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Messalina – eine ...

Doktor Hégésippe Schwer (maladies de peau et voies urinaires) besaß neben seinen Ordinationsräumen in der Avenue de la Victoire in Nizza auch ein kleines Appartement, in dem seine Wirtschafterin Nounou ihm täglich um zwei Uhr ein gewissenhaft zubereitetes Déjeuner zu servieren pflegte, während dessen er unter keinen Umständen gestört zu werden wünschte. Nur eine Person nahm eine Ausnahmestellung ein: Irene, die als Patientin zu ihm gekommen war, von seinem Renommée herbei- und seinem Vornamen irregeführt. Sie hatte ihn sofort erkannt und die Vorteile, die dies und die Möglichkeit bot, deutsch zu sprechen, und aus Dankbarkeit zwei Wochen bei ihm gewohnt, um ihm die Naturalien, die sie ihm zu bieten hatte, so häufig und bequem wie nur möglich verabfolgen zu können. Seither hatte er für sie eine fast väterliche Zuneigung und für ihre Konversation eine unbesiegliche Schwäche. Dennoch hatte sie seine Ruhestunden stets respektiert und, wenn sie einmal das Bedürfnis hatte, mit ihm ein ›Causettchen‹ zu machen, zuvor telefonisch ein Rendez-vous vereinbart. Um so erstaunter war er deshalb, als er eines Nachmittags eben mit dem Déjeuner begann, unangemeldet von ihr überfallen zu werden.

»Lieber Hugo ... pardon, wollte sagen mon cher Hégésippe ... Briand helfe mir, ich kann nicht anders!« Irene drückte beide Hände sich aufs Herz und lächelte bestrickend. »Eine solche Perfidie! Und da wundern sich die Leute, daß es Terroristen gibt! Aber iß nur ungeniert weiter! Was los ist? Der Patron vom Café de Paris ... O, wie kann einer nur Franzose sein und sich die Haare glatt über die Ohren kämmen! Außerdem kaut er ununterbrochen eine Kaffeebohne. Affreux! So. Siehst du? Genau so, wie ich diese Olive da beiße. No, kann man da anders reden als spritzend und schnaufend? Du gestattest doch, daß ich mich setze. Aber daß ich zur Hauptsache komme! Vor vier Tagen hat er uns allen verkünden lassen, daß Damen ohne Begleitung nicht mehr serviert werden darf. Eine bodenlose Perfidie! Nachdem er während der ganzen Saison sich an uns gemästet hat! Denn wir ziehen ihm die reichen Amerikaner und Engländer ins Lokal. Mit unseren Reizen erreichen wir es, daß sie traumhafte Zechen machen! Durch uns diese Trinkgelder! Und was diese hochnasigen Frackproletarier, alias Kellner, sonst noch von uns bekommen, ist mehr als das Dreifache von dem, was sie von den lausigen Bourgeois kriegen. Ah, malheureusement, diese Weiber haben ja keinen Corpsgeist und nicht für zehn Sous Verstand. Was meinst du, Sippi, was diese unterspickten Dulzineen jetzt machen? ... Du gestattest doch eine Sardine? ... Hupp! Schon verschlungen! Sie gabeln sich einen Nervi auf oder einen Métèque oder irgendeinen fadenscheinigen Marius und zahlen ihm einen Kaffee und ein Brioche, damit er so lange neben ihnen als Deckung sitzen bleibt, bis ein Amateur kommt. Quelle stupidité! Moi, je me respecte trop! Nicht einen Fuß setze ich jemals wieder in dieses Tschoch, geschweige denn wichtigere Bestandteile meines verlockenden Frauenleibes. Übrigens hat Conchita mir erzählt ... Du kennst sie doch, diese kleine Spanierin, die immer Koriandoli-Reste in den Haaren trägt und zerbrochene Kämme. Sie hält das für enorm. Die Männer sollen glauben, um sie herum spiele sich ein ewiges Fest ab zur kontinuierlichen Feier ihrer Reize. Ach, was glauben die Männer nicht alles? Du, Sippi, mußt es doch wissen. Aber man muß schon deinen Beruf haben, um solchen Flitscherln nichts zu glauben!«

»Wer zählt die Tripper, kennt die Namen?«

»Geliebt bist du, Sippi, geliebt! So. Die letzten beiden Radieschen entziehe ich dir, damit du keine Blähungen bekommst ... O, diese Titanen! Und was sie alles glauben, wenn sie die Vertrauensfrage stellen, die du dir schweigend selber beantworten würdest! O là là, ich sage es immer noch mit der ernstesten Miene von Nizza: ›Même pas un échauffement!‹ Kaum einer, der den Mund verzieht. Paraît qu'ils sont tous des idiots. Ich schau mir diese Schakale schon näher an. À moi on la fait pas, tu sais?«

»... la fait plus. Nur immer exakt!«

»Hast recht, Sippi. Und nicht zuletzt dank deinen sachgemäßen Mitteilungen geh ich auf Nimmerwiedersehen chez Nullnull, wenn ich ihre Trophäen für Betrulljen halte ... O, que j'aime les limandes! Heureusement que Nounou en a fait trois. Tu permets, pas? ... Conchita? Ah, oui. Also, sie hat mir erzählt, daß der Patron vom ›Paris‹ diesen Zeck jedes Jahr aufführt. C'est cochon de sa part, tout ce qu'il y a de plus cochon. Und diese Masochistinnen, diese Ambosse des Nachtlebens laufen immer wieder hin. Mich sieht dieses Beuglant nicht wieder. Abgesehen von allem andern, weil ich mich nicht noch einmal in eine solch gräßliche Situation bringen lassen will. Es ist keine Kleinigkeit, wenn einem plötzlich der Standplatz ausgespannt wird! Und die Telefonnummer! Man hat doch seine feste Klientel. O là là, che la vita stupida! Seit drei Tagen, seitdem diese vertrackte Lumperei passiert ist, nicht ein Chiqué! Von einem Orgasmus gar nicht zu reden! Was? Ferdinand? Ah, daß ich nicht gackere! Bouge-toi! Je l'ai envoyé promener. Du fragst noch, warum? No ja, woher sollst du das auch wissen. A propos, sag, hältst du mich für schön oder bloß für hübsch? Aber bitte von der Leber weg!«

»Also von der Limande weg: für sehr hübsch.«

»Geliebt bist du, Sippi, geliebt! Aber ich hätte es merken müssen! Wenn einer sich schon einen Hund anschafft und tagelang mit ihm herumzieht! Das macht ja Eindruck auf die Flics, ich gebe es zu, aber es weckt auch wieder den Familiensinn der Huren. Wissen möchte ich, bei welcher Momôme er jetzt seine Haxen ausstreckt. Der soll mir nur nicht wiederkommen! Dann kann er sich seine Anatomie numerieren lassen! Aber geschieht mir ja recht! Ich war eppes bebête. Wenn ich mir jedoch alles vergegenwärtige, kann ich mich schon begreifen. Wenn man so auf einem resedafarbenen Plüschsofa sitzt und das Orchestre hawaiian rasselt ›If you knew Suzie, like I know Suzie‹, bei rotem Glühbirnenlicht, alles sitzt depraviert da mit verschlungenen Beinen, die Kellner gehen im Katzenschritt am Tisch vorbei, du hörst jemanden sagen, er habe jetzt eine entzückende Wohnung gegenüber dem Gebärsaal La Roche und gratis die wunderbarste Musik für seine Liebesnächte, und neben dir sitzt ein Typ wie Ferdinand, zieht unnachahmlich verlottert eine Zigarette aus der oberen Westentasche, halb Féschak halb Zuchthäusler, und zeigt dir mit seiner wüsten Blässe eine rötliche Narbe auf dem Arm, deren Nähte man noch sieht, und daneben ist eine Tätowierung, ein Dolch und ein Stern, und zwischendurch entwickelt er dir des idées avançées ... O, c'qu'il était salaud ce soir ... Die Toilettentür ist offen und du riechst les odeurs légères ... O là là, ich höre noch lange nicht auf, es benebelt mich schon wieder ... Also ein Münchner schneidet vor Begeisterung einer Römerin den Paradiesreiher ab, sie schreit wie defloriert, etwas russischer Hochadel brüllt aus Sensation mit, ein kleiner Italiener heuchelt Irrsinn, warum weiß kein Mensch, und du bemerkst, wie er hinter seiner Serviette einer Engländerin die Pfunde aus dem Réticule zupft, bist also jetzt der einzige Mensch, der es weiß, Ferdinand schlägt mir vor, in die Rue Emma zu ziehen, in die Villa Emilie, dabei packt er plötzlich ganz fest meine Hüfte ... Oui, oui, j'abrège. Man hat eben das Bedürfnis, wenn man hineingefallen ist, sich zu entschuldigen. Und das gelingt einem nur, wenn man darüber redet. Denn mit sich selber läßt man ja nicht darüber reden. Da ist man strenger. Que veux-tu? Ce sont les après ... Ah, Artischocken! Und gar noch à la vinaigrette! Ich krieg doch eine? Merci. Sippi, sei auch gebenedeit! Passe-moi une assiette, Nounou, mais vite! ... Ah, du möchtest also doch gerne wissen, was dieser Saukerl von Ferdinand ... Plakiert hat er mich! Es ist mir ja nicht um den Orgasmus ... et pour le reste, je m'en fiche pas mal. Aber das Bewußtsein, hineingelegt worden zu sein, das ertrage ich nicht. O, ich werde mich rächen. Pas pour régler la situation, wie das Milieu sagt. Meine Sorge! Standesehre, holder Quark! Non, aber um meine Verdauung wiederherzustellen. Denn seitdem dieser Strizzi mich hat sitzen lassen, bin ich verstopft. Nervosität, sagst du. Und ich sage dir, der Zorn nagt an mir und verhärtet meinen Leib. Und was das Hauptmalheur ist, mit vollem Darm kann ich nicht losgehen. Das raubt mir die innere Freiheit. Ein Skandal ist das! Und ein wahres Glück, daß ich wenigstens noch dich hab! Weißt du, dein kühler rasierter Anblick wirkt auf mich wie eine erfrischende Dusche. Ich sage mir, wie gut, daß du einen hast, der weiß, daß das Leben denen gehört, die es über die Schulter ansehen. Du schaust jeden über die Schulter an. Auch mich. Leugne nicht! Es ist zwecklos. Diesen Schulterblick im Auge hat außer dir nur noch eine. Wer? ... Schweinskoteletten? Meine Leibspeise? Sippi, also jetzt lade mich endlich ein oder ich bin ernstlich beleidigt! Muß man denn bei dir ganz aufdringlich werden? Wer ihn noch hat, den Schulterblick? La dame du pipi, die alte Margot vom Lavabo im ›Paris‹. Die hat noch merkwürdigere Dinge gesehen als du. Vor acht Tagen hat sie mir erzählt, daß Cléclé Milch mit Äther trinkt und Marthe eine halb verweste, entsetzlich stinkende Taube im Bett versteckt hat, weil ihre alten Herren das lieben. La choléra! ... Nounou, verse-moi! Sofort! Ich nag nur noch den Knochen da ab. Fein, das Schweinerl! ... Margot ist überhaupt unschätzbar. Sie hat mir geraten, nur kunstseidene Strümpfe zu tragen. Wenn man sie nämlich in warmes Wasser steckt, verlieren sie den verräterischen Glanz und sehen garantiert wie echte aus. Das sind Hunderte von Francs, die man erspart. Und dann hast du doch sicherlich schon bemerkt, daß ich ... Nicht? Also ich parfümiere mich, auf Margots Rat hin, nicht mehr. Und die Konsequenz? In einer Woche neun neue Kunden! No, kannst du dir das wirklich nicht selber erläutern? Alles Ehemänner über die Fünfzig! Wenn sie mit einer Parfümierten gehen, merkt es die Frau. Und dann bilden diese Alten sich immer ein, daß eine Nichtparfümierte sauberer ist. Und sauber wirken, das ist doch bei uns schon das halbe Geschäft, pas? Was für ein Unglück war es zum Beispiel für die Armanda, daß ein Marokkaner ihr einen Finger abgebissen hat! Sie kann doch nicht immer den ausgestopften Handschuh tragen. Ohne ihn aber hält jeder sie für eine alte Spitals-Scharteken. C'est bœuf tout de même. Und dabei ist Armanda die Sauberkeit selber. Wenn ich das Material gehabt hätte, das sie in ihrem Leben schon hat schießen lassen, nur weil sie eine pathologische Angst vor Mikroben hat, lieber Sippi, für uns beide wäre ausgesorgt. Erinnerst du dich noch an die alte dicke Gina, die einmal bei dir war? Also die verdient das Zehnfache, bloß weil niemand sieht, daß ihr etwas fehlt. Und was der alles fehlt, das hat mir auch die alte Margot erzählt. Ihre ganze rechte Wade ist wegoperiert und der linke Busen. Da hat sie Caoutchouc hingeschnallt. Wodurch sie ihn ...? Ja, das war eine ganz komische Sache! Was die Wade betrifft, bin ich nicht informiert. Aber mit dem Busen ... vorausgesetzt, daß wahr ist, was sie der Margot erzählt hat ... Also ein fünfundsechzig Jahre alter Türke soll plötzlich bei ihr einen sadistischen Koller bekommen und geschrien haben: ›Ich hasse die Mutter!‹ Und dabei hat er sie immer wieder in den Busen gezwickt. Vielleicht war es auch bloß ein alter Esel. No, jedenfalls hat er dreckige Finger gehabt wie alle Türken, und Armandas armer Busen hat dran glauben müssen. Nach zwei Tagen ist er angeschwollen und nach einer Woche haben sie ihn abnehmen müssen. Aber die ist eine Steißgeburt, ich ahne es ja. Was? Lach nicht so schmierig! Das ist sehr ernst zu nehmen. Denn mein Bruder, der Wenzel, ist doch so albern gewesen, in der Rossauer Kaserne in Wien sich zutote schikanieren zu lassen. Und warum? Weil er eine Steißgeburt war. Der Zusammenhang ist ja nicht evident, aber trotzdem ebenso wenig zu leugnen wie der Einfluß der Gestirne. Denk doch nur an die absolute Unbenützbarkett mancher Frauen beim Mondwechsel und wie sehr man vor dem niederen Jungfrauentypus im engeren Verkehr auf der Hut sein muß. Das wird manchem deiner Patienten nicht mehr neu sein. Ah, da fällt mir eine nette Sache ein. Du hast doch auch Perrinnette gekannt, pas?«

»Die mit der eitrigen Achsel?«

»Das war Lieschen. Nein, die, die einen Rubinring trug, der Stein so groß wie hinten an einem Velo. No also. Was? Schon das Dessert? Wo bleibt das Vogerl? Sippi, alias Hugo, ich rate dir, behandle mich fürstlich! ... Ja, also Perrinnette! Die hat sich, das erzählt sie jedem nach zwei Minuten, von einem sehr gescheiten Kellner in Dresden ein Horoskop stellen lassen, das ihr verkündete, wenn sie die nächste Mißhandlung stillschweigend hinnehme, werde sie in einem halben Jahr reich sein. Nun, tagsdarauf bekam sie einen heftigen Tritt in die Geschäftsgegend und lag, selig darüber, eine Woche im Krankenhaus, wo ein alter Jockey, der das Bett neben ihr hatte, es war großer Platzmangel, vier Stunden vor seinem Tod sich dermaßen in sie verliebte, daß er ihr sein Vermögen vermachte. Hunderttausend Mark. Wo die jetzt sind? Weiß ich? Jedenfalls hat sie sie nicht mehr, das weiß ich. Alors, Nounou, apporte-moi le poulet d'hier soir! Kenn ich noch die Gewohnheiten im Hause Schwer? Ja, mein Kopferl! Va pour le poulet, Nounou, je le bouffe froid. Ach, tu nicht so, als hättest du keine Zeit! Du hängst ja nur so an meinen Lippen. Wie solltest du auch nicht! Von früh bis abend das einzig wahre Vergnügen, das ein Mann hat, in den unappetitlichsten Zuständen sehen, die es gibt: da muß einer sich doch auf den Geist werfen, wenn er nicht lebensüberdrüssig werden will. A propos, ich glaube, wenn die Geschlechtskrankheiten verschwänden, würden viele gänzlich neue Berufe entstehen. Das wäre vielleicht etwas für mich. Denn es gibt doch sonst nur schwachsinnige Schönheiten, widerliche Blaustrümpfe und schwer pathogene Häßliche. Also, bekenn dich unumwunden zu mir! ... Merci. Cinquante balles, ça me suffit pour le moment. Alles merkst du beim leisesten Tönchen. Aber mißtrauisch bist du wie ein alter Handley ... Hannnn-dln! Hannnn-dln! Erinnerst du dich noch? Unten im Hof? Immer am Vormittag? Schon damals, als ich noch ein ganz junger Fratz war, habe ich geahnt, daß ich einmal dazu berufen sein werde, der Männerwelt die Mores auszutreiben. Wenn auch nicht gerade auf der Côte d'Azur. Wie das zuging? No, dem einen Handley, der nur am Schabbes kam, schon nicht koscher, bin ich nämlich einmal nachgegangen, weil er einen so verschmitzten Schädel hatte, der verfluchte Jud. Ich lästere, ich weiß es. Aber was tut man nicht alles, wenn man wirklich urbane Gastfreundschaft in Dankbarkeit abtratschen will? ... Lügen? Ich schwöre dir beim Heil meiner Formen, daß ich niemals lüge. O, nicht vielleicht, weil ich es verwerflich finde. Denn Lügen ist für Leute, die zu viel Geist haben, das einzige Mittel, sich ein Ventil zu verschaffen. Aber ich habe bemerkt, daß Aufrichtigkeit wichtiger ist und auch beglückender, jawohl. Das ist kein Pathos, sondern das Glück des ... Warte nur ab, was kommt, mein Lieber! Wenn man aufrichtig ist, ist man nämlich immer gemein. Und wenn man gemein ist, ist man eitel. Und wenn man eitel ist, ist man glücklich. Und die größten Jesuiten die Ethiker, weil sie so unglücklich sind und so viel lügen. Und die aufrichtigsten Biester die Kokotten, obwohl sie fast alle ein Sentiment am Armband hängen haben. Nur Durchschnittsmenschen sind manchmal gut. Aber das ist jedem gleichgültig. Das ist gar keine Güte. Das ist kohinoor. O, hab dich nur nicht so! Ich stelle dir anheim, zu formulieren, was ich da alles herausgestrudelt habe. Dann wirst du erkennen, daß es unbezahlbare Perlen waren. Schwarze Perlen! Du warst übrigens ganz leise beglückt. Ich habe es an deinen Lippen und Augenbrauen gesehen. Denn ich bin die Aufrichtigkeit. Und dann, als du gerülpst hast, hat sich alles zu einer paranoiden Larve libidinösen Charakters kristallisiert.«

»Nicht hineingeheimnissen, Irene!«

»Hast du das Glück des Schuftes genossen oder nicht? Prossim! Und jetzt zu meinem Prager Juden! Den hatte ich schon wieder ganz aus dem Auge verloren. Damals übrigens auch. Wenn ich mir vorstelle, daß ich, hätte ich ihn nicht plötzlich an einer Ecke wiedergesehen, vielleicht gar nicht hier vor dir sitzen und glückliche Momente zusammentratschen würde ... C'est la lili, que veux tu! Denn erst nachher hat er sich zum ersten Mal umgedreht und mich bemerkt. Und als wir auf der Kleinseite waren, hat er neben einem Laden auf mich gewartet und mich angesprochen. Und meine Hände gestreichelt. Damit muß er mich paternisiert haben. Denn ich bin neben ihm wie ohne meinen Vaterkomplex dahergetrottet. Also, ich stand dann in seiner Bude und sah zu, wie er sich auszog. Behaart wie ein Affe war er und schmutzig wie die Moldau zu Ostern. Aber er hat mich nicht einmal angerührt, nur immer mit seinen kugelrunden Augen angestiert. Zuerst dachte ich, er wäre ein Scham-Maniak. Lach nicht schon wieder! Das gibt es. Das sind Käuze, die bei nichtsahnenden Jungfrauen schwere Schamzustände herbeiführen, um sich daran zu letzen. Erst vor kurzem habe ich dafür einen Beweis bekommen. Die Louison, die ich einmal wegen ihrer hartnäckigen Frostbeule zu dir geschickt habe ... Es war gar keine? Na, prosit! .,. Also, sie muß schon gegen fünfzig sein und hat im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, die noch mit vierzig glauben, ihre Haut zu Markte tragen zu können, schon mit sechsunddreißig eingesehen, daß sie nicht mehr mit einem Typ ins Bett gehen darf, wenn ihre Ungenießbarkeit nicht anekdotisch werden soll. Sie hat sich absolut nicht mehr ausgezogen, größeren Wert als je auf piekfeine Unterwäsche gelegt und sich nurmehr auf die Chaiselongue. Quelle radeuse! Wenn das jede Altgewordene sich zu Herzen nehmen wollte, unser Geschäft wäre nicht so verschrien! Ach so, ich bin schon wieder vom Thema abgekommen. No, warum nicht. Alles gehört immer dazu. Also, Louison hat mir erzählt, daß sie, als sie sich nicht mehr ausgezogen hat, eine ganz neue Kundschaft bekommen hat. Da sie schlank ist und ihr Gesicht à la Embryo montiert, hält jeder sie für sechsundzwanzig und das Nichtausziehenwollen für Scham. Sobald sie gemerkt hat, daß damit ein Geschäft zu machen ist, hat sie sich vor Scham nur so gewunden und sogar geweint. Ich würde mich genieren, mich zu genieren. Jetzt macht sie das schon so fabelhaft, daß ein Privatdozent sie als ganz absurden Fall in ein dickes Buch als Schulbeispiel aufgenommen hat. Dick, dick! Was für eine undankbare Sache doch so ein Bauch ist! Es kostet viel, ihn sich anzuschaffen, und nachher ist es noch viel teurer, ihn an das Weib zu bringen. Louison zum Beispiel zieht ihn aber nicht deshalb allein vor. Sie tut noch so, als würde sie ihn vor Scham gar nicht sehen. Da ist der Typ dann ganz weg vor Seligkeit und läßt sich ausbeuteln wie ein Sack. Aber jetzt solltest du endlich das Dessert bringen lassen. So, ich feßle dich mit meinem Getratsch so unentwindbar, daß ... Tu nicht so, würdiger Hort der Huren von der Victoire, sondern klingel schon! Dich muß man tatsächlich mit der Nase auf deine Gastgeberpflichten stoßen. No und dabei kommt mir auch hoch, daß ich meinen Prager Juden schon wieder aus dem Auge verloren hatte. Der hat mich nämlich auch mit der Nase auf etwas gestoßen. Er brachte plötzlich einen blitzblanken Nachttopf, in dem sich Bier befand. Ich habe es austrinken müssen. Gutes Pilsener Spatenbräu. Aber was sah ich auf dem Boden des Topfes? ... O là là, ich höre Nounou heranschlurfen ... Schau, schau, Gaufrettes, Nüsse, Joghourt und Ananas. No ja ... So. Und jetzt werde ich dir auch den Rest geben. Spann deine etwas zu großen Wascheln auf! Ich sah in dem Nachttopf einen gemalten Menschenmund, der einen Hund ins Bein beißt. Und darunter war zu lesen: ›Gott ist eine Seuche.‹ Der Mann hatte Lenin vorweggenommen. Dieses Erlebnis hat mich von Grund aus aufgewühlt. Du bist enttäuscht? Schade, daß ich nicht gelogen habe! Mir wäre sicherlich etwas Originelleres eingefallen. Nächtelang habe ich mir den Kopf über diesen Juden zerbrochen. Er hat mich nämlich sogleich darauf fortgehen lassen. Erst nachher ist mir seine Absicht klar geworden. Er wollte mich revolutionieren. Denn oberhalb seines Bettes hatte ich ein großes Ölbild der Tzarin Alexandra gesehen, das an den weiblichsten Stellen rot verschmiert war. Durch Zufall erfuhr ich später, daß er Brillant hieß und 1905 in Moskau dabei gewesen war. Und er hat mich auch revolutioniert. Denn von da an zogen die Helden und Träumer bei mir nicht mehr. Ich konnte keinen ernsten Roman, kein ernstes Theaterstück mehr ertragen. Alles lächerte mich. Kein Wunder, daß ich schon mit siebzehn meinen Wenzel verführte. Ich fürchte, das arme Bürscherl hat das hinterher nicht ausgehalten. Vielleicht haben sie ihn in der Rossauer Kaserne gar nicht zutote schikaniert. Warscheinlich hat er sich freiwillig aufgehenkt. Wenn es aber so war, dann war er nicht würdig, mein Bruder gewesen zu sein. Dann war er ein Blödian, für den es keine Entschuldigung gibt. Das Erlebnis mit mir hätte ihn revolutionieren müssen. Das war ja auch meine dumpfe Absicht gewesen. Und dieses Hornvieh henkt sich auf! Dann kamst du an die Reihe. No, du hast dich wenigstens nicht aufgehenkt. Aber revolutioniert hat es dich allerdings auch nicht. Glücklicher Weise. Denn sonst hätte ich dir hier auf der Victoire nicht das Renommée so unerhört hochtratschen und du mir konsekutiv dieses hervorragende Déjeuner nicht vorsetzen lassen können. Ich weiß, ich weiß, ich habe mich selber davorgesetzt. E vero. Aber es war deine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, es zu gestatten. Du gestattest doch? Nur noch ein Glaserl Superfine ... Es war deine verfluch ... Auch die fünfzig ... Denn ich bin ein Opfer der tückischen Straße. Prossim, noch ein Glaserl Super ... Eins, zwei, drei ... Kling Klang Gloria ... Was, schon drei Uhr? O là là, je dois filer et au plus vite. C'est le moment pour attrapper ce cochon de Ferdinand. Je vais lui crêver son chien. Aber ich werde das Ekel nicht ins Bein beißen. Ich werde mich beherrschen. Au revoir, Sippi. Ach, wenn ich dich so mit den letzten Schlüssen meines revolutionären Gehirnes betrachte ... No, das kann dir ja kohinoor sein. Hand auf meinen Bauch! Der geht jetzt mit mir fort von da, etsch! So! Und da hast du noch schnell einen Jubelschmatz auf deine Platten. Leb wohl! Im Ordinationsstuhl sehen wir uns wieder.«

Doktor Schwer blickte lächelnd Irene nach, während sie graziös aus der Tür eilte. Dann feixte er, wischte sich sorgsam den Mund ab und zwitscherte an mehreren Zähnen. Als er die Tür nach seinem Ordinationszimmer öffnete, murmelte er: »Messalina – eine Blunzen!«

Juni 1916


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