnen gesagt hab' von meinem Glauben und wie der Alles tragen hilft! . . Nun kann ich's Ihnen mit dieser Stunde bezeugen . . und drum habe ich Sie so hergewünscht! Mir ist ja, als wäre nie Etwas gewesen, als grade dieser Augenblick! . . das Andere ist dahinten und vergessen. Ich fürchte mich nicht . . . seine Gnade wird mir schon vergeben, was ich als armer Mensch gefehlt . . . und freuen . . ach Herr! freuen thu' ich mich, daß ich darin fast hier schon selig bin!« . .

Der Alte, als sie dieses sprach, erhob sich und rannte heulend aus der Thüre. »Othmar!« – 167 versuchte sie ihm nachzurufen, doch da er nicht zurückkam, winkte sie mit der Hand, ich solle ihn nicht holen. Sie habe ihm verziehen, sie habe ihm gelobt, daß sie für Alles, was ihn plötzlich ängstige, vor des Herrgotts Thron um Gnade flehen werde. Umsonst! Er war, seit er sie sterben sah, wie vom Verstand. Aber noch selbstisch in der furchtbaren Stunde, beklagte er in einem fort: daß fürder Niemand mehr ihn recht besorgen werde, wie er es brauche, daß Keiner mehr Acht haben werde auf sein Haus! – dazwischen wieder wechselnd die verspätete Reue und flehentliches Selbstbejammern über diese Qual. Ein schauerliches Schauspiel entwaffneter Rohheit und seelischer Schwäche, vor dem ein jedes Trostwort werthlos blieb.

Am Abend ist Veronika sanft erloschen, – und furchtbar: heute Morgen fanden sie den Othmar todt im See. Er hatte sich, unfähig, das Geschehene zu ertragen, in der Nacht ertränkt. Genau, wie mir Veronika einmal in Thränen prophezeite für den Fall, daß er sie eines Tages durch seine Schuld verlieren sollte!

– In meiner Seele lebst Du weiter, gute alte Frau! Ueber Dich zu denken ist der Inhalt dieser Tage, und mir immer wieder zu vergegenwärtigen, wie ich in Dir die feste Himmelshoffnung einer gläubigen Seele über alles Grauen der Vernichtung lächelnd siegen sah und in Deinen Augen einen überirdischen Freudenstrahl aufleuchten. So wird Deine Freundschaft für mich fremden Mann über Deinen Tod hinaus still weiterwirken!168

 

17. August.

In dem uralten vergriffenen Gebetbuche der guten Veronika, das mir Vitus heut zum Angedenken überbrachte, und das sich »Himmelskron eines wahren Christen« nennt, lag mit einem eingeschobenen Zweiglein noch von ihrer Hand in den letzten Tagen die Stelle angemerkt:

»ein einfältiger und unschuldiger Mensch findet im Leben und Leiden des Herrn mehr Heiligkeit und Reinigung, mehr Wissenschaft und Klugheit gegen alle hinterlistige Tücke des Teufels, gegen alle Irrthümer der Welt und Befleckungen des Lasters, als ein hochmüthiger Grübler und spitzfindiger Zankmeister in der Betrachtung des ganzen Weltgebäudes.

Drum suche Du vielmehr Trost in andächtigen Gebeten und Thränen, als in hohen Fragen! Studire im Buche Deines Gewissens! Fliehe den Schatten des eitlen Ruhmes, verbirg das Oel mit den klugen Jungfrauen in Deinem Gefäße! Lege Deinen Herzensschatz ins verborgene Thal der Demuth! Denn, suchest Du die höchste und wahre Ehre, so eile mit ganzer Sehnsucht in jenes wahre Vaterland, das droben ist! Und Jesus Christus, Maria und alle Heiligen führen uns, daß wir es glücklich erreichen mögen. Amen.«

 

Sonntag, 23. August.

Beppo, der heute kommen sollte, blieb aus.

Ich konnte mir den Grund nicht denken. Arbeit? – Am Sonntag? Abhaltung? – Doch was? Für ihn, der sich wohl durch nichts verhindern läßt, hierher zu eilen, sobald die Stunde schlägt, auf die er sich die ganze Woche freut! 169

Am Abend gehe ich hinter Bauersleuten her, dem Dorfe zu. Da höre ich, wie Einer eben erzählt, daß gestern beim Schreiner ein Geselle heruntergestürzt sei und den Fuß gebrochen habe. Der junge sei es, »der da mit dem schwarzen Kopf«.

Beppo! – kein Zweifel! . . . Ich hin zum Meister, frage nach dem Jungen, und ein brummiges Weib, das mich nicht kennt, weist mir die Stube an, darin er liege. An Haus und Holzschuppen angebaut ein langes niederes Gelaß mit drei Gesellenbetten; diese elend, nur das Nöthigste darauf. Ein stark vergittertes Fenster, das ins Grüne auf die Wiesen geht zum Dorfsaum in der Richtung gegen das Kastell, ließ in der eingebrochenen Dämmerstunde noch ein bleiches Licht in diese düstere Höhle fallen. Im Bett zunächst dem Fenster in der Ecke, tief im Schatten, entdeckte ich Beppo. Er schien aus einem Schlummer aufzuwachen und mein Erscheinen noch für Traum zu halten. Er mußte erst näher zusehn: ja, ich war es. Vorsichtig spähte er, ob außer mir noch jemand zugegen sei. Ich war allein, die Thüre hinter mir ins Schloß gefallen. Da fing er, ohne mir ein Wort zu sagen, leise an zu weinen, deckte mit dem einen Arm die Augen zu und streckte mir die andere Hand entgegen, wie ein Kind, dem Kummer seine Lippen schließt.

»Was ist mit Dir?«

Er deutete auf seinen Fuß.

»Gebrochen?«

Nur ein stummes Nicken.

»Was haben sie damit gethan? Er ist doch eingerichtet?« 170

»Eingerichtet?« nickte er . . . »o ja, er ist schon zweimal eingerichtet!« Und in aufzuckenden wilden Schmerzen wand er sich von einer Seite auf die andere.

»Erzähle mir Beppo! Was und wie?«

Er richtete sich auf in seinem Bette und legte vielbedeutend einen Finger an die Lippen, mit seinen Blicken nach einer niedern Thüre deutend, die, von mir noch nicht bemerkt, dort hinten die Kammer mit des Meisters Wohnung verband. Dann lispelte er leise in mein Ohr, was ihm geschehen: zuerst, nachdem das Unglück ihn betroffen, gestern Abend, sei der Arzt noch nicht zu Hause und nur der Bader des Dorfes zu finden gewesen. Der habe ihm den Fuß auch ganz geschickt und mit viel Sorgfalt, ja sogar mit Schonung eingerichtet. »Ein guter Mann,« bemerkte Beppo –, »der sich doch denken kann, wie Unsereinem zu Muth ist, wenn er arbeitsunfähig wird auf unbestimmt wie lange!« Er habe den Fuß gewickelt und ihn dann gebettet, wie er liegen sollte.

Doch heute, am Morgen, da man Beppo in das Krankenhaus des Dorfes angemeldet hatte, sei der Arzt dahergerannt, ein alter roher, in Gewaltthat mächtig gewordener Dorfdespot, der hier bei dem gelassenen Volke so zu regieren gewohnt ist, als wären sie Alle Hunde und er der Herr. Der habe begehrt, erst selbst den Fuß zu sehen, habe das schon Verbundene wieder aufgerissen und ohne Obacht auf den übermäßigen Schmerz des Kranken barsch probirt, ob das auch wirklich ein Fußbruch sei. Da hatte er ihn unachtsam von Neuem auseinandergerissen, und von Neuem mußte er 171 eingerichtet werden. Darauf ein rohes Lamentiren über die Dummheit solcher Vagabunden, die das Arbeiten so verlernt hätten, daß wenn sie wieder einmal irgendwo anpacken sollten, sie eine Hand hoch über dem Erdboden schon ihre Knochen brächen. Das werde schon heilen! In zehn Tagen müsse er wieder ans Zeug! Und Krankenhaus – jawohl! wegen solcher Dummheiten! Man werde um einer Nichtigkeit willen das Haus, das schon seit Wochen von Kranken leer sei, öffnen und einen Wärter stellen! Wegen eines einzigen Schreinergesellen, der seine Augen hätte brauchen können und sich vorsehen, wo er hintrete! Er solle hier bleiben wegen der paar Tage; der Meister werde ihm das bischen Essen schon noch gönnen! 2. 2.

In diesem Augenblick erknarrte jene Thüre, und die Meisterin, das brummige Weib von vorhin, trat herein, neugierig was der Fremde wohl bei dem Gesellen thue, und ob es gar etwa ein Klingendes von Unterstützung gebe.

Beppo ward still. Das Weib trat vor und frug an, mir mit widerlicher Logik zu erklären: »Daß sie ›so Einen‹ der nicht schaffen könne, auch nicht zu ernähren und noch weniger zu pflegen in der Lage sei. Sie haben selber Mäuler genug im Haus, ein Schäärlein Kinder, – wüßte nicht, woher sie Zeit und Nahrung nähme, auch noch so zugereiste Gesellen zu speisen und zu besorgen. Der Joseph solle nur ins Krankenhaus, dorthin gehöre er, und eine Meistersfrau sei nicht verpflichtet, aus ihrer Kammer ein Spital zu machen!« Dann drehte sie den Rücken und verschwand. 172

Da richtete sich Beppo abermals empor. Auf seinem Antlitz, das nur allzudeutlich Spuren überstandener großer Körperschmerzen trug, erschien ein Ausdruck, den ich bisher nie darauf gesehen: der königliche Ausdruck eines Menschen, den man in einem hülflosen Augenblick in seinem Stolze roh verwundet. Der hoch erhobene Kopf erschien im fahlen Abendstrahl jetzt doppelt bleich auf seinem braunen schlanken Halse, und in die Stirne war das dunkle Haar in ungeordnetem Gewirr hereingefallen. Darunter aber flammten seltsam seine Augen. Er wollte, so schien mir, sprechen, vermochte es aber nicht. Die Stimme versagte ihm. Er sah mich an, die stolzen traurigen Augen wurden groß und größer, wild, wie um Hülfe flehend, drang, je länger er nicht Worte fand, umsomehr sein Blick in mich hinein. Dann traten plötzlich große Thränen hervor, sein Mund verzerrte sich zu neuem stillem Weinen: ein stumm ohnmächtiger Zornschrei einer Seele, die, vergewaltigt, litt!

»Sei nur getrost, mein Junge!« rief ich und nahm den armen Burschen in meine Arme, – »die Sache wird sich ordnen! Dafür steh' ich Dir gut! Es soll nicht ungestört geschehen, daß wo Du gute Rechte hast, Du der schnöden widerwilligen Gnade eines solchen Weibes überantwortet bleibst!«

Der arme Junge, übermüde von den Schmerzen und fieberig, gab keine Silbe von sich, blieb nur, wie in einem schützenden Asyl, in meinen Arm gelehnt.

»Nicht wahr Beppo, Du zahltest doch den Beitrag an die Krankenkasse, wie es das Gesetz verlangt?« 173

»O jeh . . Die holten es ja selber gleich am zweiten Tag!«

»Und bist es seither niemals schuldig geblieben?«

»Nein!«

»Nun wohl! . . Leg' Dich zurück und suche nun zu schlafen. Und von der Meisterin verlange einstweilen Dein Essen gegen Geld, genau als ob Du hier im Gasthaus wärest. Ich werde es bezahlen.«

In meiner Empörung gedachte ich den Arzt erst aufzusuchen; doch als ich draußen auf der stillen dunkeln Straße ging, kam ich zu ruhigerem Ueberlegen. Was konnte das für Beppo werden, wenn ich ihn durch unangebrachtes Erzwingen seines guten Rechtes zugleich in jenes Menschen Hände auslieferte!

Beim Bader sah ich Licht – da fiel mir plötzlich ein Weg ein, jede weitere Demüthigung des Wehrlosen abzuschneiden und kurz besonnen ging ich in das Haus. Ich fragte den Mann, wie des Jungen Zustand sei und wie lange die Heilung dauern werde.

»Mein! . . guter Herr,« sprach Der, – »wenn zu so einem Menschen recht geschaut würde, es wär' ja nicht so schlimm! Aber wie ist das! Kaum heilt's zusammen, so soll so Einer wieder auf die Beine. Die Meisterin – 's ist freilich selber Keine, die was Uebriges hat, – die wird ihn aus dem Neste jagen, bevor er nur recht stehen kann. Dann bleibt bei einem Schaden, der sich gut verheilen könnte, solchen Burschen nachher meist ein Bresten. Und geht er hinüber ins Krankenhaus – 's ist aber leer und wegen Einem werden sie nicht Leute einstellen wollen, – so ist's 174 das Gleiche. Unser alter Doktor macht mit derlei Leuten nicht viel Federlesens. Er würde auch da gerade nur so lange behalten, bis er wieder stehen kann.«

Ich überlegte.

»Wollten Sie die Heilung übernehmen, wenn für alles Uebrige gesorgt ist?«

»Ja, da ist kein Zweifel!« rief der Mann, ein wunderlicher Bauernkopf mit gutem Blick und einer warmen Stimme. »Wenn man dem Fuß nur mit Sorgfalt nachschaut und der Sache ihre Zeit läßt, so wird das freilich wieder recht!«

»So lassen wir ihn bei der Meisterin, und ich will den Arzt gänzlich aus der Sache scheiden!« –

Schon war es dunkle Nacht, als ich noch einmal bei dem Meister anklopfte und ihn nun selber traf.

Noch ehe ich ausgesprochen, wie ich mir die Sache nun zurechtgelegt, kam er mir schon zuvor. Er war um vieles besser als sein Weib und zeigte Mitgefühl für den Gesellen, dessen gutes arbeitsames Wesen er alsbald von sich aus anerkennend erwähnte. Doch bei den Unbemittelten, die für sich selber zu sorgen Mühe haben, geht neben allem Mitleid stets das Rechnen einher.

»Ich möchte den Joseph schon da liegen lassen,« erklärte er mir sogleich, – »wenn es nur irgendwie zu machen ist. Aber ich muß morgen früh erst noch versuchen, vom Doktor wenigstens ein kleines Taggeld aus der Krankenkasse zu verlangen; das gibt er doch wohl her! Denn ohne Beitrag wär' das 175 Unsereinem ganz unmöglich, auch noch ein krankes Fremdes an der Kost zu haben.«

»Es ist gut so!« rief ich – »und um das Taggeld braucht Ihr nicht zu laufen! Behaltet den Joseph, und was die Pflege fordert, gebt ihm reichlich. Ich zahle Euch Alles, aber ich will dann auch befehlen! Den Fuß besorgt der Bader. Der alte Doktor aber kommt ihm nicht mehr an das Bett! Und gebt Ihr mir die Hand drauf, Meister, daß Ihr den Burschen ruhig liegen lasset, bis Alles wieder vollkommen in Ordnung ist? Ihr sollt keinen Schaden haben!«

Des Mannes einfache derbe Weise, in der er Das verhieß, hat mir gefallen. Das Weib, vom Gelde hörend, war bekehrt und drehte ihre Meinung und ihr Reden nach dem neuen Winde.

Ich ließ sie stehen und ging allein noch zu Beppo hinein.

Von dem niedern Balkenwerk der Decke flackerte eine halbzerschlagene Lampe trüb hernieder. In der Erregung seines Abendfiebers saß er auf die Ellenbogen gestützt und hatte offenbar zugehört, was draußen diese Stimmen sprachen, unter denen er wohl auch die meine zu hören vermeint. Ich sah, er war erschöpft von diesem häßlichen Tag.

»Lege Dich nur nieder!« sagte ich ihm. »Die Sache ist in Ordnung. Du bleibst nun hier und sollst kein krummes Gesicht mehr sehen! Und statt des Arztes kommt fortan der Bader wieder und kurirt Dir Deinen Fuß, bis er völlig heil ist, wie zuvor!« 176

– O Menschen, Menschen! wüßtet Ihr, was von Empfindungsreichthum in den Seelen niederer Enterbter leben kann, Ihr würdet dürsten nach dem Hochgenuß so eines Blickes, wie ich ihn in dem trüben Lampenschein der düstern Kammer aus dem blassen Haupte dieses Burschen leuchten sah! Er lächelte wie Einer, der das erste Wunder gesehen.

Und als ich aus der Thüre nochmals nach ihm schaute, sah ich ihn sachte zurückgesunken und ausgestreckt, die Hände unterm Kopf, mit einem Ausdruck von glücklicher Geborgenheit hinauf zur Decke blicken.

 

Donnerstag, 27. August.

Die Sache geht ihren guten Gang, aber die Umstände jenes menschenreichen Hauses und der Meisterin Zudringlichkeit halten mich von Beppo ferner, als ich wünschte.

Draußen liegt der Sommer mit Sonnenbrand und Ungewittern wechselnd über dem Gebirg. Ich wandere mit dem Morgengrauen nach den Höhen und streife in der Mondnacht durch die Felsenthäler. Und Gährendes und Neues durchzieht mein Denken.

Wie bin ich mit dem Leben, das ich floh, auf einmal wieder so zusammengestoßen, da ich nur einen, einen einzigen Menschen mir näher kommen ließ! Und, da ich es gewahre – warum entfliehe ich jetzt nicht? Wo bleibt heute die Verpanzerung meiner Seele, deren ich mich noch vor Kurzem so stolz gerühmt? 177

Kann denn die Menschennatur den Zustand dumpfer Resignation nicht auf die Dauer ertragen? Muß sich, aller verschworenen Starrheit zum Trotz, nach einer Spanne Zeit wieder etwas in ihr melden?

Und was ist's, was sich regt in mir? Ist's bloße Lebenskraft, die wieder wirken will und meine todte Ruhe bricht? Ist es ein letzter unertödtbar übriggebliebener Rest von Hoffen? Mir scheint: der erste leise Trieb vom Mensch zum Menschen ist es, der so wieder keimt!

Veronika! Du bist es gewesen, die mit dem ersten Ruf zu Deiner Hütte dem unbekannten Wanderer den kleinen ersten Riß in seine Vermauerung gegen Menschen und Nächstenloos gemacht, aus dem unmerklich von dem schwarzen Haßgebräu, das meine Seele wogend füllte, ein Erstes leisen Abfluß fand. Und Du auch hast die Bresche noch geweitet, und schneller floß die schwere Masse dann und ließ, entströmend, Raum für Neues, das nun alsbald mit dem Leben folgte. Bis jetzt, wo ich mich staunend frage: wo Haß und düsterer Vorsatz bleiben?

Wahr muß ich an mir selbst den Spruch erfahren:

»Der Vorsatz ist ja der Erinnerung Knecht,
Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt;
Wie herbe Früchte fest am Baume hangen,
Doch leicht sich lösen, wenn sie Reif' erlangen.
Nothwendig ist's, daß Jeder leicht vergißt
Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist!
Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet,
Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet.« 178



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