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Das denkwürdige Gespräch

In einer warmen Märznacht schlenderte Omstertal durch die kleinen Gassen von Florenz, als er plötzlich stolperte. Er blieb stehen, um festzustellen, was ihm im Weg gewesen war. Als seine Augen an das Dunkel des Gassenwinkels sich gewöhnt hatten, sah er, daß er über den Fuß eines Mannes gestolpert war, der vor einem Fensterladen stand. Omstertal hustete laut. Ohne jeden Erfolg. Da trat er an den Unbekannten heran und klopfte ihm auf die Schulter.

Der wandte sich langsam um, den Borsalino tief in die Stirne gedrückt. »Cosa desidera?«

Omstertal wunderte sich über diese Ruhe. »Mi permetta di ...«

»Sie sprechen deutsch?«

»Ja. Sind Sie Deutscher?«

»Ja.«

Omstertal wunderte sich noch mehr. »Entschuldigen Sie. Ich sah Sie dastehen und fürchtete ... Ja, ich weiß selbst nicht, was ich eigentlich fürchtete.«

»So, so.« Der Unbekannte rückte den Hut ein wenig höher. »An Ihrer Aussprache des Wortes ›permetta‹ habe ich sogleich erkannt, daß Sie Berliner sind.«

Omstertal, der ein eigentümlich verkniffenes Gesicht erblickte, nickte.

»Hm, wenn jetzt eine verschleierte Person, nicht zu entscheiden, ob Frau oder Pfaffe, ob jung oder alt, ob Mädchen oder Mann, mich anspräche, so könnte ich augenblicks ihr Alter nennen, ihr Geschlecht, ihre wichtigsten Gewohnheiten, den Stand, das Gewicht und so weiter. Ich würde mich vielleicht manchmal irren, aber doch wohl nur ... sagen wir zu zehn Prozent.«

Omstertal hatte ihm zwar genau zugehört, gleichwohl aber war seine Aufmerksamkeit abgelenkt gewesen: er hatte nämlich in dem Fensterladen, vor dem der Unbekannte gestanden war, ein helles Loch gesehen. Sollte er seinen Landsmann erwischt haben, als er, auf irgendwelchen unlauteren Pfaden, durch dieses Loch blickte? Ein wenig verwirrt, wandte er ihm das Gesicht wieder zu. »Ja also ... da werden Sie von mir wohl auch bereits mehr wissen als meinen Heimatort.«

Der Unbekannte richtete sich auf. Auch seine Stimme hob sich: »Eben deshalb habe ich mit Ihnen weitergesprochen. Es erstaunt mich, daß sie mich für so dumm hielten, dem Erstbesten zu sagen, was ich Ihnen soeben sagte.«

»Danke.« Omstertal lächelte. »Ich freue mich, so ganz ex tempore einen Landsmann kennengelernt zu haben, dessen ich mich nicht zu schämen brauche, obwohl ich nicht leugnen kann ...«

»... daß er an fremder Leute Fenster steht und sie durch ein Loch beobachtet.«

»In der Tat.«

»Wollen wir nicht ein wenig spazieren gehen?«

Omstertal folgte schweigend und außerordentlich neugierig geworden.

Nach wenigen Schritten begann der Unbekannte: »Bevor ich Ihnen erkläre, weshalb ich vor jenem Loch stand, will ich Ihnen sagen, weshalb ich es Ihnen überhaupt erkläre. Weil ich Sie kenne. Gewiß, ich habe Sie noch niemals gesehen, weiß nicht einmal Ihren Namen. Und doch kenne ich Sie. Seit zehn Minuten. Aber das genügt mir, um zu wissen, daß Sie fünfunddreißig Jahre alt sind, unverheiratet (was nicht besagen will: unbeweibt), etwa siebzig Kilo wiegen, keinen Beruf haben und wahrscheinlich auch niemals einen hatten und daß Sie mein Bruder im Geiste sind. Nämlich ein – Dreckkerl.«

Omstertal griff sich an die Knöpfe und errötete. Schnell aber beruhigte er sich: er war, obwohl der sonderbare Kauz mit keiner seiner Behauptungen sich geirrt hatte, davon überzeugt, einen Verrückten vor sich zu haben. »Nicht sehr schmeichelhaft. Schließlich kann keiner von sich behaupten, ein Engel zu sein. Schlafen Sie wohl!«

Aber der Unbekannte hielt weitergehend seinen Ärmel fest. »Nicht so, mein Bester. Wiewohl Sie mich nun schon seit fünfzehn Minuten kennen, scheinen Sie noch nicht viel von mir heruntergesehen zu haben. Ich gebrauche jenes Wort nicht im landläufigen Sinne, sondern auf Grund meiner Präzision.« Er lachte blechern. »Präzision! Was für ein phantastisches und zugleich – ungenaues Wort!«

Omstertal vermutete, nicht recht gehört zu haben. Aber der Unbekannte wiederholte seinen letzten Satz, wie für sich hinsprechend. Sekundenlang hatte Omstertal die Absicht, wortlos kehrt zu machen. Aber da sprach der Unbekannte schon wieder mit seiner starken klaren Stimme, die alle Worte wie mit stählernen Zangen aus dem Mund hob: »Beachten Sie, daß meine Substantiva fast immer einen dem herkömmlichen Wortsinn fremden persönlichen haben. Was die Worte Dreckkerl und Präzision für mich bedeuten, werde ich Ihnen später erklären. Jetzt will ich, damit Sie mich weder für einen Charlatan halten noch für einen Verrückten, Ihnen vorerst sagen, daß ich Ihr Alter daran erkannt habe, wie Sie mir auf die Schulter klopften. Ein jüngerer Mann hätte fester geklopft, ein älterer entweder schwächer oder viel heftiger als ein junger. Dazwischen liegen allerdings noch viele Nuancen. Übungssache! Ihr Gewicht erkannte ich an Ihrer Körperhaltung. Mit dem Normalgewicht Ihres Alters (bei Ihrer Größe) wären Sie gerade dagestanden, nicht leicht gebückt. Daß Ihr Regenmantel Ihren Körper verbirgt, akzentuiert das. Beider Feststellungen vergewisserte mich Ihre Stimme. Sie ist überhaupt das Verräterischste. Mit dem Normalgewicht hätten Sie lauter gesprochen und mir auch um eine Nuance fester auf die Schulter geklopft. Ihre Stimme hat mir ferner verraten, daß Sie stets mit einer Frau schlafen. Es muß nicht dieselbe sein. Die Stimme eines solchen Mannes hat einen besonderen Klang, den ich nicht benennen mag. Adjektive sind noch unpräziser. Ach, alles ist so ungenau! Nie sagt man etwas das Ens der Dinge wirklich Treffendes. Ihre Stimme hat mir aber auch verraten, daß Sie beruflos sind und ein ...«

»Dreckkerl!« Omstertal schmunzelte vergnügt. »Sie haben wohl sehr eifrig Detektivromane gelesen?«

Der Unbekannte blieb, scharf aufblickend, stehen. »Nicht so, mein Bester. Sie sind doch ein Mann von Geist. Ich mache es Ihnen ja nicht leicht, die Geduld zu bewahren, aber sollten Sie wirklich keine Ohren dafür haben, daß ich mich konstant und immer deutlicher ankündige?«

Omstertal wurde, wie sehr er auch dagegen sich sträuben mochte, unbehaglich zumut. Zudem waren sie unterdessen auf den Lung' Arno gekommen, an dessen niedrige Steinmauer der Unbekannte sich lehnte. Und plötzlich sagte er: »Ich bin nämlich ein Genie.«

Omstertal mußte, obwohl er mit aller Energie versucht hatte, unbeweglich zu bleiben, doch lachen.

»Sehr richtig! Jedes Lachen enthält schon eine kräftige Portion Größenwahn.« Der Unbekannte rieb sich die Hände. »Nämlich auch Männer von Geist verhalten sich vor jener hohen Selbsteinschätzung ganz so wie Sie. Das ist eines jener leider sehr seltenen Symptome, die eklatant beweisen, was für ein gewaltiges Stück Dummkopf in jedem Menschen steckt. Hätte ich Ihnen ebenso à brûle-point mitgeteilt, ich wäre ein Idiot oder ein gemeiner Verbrecher, so hätten Sie, wie jeder andere, es geglaubt oder vielleicht für übertrieben gehalten und gerade solch schonungslose Selbsterkenntnis für geeignet, aus dem Idioten noch einen ganz passablen Dummkopf werden zu sehen und aus dem Verbrecher einen braven Kleinbürger. Wie kommt es nun, daß in diesem Fall immer sofort geglaubt wird und dort niemals? Weil das gewaltige Stück Dummkopf, das in jedem Menschen steckt, darin besteht, im Geheimen sich selbst für ein Genie zu halten und vielleicht noch einige Tote.«

Omstertal wurde noch unbehaglicher zumut, ja beinahe feindselig. Es gelang ihm jedoch, diese kleinliche Regung auszuschalten. »Sie haben mich zum zweiten Mal matt gesetzt. Ich will wenigstens nicht so dumm sein, meine gekränkte Eitelkeit zu verbergen.«

»Verfallen Sie nun doch nicht ins Gegenteil! Wie jung Sie innerlich noch sind!« Der Unbekannte ergriff zart Omstertals Arm, ließ ihn aber sogleich wieder los. »Ich habe mich nicht in Ihnen geirrt. Deshalb kann ich mir auch die Freude machen, Ihnen zu erklären, weshalb ich vorhin durch das Loch im Fensterladen blickte. Meine vorherrschende und wertvollste Eigenschaft ist nämlich die Neugierde. Von den Bonzen wurde sie mißkreditiert wie alles, was nur zu sehr dazu sich eignet, andere Aufschlüsse zu gewähren als die, welche opferwillig machen. Alles, was jemals in der Welt Neues vollbracht wurde, muß aber auf Neugierde als wichtigsten Triebfaktor zurückgeführt werden. Doch hier soll ein Essayist weiterschreiben. Ich entdeckte den Wert dieser Eigenschaft, als ich blutjung einmal bei einer meiner Cousinen durchs Schlüsselloch blickte, während sie mit ihrem Mann sich unbeobachtet wähnte. Ich war ein frühzeitig Mann gewordener Junge, hätte es aber dennoch nicht für möglich gehalten, daß etwas, das ich so wohl aus eigener Erfahrung kannte, dermaßen verändert auf mich wirken könnte, wenn ich es aus dem Versteck mit ansähe. Ich erkannte, bis zu welch unwahrscheinlichem Grad alles von Bosheit, Grausamkeit und Gemeinheit durchsetzt ist. So sehr, daß der Eindruck, ich hätte Irre vor mir, immer deutlicher mir sich aufdrängte. Am deutlichsten in jenem Augenblick höchster Lust, als ich sah, wie die Augen meiner Cousine wie in beginnender Verblödung brachen; und an jenen Stellen der Konversation, wo beide, scheinbar aus einem Übermaß von Glück, die Gekränkten spielten. Mit völlig erlogenen Argumenten. Mit dem Betrug einer Kennerschaft, die in der Situation selbst sich ironisierte. Mit einer eitlen Beredsamkeit, die immer boshaft blieb und gerade dann, wenn sie am hingerissensten sein wollte, nur Grausamkeit war und Gemeinheit. Ich wartete fiebernd darauf, daß jene beiden plötzlich in ein homerisches Gelächter ausbrächen, gegenseitig ihren Irrsinn erkennen und ihn einander an die Köpfe werfen würden. Nichts. Der Grund ist, daß das, was man selbst tut, einem durch sich selbst verstellt ist, und das, was man andere tun sieht, dadurch verstellt wird, daß die Agierenden durch das Bewußtsein, beobachtet zu sein, an Spontaneität einbüßen. Erst das versteckte Beobachten verschafft die erforderliche Distanz. Man ist weder Zuschauer noch Beteiligter. Man ist draußen und schaut hinein. Man ist vor dem spontanen, unverstellten, wahren Leben angelangt. Jeder Mensch, jede Beziehung von Menschen untereinander ist ein gefundenes Fressen für jeden Dritten, der draußen ist und durchs Schlüsselloch schaut. Was für Unsäglichkeiten! Was für ein Irrsinn! Was für ein Vergnügen! Der Schleier der Bonzen zerreißt. Und was man sieht, ist – der Dreck.«

Omstertal fühlte, daß er längst in die diesem Manne eigene Sphäre geraten war. Derselbe Trieb, von dem jener so viel sprach, hatte seiner sich bemächtigt: die Neugierde. »Wirklich nichts anderes?«

»Auch das, was man hört.« Der Unbekannte schwieg einige Sekunden, wie im Banne von Gedanken, die ihm in die Quere kamen und nicht sofort anzuschließen waren. »Ha, Geist! Leidenschaft! Fanatismus! Glaube! Nichts als verführerische Worte, hinter denen der Irrsinn lauert! Große Worte, um den eigenen Dreck zu verbergen. Ich sage Ihnen, hätte die Erde Geist, sie würde stehen bleiben. Aber sie ist ja selbst bloß Dreck. Und deshalb dreht sie sich um ihren Dreck. Alles dreht sich um den Dreck. Dreck dreht sich um Dreck. Dreck, alles Dreck ...« Er löste den Körper von der Steinmauer und wackelte mit den Händen wie ein Klosterprediger. »Seien wir doch einmal, lediglich zu unserem Vergnügen, völlig aufrichtig! Was bleibt da, scharf geknetet? Eitel Schweinerei! Ich versichere Ihnen, mich schon oft durchaus ernstlich gefragt zu haben, ob Goethe nicht vielleicht bloß ein Weltfurz war. Sie lachen? Lieber junger Megalomane, auch ich habe lange gelacht. Aber das Lachen ist mir vergangen. So vergangen wie die Megalomanie.« Er kicherte auf unerträgliche Weise. »Nun also, das Leben ist im tiefsten Grunde Dreck. Deshalb wären die Priester, die Staatsmänner, die Künstler, die Philosophen, behielten sie ihr Trugbild für sich, Privatirre, die meines Mitleids sicher wären. Da sie es aber aller Welt oktroyieren, sind sie furchtbare Verderber. Und sie entlarvten sich ja auch, wenn man sie durchs Schlüsselloch beobachtet. Was ich so an Grausamkeit gesehen habe, würde die Erfahrungen jedes regulären Irrenwärters übertrumpfen. Sie entlarven sich überdies auch ohnehin: sie lieben zwar die Menge vorgeblich in überschwenglicher Weise, jeder Einzelne aber, der vor ihre Lichter kommt, kriegt ihren sonst wohl verkapselten Dreck zu riechen, ihre Bosheit und Gemeinheit. Man habe doch den Mut zu seinem Dreck! Man muß die Verderber von vorher aus seinem Gehirn eliminieren, ganz frisch von sich aus vorgehen und sich den Teufel um das scheren, was andere gesagt und getan haben. Hier müßte eine neue Religion einsetzen, welche die Erde erobern wollte. Hier stünde man auf einer These, die keine Erfindung wäre wie die Moral, der Staat, die Kunst oder irgendein anderes Ideal. Und haben nicht alle, die auf diese ungenauen Präzisionen sich festgelegt haben, immer wieder sich blamiert? Die beste Entscheidung: gar keine. Es lebe der Dreck! ... Aber die Naturalisten, höre ich Sie denken! Haben sie nicht vielleicht doch streckenweise aufrichtig berichtet? Man frage die Leser! Man frage sich selbst! Früher oder später merkt jeder die Vorspiegelungen. Wenn das Leben nur zu einem kleinen Teil diesen Spiegelungen entspräche, müßten alle langst so tötlich sich gelangweilt haben, daß die Welt ausgestorben wäre und der letzte Selbstmörder ein grandioser Hohn auf die ganze Schöpfung. Gerade dadurch aber, daß das Leben wild und gefährlich ist, unberechenbar und grausam, irrsinnig und falsch, dumm und boshaft, eitel und gemein, ist es lebenswert, bietet es immer wieder neue aufreizende Situationen, Banalitäten, Frivolitäten, Brutalitäten, Bizzarerien, Bluffs und so weiter. Das allein macht Vergnügen. Nur hier geht es aufrichtig zu. Nur hier im Angesicht des Drecks. Und ich müßte ein dummes Kalb sein und ein noch dümmerer Lügner, wenn nicht jeder, der durch ein Schlüsselloch zwei Menschen beobachtet, sich köstlich amüsierte. Ein Schusterjunge ebenso wie ein Künstler. Der Unterschied in den Motiven würde bei genauer Untersuchung als sehr geringfügig sich erweisen. Denn wer über den agnoszierten Dreck sich freut, freut sich von seinem Dreck aus.« Wieder rieb er sich, vielleicht zum zehnten Mal, schadenfroh die Hände.

Omstertal lächelte, fast ein wenig bestürzt. »Jetzt weiß ich, was Sie eigentlich unter Dreckkerl verstehen. Auch darin haben Sie nicht geirrt: ich bin ein Dreckkerl in diesem Sinne. Diese Ihre Weltanschauung ist auch die meine, wenngleich ich sie ganz anders fundiert hätte. Denn für mich gibt es nicht nur Dreck. Für mich gibt es auch die Lust.«

Der Unbekannte drohte ihm schelmisch mit dem Finger. »Ich drohe Ihnen nicht mit dem Finger. Und es ist auch nicht schelmisch, sondern eine irre Geste: allein würdig einem Einwurf, wie Sie ihn eben taten. Würde ich Sie jetzt über Ihre Lust ausfragen, so würde ich ein Heer von Tiraden zu hören bekommen. Ich werde mich also hüten.« Er trat ganz nahe vor ihn hin und sprach ihm ins Gesicht: »Wollust ist doch der reine Dreck. Wollust ist doch das Leben an sich. Wollust ist doch alles. Wollüstig ist noch der nach einer tollen Liebesnacht gänzlich Geschwächte, der seine müden Glieder in die Kissen schmiegt. Wollüstig ist noch der gänzlich des Weibes Überdrüssige, der einen Hund streichelt. Wollüstig ist der Hungernde, der Verzweifelte, der Totkranke. Wollüstig ist jeder Lebende. Denn wer aufhört, wollüstig zu sein, stirbt. Nur der Wollüstige hält das Leben aus. Die Geschlechtslust ist ja nur ein Teil der ganzen Wollust. Allerdings ihr bestes Teil. Deshalb herrscht in jeder Wollust immer ein Teil fürs Ganze vor. Und in jedem Teil herrscht immer auch das Ganze. Es ist vielleicht die einzige Symbolik, die sinnvoll ist, daß durch jedes Loch des menschlichen Körpers Dreck passiert. Und daß er, wenn er mit letzter Wollust passiert, einen Zustand von Seligkeit verursacht, der zwischen Verblödung und manifestem Irrsinn schwankt. So daß in der Worte unmittelbarster Bedeutung das Leben in seinem intensivsten Moment nur um den eigenen Dreck sich dreht. Hier sage ich Ihnen in Parenthese, daß das Fleisch der Schweine, die am meisten Dreck fressen, am besten schmeckt; daß, je mehr Mist und Jauche die Zwiebel schluckt, desto schöner die Tulpe wird; und daß überall dort, wo viel Dreck hinkommt, auch viel blüht. Denken Sie nur an den schillernden Reiz der Prostituierten und der Gespräche mit ihnen ... Deshalb gehört zur höchsten Intensität jenes Momentes auch der Dreck des Wortes. Denn jeder ist doch in seiner Lust allein. Und alles, was er um sie herum spricht, dient nur ihrer Steigerung, ob es nun die schüchternen Liebesphrasen eines Gymnasiasten sind oder die ordinären eines alten Herrn: beide denken nur an ihre Wollust. Und ist sie da, dann ist sie ihnen so sehr alles, daß sie gegen ihre eigenen Worte wüten, gegen sich selbst und alles und einander von einer Grausamkeit zur anderen treiben ... bis zum Paroxymus: sie beißen, prügeln, drosseln, zerschlitzen einander. Wollüstigster Untergang des Drecks in grausamem Irrsinn.« Er schwieg, sichtlich nicht wissend, wie er zu dem zurückfinden könnte, was er noch sagen wollte.

Omstertal, der dies deutlich fühlte, half ihm. »Auch ich halte diese Präzisionen für ungenau und – phantastisch.«

Der Unbekannte senkte den Kopf, schweigend weitergehend.

Omstertal folgte ihm schnell. Als er neben ihm ging, hörte er ihn kichern. Es schmerzte fast, es zu hören.

»Sollte ich Sie falsch verstanden haben?«

Der Unbekannte blieb stehen und hob den Blick. »Ich bin im Reden ein wenig aus der scharfen Gedankenbahn geraten. Manche Sätze waren zu elliptisch, zu sehr aus anderen Bahnen hereingeworfen. Aber ich liebe es, auf meine Echappées zu achten. Da übertrifft man sich selber. Die wunderbarsten Dinge habe ich gesagt, ich wußte selbst nicht wie. Man muß bloß sehr auf der Hut sein, nicht auf sie hineinzufallen. Noch ein wenig Geduld: es ist meine letzte Antizipation. Sie haben sicherlich schon darüber nachgedacht, warum ich Ihnen das alles sagte.«

»Ja. Aber ich muß gestehen, daß ich den Grund nicht weiß.«

Der Unbekannte zwinkerte: »Wirklich nicht?«

»Nein.« Omstertal durchzuckte es: ›Vielleicht will er, daß ich ihm ein Kompliment mache?‹ Da er sofort daran glaubte, vermochte er nicht die Bosheit sich zu verkneifen, sich selber zu schmeicheln. »Doch, ich weiß es. Sie sagten mir das alles, weil Sie mich für einen Mann von Geist halten und deshalb hofften, Ihre Gedanken von mir richtig gewürdigt zu wissen.«

Der Unbekannte hieb die Zähne hörbar aufeinander. »Wollen Sie mir bitte definieren, was Genialität ist!« knurrte er barsch.

Omstertal zögerte: »Genialität ist – die richtige Vogelperspektive ... der große Schlüssellochblick von draußen nach drinnen.«

»Wenn diese Definition richtig wäre, dann wäre sie ja von mir und ich ein Genie.«

Omstertal preßte die Finger zusammen: dieser Kopf schien sich selber noch sich zu entwinden. »Wollen Sie sich désavouieren?«

Der Unbekannte schrie auf: »Jawohl, das will ich! Denn Genialität ist nichts als – präzises Phantasieren, das niemals den Anspruch erheben darf, richtig zu sein. Gedanken sind Stimmungen.«

»So daß also, wer, wie Sie soeben, präzis phantasiert hat, zwar ein Genie ist, aber kein absolutes. Demnach gäbe es im Grunde kein wahres Genie und hätte es keines gegeben.«

»So ist es. Sondern es gibt nur mehr oder weniger präzise Phantasten, die immer schlechten Glaubens sind, denn keine Stimmung hält vor, und bloß Schwerarbeiter an ihrem Ruhm. Megalomaniaken! Dreck, mein Herr, nichts als Dreck!« Omstertal vermochte diesmal das Lachen zu unterdrücken. »Wie heißen Sie?« Er hatte aber nur gefragt, um gleichsam sich Luft zu machen.

Und nun geschah etwas geradezu Unglaubliches. Der Unbekannte trat einen Schritt zur Seite und pißte seinen Namen in den Sand. Hierauf ging er wortlos und ohne den Hut zu ziehen.

Omstertal sah ihm nach, bis er um die Ecke bog. Dann versuchte er nochmals, den Namen im Straßensand zu lesen. Es gelang ihm jedoch nur, die Buchstaben C und m zu entziffern. Niemandem erzählte er jemals von diesem denkwürdigen Gespräch. Denn seither waren ihm außer manchem andern auch Gespräche verleidet.


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