Johann Gottfried Seume
Obolen
Johann Gottfried Seume

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Warum ist der Schmerz der Eltern bei dem Verluste kleinerer Kinder größer und heftiger als bei dem Verluste erwachsener?

Unter kleinern Kindern verstehe ich hier nicht Säuglinge in Wiegen und Windeln, deren neues Menschenwesen kaum noch das zärtlichere Interesse der Eltern gewonnen hat: ich verstehe Kinder von der Periode des Gängelbandes herauf bis in das zwölfte oder vierzehnte Jahr, wo die menschliche Natur anfängt, in jeder Rücksicht sich zu einiger Vollkommenheit heraufzuarbeiten. Nun scheint mir dieses eine durch Erfahrung ausgemachte Sache zu sein, daß Eltern und daß überhaupt Menschen bei dem Tode solcher jungen Geschöpfe, die so eben zu ihrer schönsten Fülle aufblühen, im Allgemeinen heftiger gerührt werden als bei dem Tode anderer älterer, in denen die Natur schon ihre höchsten Zwecke ziemlich erreicht zu haben scheint. Ich sage: im Allgemeinen; denn unstreitig giebt es Ausnahmen, die durch andere individuelle Umstände und Ursachen bestimmt werden. Wenn eine alte einsame Mutter ihren einzigen Sohn, ein guter zärtlicher Vater seine einzige geliebte Tochter verliert, Kinder der edelsten, besten Art, die den Eltern Freude, Trost und Stütze in den letzten Lebensperioden schon wirklich waren, so ist hier der Schmerz unstreitig sehr heftig und angreifend, aber seine Quelle ist nicht allein die reine Zärtlichkeit der Natur. Auf einmal verschwundene Hoffnungen, zerscheiterte Plane, die schon in ihrer Reife lagen, und die sichtbar weit mehr Beziehung auf den Trauernden als auf den Verstorbenen hatten, die Aussicht der melancholischen Einsamkeit, der Hilflosigkeit, des Unvermögens, vielleicht des Mangels in der Zukunft drängen sich unbemerkt zum Ausbruch des heftigsten Leidens zusammen. Und auch in diesem Falle bemerken wir, wenn eine Mutter ihrem einzigen geliebten Sohne als Knaben oder heranwachsenden Jünglinge zum Grabe folgt, daß ihre Gefühle erschütterter sind, als wenn sie ihn als Leiche eines vollendeten Mannes hinaustragen siehet. Die Erscheinung ist wahr, und die Ursachen davon müssen in dem Wesen des Menschen liegen. Ich will, so weit meine Kräfte und Einsichten reichen, einige davon zu entwickeln suchen.

Mich däucht, es ist eine richtige, nicht ganz gewöhnliche Bemerkung, die man aber oft im Leben zu machen Gelegenheit hat: bei der Geburt der Kinder ist die Zärtlichkeit und Besorglichkeit der Mütter für die kleinen Neugebornen unbegrenzt, die der Väter bei Weitem nicht so innig. Einige gewiß nicht schlimme Väter haben mir bekannt, sie hätten mit ungewöhnlicher Gleichgiltigkeit das kleine ihnen geborne Menschenkind betrachtet und die junge Creatur der Mutter unter halb geheuchelter Freude zurückgegeben. Gewiß ist nicht, wie wol Einige boshaft behaupten, oder doch nur höchst selten die geringere Gewißheit des Eigenthums bei dem Vater der Grund dieses Mangels an Innigkeit und der geringeren Freude, indem eben diese Männer versicherten, daß kein Gedanke von Zweifel darüber jemals in ihrer Seele aufgestiegen. Auch liebten eben diese Väter eben diese Kinder mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit, als sie einige Jahre alt waren. Die Natur scheint dieses Princip zur Wohlthätigkeit für das Menschengeschlecht gesetzt zu haben, da es für die erste Erziehung der neuen Weltbürger so nothwendig ist, und es lassen sich vielleicht sehr gute Gründe der Erscheinung selbst bestimmen.

Die Mutter nämlich hat während der ganzen Zeit der neun Monate und vorzüglich während der letzten Periode derselben sich auf eine ungewöhnlich nahe, feine und innige Weise mit dem künftigen kleinen Wesen beschäftiget; ihre Existenz war mit seiner Existenz ganz genau verbunden; sie hatte mit ihm einerlei Furcht, einerlei Hoffnung, so zu sagen, einerlei Schmerz, einerlei Genuß. Der Vater war seit der Zeugungsperiode, in Vergleichung mit der Mutter, dem Embryo und dem nunmehrigen lebendigen Wesen weit fremder geworden. Nur sein Seelengefühl hatte die Verwandtschaft fortgesetzt; für die Sinnlichkeit war sie unterbrochen, und nun erst fangen die Sinne von Neuem an, sie wieder anzuknüpfen. Der erste Anblick des jungen Geschöpfs wirkt verhältnißmäßig nur schwach auf den Vater, da die Gestalt desselben nur noch wenig ästhetisches Vergnügen gewähren kann. Die Mutter sieht in der Erscheinung ihres Neugebornen schon einen Lohn ihrer zärtlichen Sorgfalt und ihrer überstandenen Angst, welches ihr denselben theurer macht. Wenn man einem Manne eine Stimme erlauben will, der nicht das Glück hat, Vater zu sein, und dessen Gefühle also noch nicht in dieses Heiligthum der menschlichen Natur eingehen konnten, so glaube ich sagen zu dürfen, daß die ersten freudigen Regungen der Eltern nach der Geburt ihrer Kinder anfänglich blos aus dem moralischen Gefühl entstehen. Das kleine Wesen kann während der ersten Monate seiner Existenz, als abgesondert von seinen Eltern gedacht und ohne Ueberlegung seiner künftigen Bestimmung und Vollendung, durch seinen bloßen Anblick kein sehr angenehmes Wohlgefallen erregen, weil es während dieser ersten Zeit nur sehr wenig Schönheit darstellt. Wenn ich nach meinem Gefühle urtheilen darf, so muß ich bekennen: so sehr ich in jedes reine schöne Kindergesicht, ich darf sagen, fast wirklich verliebt bin, so wenig Interesse hat die Erscheinung der kleinen ganz neuen Ankömmlinge in den Windeln für mich. Ich konnte oft meine Gleichgiltigkeit kaum verbergen, wenn man mir einen solchen Neuangekommenen Weltbürger zum Anschauen hingab, und reichte ihn blos mit der tröstlichen Bemerkung zurück: »In vier Jahren wird er schöner sein.« Ich kann mich nicht tiefer in die Zergliederung dieses Gegenstandes einlassen. Alle Aesthetiker und Naturgeschichtsforscher sind voll von Bemerkungen, die meine Meinung bestätigen. Die Gestalt der Neugebornen ist durch die ganze Natur wirklich nur sehr selten schön. Der Tod eines Kindes also indem ersten oder auch wol in dem zweiten Jahre ist den Eltern bei Weitem nicht so traurig als in den folgenden. Der Mutter ist er aus eben dem Grunde schon schmerzlicher, aus welchem ihre Zärtlichkeit gegen den kleinen Verstorbenen größer und inniger war als die des Vaters, und den ich oben mit wenigen Worten berührt habe. Aber von dem zweiten Jahre an entwickelt sich das Geschöpf; der Mensch wird in jedem Zuge, in jeder Veränderung sichtbarer. Die Form fängt vom dritten Jahre an, sich täglich merklich schöner zu bilden, und die gemischte Ähnlichkeit beider Eltern zeigt sich in dem Kinde deutlicher. Der Knabe hebt an, seine jungen Muskeln mit aller Kraft in Bewegung zu setzen, sein Gesicht wird heiter wie der schöne Mai. Das feinste lebendigste Colorit mischt sich auf seinem Antlitz; seine Augen blitzen Freude und Thätigkeit, und rastlose Bemühung fährt strahlend durch sein ganzes Wesen. Die junge schuldlose Seele arbeitet mit bewußtloser Kraft in der biegsamen Masse, Alles wird an dem Knaben Bedeutung und Interesse, und für wen kann dieses Interesse inniger sein als für Vater und Mutter? Das kleine Geschöpf wächst, wird in seinem Bau harmonischer, in seinen Bewegungen elastischer, in allen seinen Spielen der Seele und des Körpers reicher an Schattirungen. Es wird mit einem Worte schöner, so wie es anfängt, menschlicher zu werden. Nun schließt es sich selbst an die Eltern an, da die Eltern es vorher an sich ziehen und an sich halten mußten. Es macht sie zu Gehilfen, zu Theilnehmern seiner ersten Thätigkeit. Je mehr der Knabe zum Vater hinaufsteigt, je mehr steigt der Vater mit unaussprechlichen Gefühlen zu dem Knaben herab. Alles ist in der jungen Form Biegsamkeit, Regung, Schnellkraft, Alles in der jungen Seele Thätigkeit, Wißbegier, Schlußtrieb: Beides verbunden, macht das ergetzende rührende Bild kindischer Schönheit. Nun tritt die Periode ein, in welche sich der Vater durch Erinnerung selbst einigermaßen wieder zurücksetzen kann. Er vergißt sein Ich und fließt mit dem kleinen Sohne in ein Wesen zusammen. Er wird wieder Knabe mit mehr Erfahrung; zum ganzen Genusse seiner jetzigen Existenz bekommt er wieder reinen Kindersinn, um den wirklichen Knaben an seiner Hand emporzuleiten. Nun holt er die Zärtlichkeit der Mutter ein und geht ihr oft vor. Seine beste, süßeste Beschäftigung ist Sorge für das jetzige Vergnügen und das künftige Glück seiner Kinder. Dieses ist der Zeitpunkt der schönsten, heiligsten Gefühle der Natur für Eltern: der Genuß der Gegenwart ist der reinste, unschuldigste und herrlichste, die Hoffnung der Zukunft ist die glühendste.

Wenn es wahr ist, was Kant an irgend einem Orte sagt, – und mich däucht, daß es wahr ist, – daß nämlich wahre, reine Schönheit keinen Charakter weder des Geistes noch des Witzes noch des Tiefsinnes noch irgend einer Eigenschaft zeige, so ist gewiß die Form der Kinder vom fünften bis zum funfzehnten Jahre ausgemacht die schönste. Hier ist die Form zwar schon zu ziemlicher Vollkommenheit entwickelt, aber doch noch immer rein, biegsam, schmelzend, der Umriß so rund und so fein, so leicht und so schwer. Kein Geist, kein Witz, kein Tiefsinn sitzt auf dem Gesicht: liebliche Unbefangenheit ist darüber verbreitet. Keine Leidenschaft hat ihre Züge eingegraben: ein leichter Schleier, eine zitternde Empfänglichkeit für alle fährt strahlend augenblicklich darüber hin und läßt keine merkliche Spur zurück. Das Kind ist Alles und ist Nichts. Es kann das Prototyp wahrer, reiner Schönheit, der Gegenstand reines ästhetischen Genusses sein, abgezogen von allen übrigen Verhältnissen und Rücksichten. Es war jederzeit der Vorwurf der wildesten Barbarei und des gänzlichen Mangels an Menschengefühl, wenn man im Kriege der Kinder nicht schonte: weil die Kinder schon durch ihre Gestalt, durch ihre schuldlosen, schmelzenden Mienen, durch ihre rührenden Bitten allen Zauber haben, durch den man selbst das Herz eines Wütherichs zur Menschlichkeit bändigen könnte. Nun denke man Eltern, die mit diesen liebenswürdigen Geschöpfen in der innigsten Vereinigung stehen, die in dem Aufkeimen ihrer Schönheit und ihrer Fähigkeiten ihre eigene Jugend noch einmal leben: wie süß und stark müssen wol ihre Empfindungen sein, da die Kette so vielfach ist, die Beider Wesen an einander bindet! Es ist ausgemacht, unsere mächtigsten Gefühle sind die sinnlichen; ebenso richtig scheint es zu sein, daß das Gefühl der Eltern in dieser Periode und ihr Genuß an ihren Kindern die reinste, edelste Sinnlichkeit ist.

So wie nun das Vergnügen des Genusses das größte, reinste und edelste seiner Art ist, so ist auch sein Verlust der größte, heftigste und schmerzlichste. Jetzt lagen die Kinder den Eltern ganz nahe, kein Verhältnis des Lebens konnte sie einander näher bringen. Die Wohlthaten dieser und die Dankerwiderungen jener waren die wärmsten und rührendsten. Alles, was aus Gefühl und mit Gefühl geschieht, rührt den Menschen mehr, als was blos kalte, wahre Vernunftidee ist: hier ist Alles Gefühl, und nur selten treten die Ideen, auf welchen es beruhet, in ein helles Licht; und sobald die Gefühle sich zu Grundsätzen entwickeln, verlieren sie von ihrer Wärme. Der Genuß für jede wahre Wohlthat ist in dem Wohlthun selbst. Der Vater freut sich, zu geben, zu helfen, zu unterstützen, zu erhöhen, ein Verschwender seiner Zärtlichkeit zu sein. Die wärmsten Empfindungen füllen seinen Geist mit glühenden Bildern der künftigen frohen Ernte, und so wie meistens die Hoffnung süßer ist als der Genuß, so ist auch dann der Verlust der Hoffnung schmerzlicher als der Verlust des Genusses selbst; und hier ist Verlust des schönsten Genusses und der schönsten Hoffnung zugleich.

Wenn Kinder ganz zu Menschen emporwachsen, wenn ihre ausgebildeten Fähigkeiten eine festere Richtung nehmen, ihr Charakter einen eigenen Stempel gewinnt, so steigen sie dadurch an Vollkommenheit und moralischem Werth, aber ihr reiner ästhetischer Werth sinkt. In dem Bau des Jünglings steht Stärke, seine Miene zeigt Kraft und Muth, seine Stirne spricht Entschlossenheit und Trotz, irgend eine Leidenschaft gräbt oder wühlt in seinem Gesicht und läßt nunmehr ihre Marken zurück. Es ist nicht mehr reine Schönheit, es ist Charakterzug. Das Gesicht der Jungfrau leidet unter andern Eindrücken mit andern Anlagen auch andere Veränderungen. Die sich unbewußte liebenswürdige Unbefangenheit verschwindet; auch ihre Züge werden Charakter, der oft fast ebenso wenig an moralischem als an ästhetischem Werth gewinnt. Der Mensch ist fertig, er nähert sich seiner Bestimmung. Er liegt nun den Eltern nicht mehr so nahe, er braucht ihre Hilfe nicht mehr so unmittelbar. Wenn wir nicht mehr wohlthun können, so weitert sich das Band zwischen den Gegenständen, unsere Wesen trennen sich. Sobald der Mensch herangewachsen ist, treten beide Parteien, Eltern und Kinder, mehr aus dem Gebiete der Sinnlichkeit und des bloßen Gefühls und gehen über in das Gebiet der Vernunft und des reinern Begriffs der Pflicht. Nun ist Vernunft selten so stark als Sinnlichkeit und Pflicht selten so heiß als Gefühl. Die Zeit hat die Pflicht gestärkt und geheiliget, aber das Gefühl gemildert, obgleich tiefer gelegt. Der Schmerz ist also bei dem Verluste solcher Kinder, die schon einen beträchtlichen Grad ihrer Vollkommenheit erreicht haben und ihrer endlichen Bestimmung nahe sind, wenngleich tiefer und dauernder, doch nicht so heftig und erschütternd als bei dem Tode solcher Geschöpfe, die in der Blüthe der Hoffnung dahin fallen, wo den Eltern der edelste, reinste Genuß in dem Wohlgefallen an Schönheit und alle herrliche Bilder der Zukunft auf einmal vernichtet werden. Ein Ähnliches gilt auf gleiche Weise von dem Schmerze der Kinder bei dem Verluste der Eltern. Wenn derselbe in der Periode dieser zärtlichen Verknüpfung, dieser vollen Herrschaft der stärksten Sympathie eintritt, so wird der Schmerz weit größer sein als in jeder andern. Der gute Knabe, der seinen Vater in dieser Lebensepoche verliert, wird unsägliche Trauer trauern, wird für sein Gefühl keinen Namen haben; die Natur wird um ihn her in seinem Schmerz unterzugehen scheinen; die Welt mit allen ihren Freuden wird ihm wie eine Leichengruppe sein. Ich berufe mich hier auf meine eigene Empfindung, auf Erfahrung. Mein Vater starb, als ich ohngefähr dreizehn Jahr zählte. Ich hatte mir vorher den Fall als mit meinem Wesen zugleich möglich nicht zu denken vermocht, daß eines meiner Eltern sterben könnte. Noch bin ich mir dieses Gedankens völlig bewußt; die Vorstellung schlug mich in Nichts zusammen. Als der Fall geschah, war die ganze Welt um mich her wie eingestürzt, mein Zustand war die ersten Tage unaussprechlich, ich hatte für ihn keine Vergleichung. In den Tod nachsinken zu können, würde mir süße Wohlthat gewesen sein. Kurze Zeit darauf war ich nicht allein getröstet, sondern sogar erheitert. Ich wunderte mich selbst über die Veränderung meines Zustandes und machte mir Vorwürfe. Nur periodenweise kehrte die magische Melancholie zurück, wenn der Gedanke an den Verstorbenen sich in meine Seele drängte oder ich einsam an seinem Grabe stand. Die Lebhaftigkeit der Jugend war Ursache der Heftigkeit der Gefühle und war Ursache ihrer kurzen Dauer. Jetzt bin ich Mann; die Gewalt der Empfindungen hat durch Erfahrungen mehrerer Jahre merklich abgenommen, und die Vernunft ist soviel als möglich schon an die eiserne Kette der Notwendigkeit geschmiedet. Wenn meine gute Mutter stürbe, die ich liebe und ehre, der ich jede solidere Richtung meines Charakters zu danken habe, und wegen welcher das Erdenleben noch das meiste Interesse für mich hat, ich würde bei ihrem Tode vermuthlich nicht so unaussprechlich schmerzlich trauern, obgleich meine Trauer gewiß länger und tiefer sein würde. Die Bilder des Knaben sind glühender, die Gefühle des Mannes sind bleibender.

Es geht durch die ganze Natur, daß wir an der Jugendlichkeit aller Geschöpfe, im Thierreiche sowol als im Pflanzenreiche, durch den Anblick ihrer sanften Schönheit ein hohes, reines, sinnliches Vergnügen haben. Die Bücher der Dichter aller Nationen sind voll von Beispielen, die dieses bestätigen; alle diejenigen von ihnen, deren erster Zweck es ist, Schönheit darzustellen und zu erreichen, nehmen ihre Vergleichungen von jugendlichen Gegenständen. Selbst in ihren gewagtesten Prosopopöien muß der Tag und die Morgenröthe jung sein; und wenn es nicht gegen alle Analogie wäre, würden sie vielleicht auch einen schönen Abend so nennen. Schon der Begriff der Jugend giebt, daß Alles schöner ist. So ist uns der Mai schöner als der October mit allen seinen Schätzen, eine junge grünende Kornflur reizender als ein reifes Aehrenfeld, ein blühender Apfelbaum ergetzender als seine Hesperidenfrüchte. So wird der Landmann schmerzlicher trauern, wenn das Ungewitter seine schossenden Halme niederschlägt oder der fürstliche Jäger mit seiner Bande die jungen Saaten niederstampft, als wenn ihm der Dieb seine Garben stiehlt; so wird der Gärtner heftiger empfinden, wenn ihm ein Wüstling seinen schönen blühenden Lieblingsapfelbaum niederhauet, schmerzlicher über den Tod der Blüthen klagen, als wenn man ihm die ganze Ernte des Herbstes nähme. Es ist etwas unaussprechlich Trauriges und Wehmüthiges in dem Gefühle, etwas in der Blüthe mit allen seinen herrlichen Hoffnungen zernichtet zu sehen. Wenn nun ein Exemplar des Meisterwerks der Schöpfung auf einmal von der jugendlichen Glorie herabfällt und mit allen seinen schon aufblühenden Schönheiten alle künftigen Früchte zugleich mit hinabsinken, wer kann den Schmerz Derer messen, die das süße, heilige, unwidersprechliche Recht hatten, sich jetzt in der Anschauung der durch sie entstandenen Schönheiten zu ergehen und einst für so angenehme Mühe so reiche, volle Belohnung zu erwarten? Wer vor einem zerschlagenen Saatfelde, vor einem zerbrochenen Zöglingsbaume ohne Empfindung vorübergehen kann, ist ein Mensch ohne Gefühl; wer eine junge dahingestorbne Menschengestalt ohne Rührung im Sarge liegen steht, ist ein Mensch ohne Menschlichkeit. Ueber den Verlust des in seinen Endzwecken Vollendeten trauern wir, und wir klagen über das frühe Verunglücken dessen, was nach Vollendung strebte; und Klagen sind eine große laute Trauer. Unsere Trauer kann tiefer, kann dauernder und vielleicht gefährlicher sein, aber unsere Klagen sind schmerzlicher, denn sie sind der Ausbruch der Gefühle, die wir nicht in stiller Trauer unterdrücken konnten.


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