Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wong Fun

Plötzlich stand er unter der Tür, bleich, klein, grünlich – und mit einem schwarzen Blutfaden auf der rechten Schläfe.

Die Galli lief herzu, griff ihm unter die Achseln und schleifte ihn mehr, als sie ihn führte, zu einem Klubfauteuil.

Alle reihten sich im Halbkreis um ihn. Spriller hielt ihm ein Glas Bowle an die Lippen, das er, gurgelnd vor Schwäche, leerte; und Molde gab ihm seine brennende Zigarette, die er in hastigen Zügen zu Ende rauchte, als hätte er diesen Genuß jahrelang entbehrt. Dann machte Spriller allen ein Zeichen, sich zu setzen; auch Mumm, der mit karbolübergossener Watte und einem Röllchen Charpie erschien. Völlig verdutzt, vermochte er nicht zu begreifen, daß niemand um Wong Funs Wunde sich kümmerte. Als aber Sprillers Hand ihn nochmals anwies, sich zu setzen, tat er es kopfschüttelnd und fast unwillig.

Die Galli ließ sich jetzt seitlich neben Wong Fun niedergleiten. Ihre Augen hingen an seinen Lippen, die, schmal und blutleer, schmerzvoll sich verschoben.

Alle fühlten einander atemlos warten. Aber keiner fragte. Jeder respektierte den lethargischen Zustand Wong Funs, dessen dünne straffe Lider endlich sich hoben. Die gelben starken Zähne öffneten sich: »Er hatte mich unten fast eingeholt. Ich sah, er wird sofort schießen. Werfe mich nieder. Er schießt. Ich greife unter die Brust nach der Spritze ... und dann blieb ich liegen. Zu Patmac's rannte er hinüber, um zu telefonieren. Schon war ich um die Ecke und sicher. Ak, ak.«

»Das fünfte Mal.« Molde stellte sich wichtig in eine Fensternische.

»Etwas Wunderbares, diese Spritze!« Die Galli wischte Wong Fun das Blut von der Schläfe. Nur ein kleiner runder Fleck blieb.

»Schade, daß er wieder so nahe dem Apartment verschwunden ist.« Spriller hastete nervös auf und ab. »Das muß von heute ab unter allen Umständen vermieden werden.«

Wong Fun hob sich langsam auf den Armen, ging mit zackigen Schritten auf Mumm zu und holte sich dessen Hände. »Das Blut ist gut.« Sein gedrungener, kugelrunder, dicht behaarter Kopf schien etwas erschnuppern zu wollen. »Aber zu spröde die Haut. Mehr Wasser trinken!«

Mumm errötete jäh.

»Verräterisches Erröten hat mein Vertrauen.« Wong Fun starrte ihm aus großer Nähe ins Gesicht. Sekundenlang. Miteins ließ er ihn stehen. »Sag, Spriller, du gibst ihm alles?«

Der nickte. »Er ist neunzehn und aus Florida.«

Wong Fun schaute scharf, wenn auch wie flüchtig auf Molde, dann auf die Galli und trottete, auf Möbel und Wände sich stützend, in den Korridor, allen mühselig mit der Hand winkend. »Muß eine Stunde schlafen, ak.«

»Das hätte ich nicht für möglich gehalten«, flüsterte Mumm.

Niemand achtete auf ihn. Sogar Issy, die ihm bereits einige Male zugelächelt hatte, trat weg von ihm und stieß das Röllchen Charpie, das ihm entfallen war, kichernd vor sich her.

Mumm ärgerte sich immer noch, aus all dem nicht klug werden zu können, wiewohl nicht das kleinste Detail ihm entgangen war, kein Wort dieser sonderbaren Szenen, von denen das Rätsel der Schußwunde, die nicht behandelt werden durfte, das sonderbarste blieb, da er weder Kugelsicherheit noch irgendeine unbekannte Injektion gelten lassen konnte. Er setzte sich verkniffen, harrte aber offenen Blicks.

Die Galli, deren helle spitzige Stimme ein wenig störte, ergriff Sprillers Arm. »Fritz, du bist ein ganzer Kerl!«

»Vielleicht.« Spriller nahm mit beabsichtigter Zimperlichkeit seinen Arm aus ihrer Hand und führte diese steif auf eine Stuhllehne. »Aber dieses Meisterwerk von einem Unterschlupf ist nicht mein Verdienst. Wie kommt es, daß Sie das noch nicht wissen?«

Die Galli schnalzte, scherzhaft ihr Gesicht hinter einem Arm verbergend. »Ihr seid ja alle so maulfaul und burlesk. Und dann bin ich erst zum zweiten Mal bei euch in London. Und diesmal noch kaum einen Tag.«

Spriller schichtete vier Kissen übereinander und setzte sich darauf. »Dieses Apartment, ohne das unsere Existenz, so wie wir sie führen, unmöglich wäre, ist unter unvorstellbaren Schwierigkeiten, mit geradezu übermenschlicher Geduld und mit Hilfe grandioser Verschleierungsmanöver umgebaut und eingerichtet worden.«

»Willst du damit sagen, daß du es nie zustande gebracht hättest?« Die Galli schob sich auf die Stuhllehne. »Man kennt die Grenzen seiner Fähigkeiten erst, wenn man sie erprobt hat. Weil das bei so vielen Menschen verhindert wird, sterben Hunderte als unbekannte Helden.« Spriller machte mit einer Quaste laszive Bewegungen. »Ich habe mich übrigens noch nicht ganz durchprobiert.«

Mumm strahlte mit den Augen. »Erzählen Sie doch die Geschichte des Apartments!«

Molde klatschte in die Hände, seinen viel zu feisten Hintern neben einer Chaiselongue niederlassend, auf die, dicht hinter ihm, Issy sich legte und ihre Beine so, daß seine großen Balkanaugen viel zu tun bekamen.

Plötzlich umschlich ein blondes schönes Mädchen unhörbar Sprillers Kissensitz, um an ihm vorbei zu Mumm zu gelangen. Sie reüssierte jedoch nicht.

»Hui!« Die Galli setzte neugierig die Zähne aufeinander. »Also los, Fritz! Das Apartment ...«

»... gehörte dem größten Verbrecher, den London je besessen hat – Gabriel Sulbac.« Spriller ließ die Quaste fallen, ein Knie mit beiden Händen ergreifend. »Einige Sekunden vor seinem Tod schenkte er es mir. Es war in Marseille. Ich wohnte Rue National, im Hotel Nîmes. Sulbac, ohne daß ich es wußte, nebenan im Prince Hotel. Eines Abends saß ich in der ›Abeille dorée‹, als er eintrat. Ich erkannte ihn sofort. Bei einem Boxkampf im Playhouse hatte man ihn mir einmal gezeigt. Ich hatte diesen Kopf nicht vergessen, weil er so ratzekahl war.«

»Drauflosgehen, das ist die ganze Weisheit«, hörte man mit einem Mal das schöne blonde Mädchen sagen. Hinterher pfiff sie leise.

Spriller wandte sich erstaunt nach ihr um. »Liebe Wally, es ist erst die ganze, wenn man zuvor seine Erfahrungen konsultiert hat.«

Mumm bekam unversehens einen roten Kopf und rief in Wallys blitzende Augen: »Energie ist alles! Wahnsinn! Gelder! Weh dir, wenn du ein Schwächling bist!«

Issy rieb sich die Nase mit dem Handrücken. »Dieser junge Mann, der nicht von gestern ist und erst seit heute bei uns, redet schon von morgen.«

Dieses Lob tat Molde mit einem hölzernen Lachen ab und einem schlechten Scherz: »Ich sehe bereits Sargbretter an seinem Podex kleben.«

»Schluß mit der Regeldetri!« Die Galli schlug mit der Spitze ihres Elbogens auf die Stuhllehne. »Recht haben nur die Ereignisse. Also, Fritz!«

Wally nickte, seltsam lächelnd, und versuchte noch einmal vergeblich, in Mumms Nähe zu kommen.

Um sich Distanz zu schaffen, schneutzte sich Spriller. »Obwohl Sulbac sein Gesicht unglaublich geschickt verändert hatte, fühlte er sich rasch von mir erkannt, ohne daß er aber gewußt hätte, wer ich sei.«

»War er häßlich?« Issy hing Molde ihre Beine auf die Schultern.

»Er hatte den Kopf eines hübschen Herrschaftskutschers.« Spriller hatte so lässig geantwortet, daß er nun sicher sein konnte, nicht mehr unterbrochen zu werden. »In jenem Restaurant trat er ganz nahe an meinen Tisch, mit der Frage, ob ich ihm nicht hundert Sous leihen könnte. Nach zwei Minuten wußte er, daß er einen Kameraden vor sich hatte, und pries diesen Zufall. Denn das ganze Lokal war schon voll von Ghouls. Und auf der Straße standen sie in jedem Haustor und an jeder Ecke. Da ich mich ganz sicher gefühlt hatte, war es mir gar nicht aufgefallen. Sulbac versprach mir leise einen Patzen dafür, mich unter solchen Umständen angesprochen und dadurch der Polizei vorgesetzt zu haben. Und er hielt Wort. Als sie uns nachher im Flur des Prince Hotels zernierten, zischte er mir zu: ›Sobald ich schieße, hau dich nieder!‹ Er schoß. Die andern auch. Ich lag schon vor den Schüssen. Er fiel neben mich. Da fühlte ich es wie einen kühlen Strahl auf der Schläfe und hörte ihn ganz nahe hauchen: ›Ich bin fertig. Was auch noch kommt, mach den Toten! Aber kehr mir erst die Hose um, wenn du drei Stunden gefroren hast.‹ In diesem Augenblick kamen die Ghouls heran und schleiften uns unters Haustor. Hier sagte mir Sulbac die letzten Worte: ›Merk dir London ... Knights ... 10 und 33 ... Maudette ...‹ Im Wagen blinzelte ich vorsichtig. Niemand saß vor der Tür. Man hielt uns also für ex. Sulbac lag tot neben mir. Lächerlich, daß ein Toter so häufig demoralisierend wirkt! Obwohl ich damals erst einundzwanzig war, also überhaupt leicht zu irritieren, hatte ich doch Respekt. Damals errang ich mein Selbstbewußtsein und meine Stirne vor den Katastrophen. Wir wurden in die Leichenkammer gelegt. Furchtbar kalt wars. Drei Stunden blieb ich bewegungslos liegen. Ich parierte. Spät nach Mitternacht erst erhob ich mich. Das höre ich. Da wird die Luft dünner und das Gehör schärfer. Langsam riß ich Sulbac die Hose auf. Siebenhunderttausend! Hinauszukommen war überraschender Weise nicht schwer. Unterwegs betrachtete ich mich in einem Ladenspiegel. An meiner rechten Schläfe lief ein dicker dunkler Blutfaden hinunter, der längst geronnen war. Wie aus einem Schußloch gekommen. Sulbac hatte, selbst schon zutode getroffen, eine kleine Spritze aus der Tasche gezogen (ich hatte sie in seiner Rocktasche gefunden) und mir den roten Strahl auf die Schläfe gespritzt, um mich zu retten und mit mir sein Erbe und sein Apartment.«

»Und seine letzten Worte?« Die Galli stieß, begehrlich lauschend, den Kopf weit nach vorne.

Da ließ Wally gegen den Kissensitz Sprillers sich fallen, der ins Wanken geriet, aber doch noch sich zu halten vermochte. Lächelnd drohte er ihr und antwortete der Galli: »Er hatte wohl schon geahnt, daß er verloren war, und noch im Restaurant mir viel von seinem Londoner Apartment erzählt. Auch von der Art der Zugänge. Aber weder deren Lage, noch die Adresse hatte er angegeben. Vermutlich hoffte er noch bis zum letzten Augenblick. Nun aber wußte ich alles: Knightsbridge Street 10 und 33, Maudette. Das war ein Hutsalon. Nun, es dauerte fast zwei Wochen, bis ich die Schiebleisten fand.«

Mumm, der mit vor Herzklopfen nassen Augen zugehört hatte, befriedigte der Schluß nicht. »Darf ich eine solche Blutspritze sehen?« Miteins bemerkte er, daß Wally ihm verstohlen winkte. Als er neben ihr stand, zwickte sie ihn schmerzhaft in die Hüfte und verließ unauffällig das Zimmer. Er folgte ihr über den Korridor in ein dunkles Zimmer, wo sie Licht machte.

Wong Fun lag auf einem Sofa unter einer roten Plüschdecke. »Kommt sehr nahe, alle beide!« Er richtete sich schwerfällig auf und berichtete mit zitternder Stimme, zwischendurch immer wieder um Atem kämpfend, daß er Komödie gespielt habe und erst unten auf der Treppe gespritzt. Man habe ihm auf der Straße aufgelauert und ihn aus nächster Nähe getroffen. Die Galli sei eine Verräterin. Wenn man nicht schnell handle, sei alles verloren. Die Wunde habe nach innen geblutet.

Wally weinte. »Spriller hat erzählt, wie er zu dem Apartment kam. Ich konnte es nicht hindern.«

»Sie hat ihn hingehalten«, jammerte Wong Fun. »Sie darf nichts merken. Sie ist verschlagen. Könnte ein Zeichen geben. Geht hinein und ...« Er fiel erschöpft zurück.

Mumm blickte starr in Wallys Pupillen. Er fühlte, als er ihre Hand hielt, daß er noch bebte.

Wong Funs Augen waren nur ein kleiner Spalt. »Die feine Galli! Molde, falscher Sire! Ihr müßt es machen. Sofort! Sperrt sie in die Dunkelkammer! Geht hinein! Schlau sein! Issy herschicken!«

Beide gingen, die Augen unentwegt auf ihn gerichtet; auch, als sie schon unter der Tür waren.

Bald darauf kam Issy. »Fühlen Sie sich nicht gut?«

Wong Fun nahm, fragend, ob sie Molde liebe, ihre Hand zwischen die seinen.

»Diesen gewichsten Pomadegauner?«

»Ernst sein! Antworten!«

Issy wollte frech werden und zerrte an ihrer Hand.

»Du mußt es sagen. Privatleben gibt es bei Spriller nicht. Hast es geschworen, Issy.«

»Aber es ist doch gar nichts ...« Issy blies die Backen auf und warf den Oberkörper schnell zurück.

Aber Wong Fun hielt sie fest und zwang sie. Seine Hände fühlten, wie ihr Widerstand schmolz.

Wie eine Erleichterung spürte Issy es miteins von ihnen ausgehen. Halb erstaunt, halb noch böse, stieß sie den Kopf hoch. »Er hat mich vorgestern vergewaltigt. Ich war wie gierig nach der Niederlage. Ich war aber nur ...«

»Hundert Jahre für dich, Issy. Denn du lügst nicht.«

»Er hat mir gesagt, daß er in Rußland ein Komplott geschmiedet hat. Morgen schlagen sie los. Es würde sicherlich glücken und er von der englischen Regierung fünfzehntausend Pfund bekommen, mich heiraten und in Sidney ein Haus kaufen. Ich war aber nur sehr dumm, glaube ich.« Issy schloß, die Zunge zeigend, die Augen.

Wong Funs Gesicht war wächsern geworden. Mit einer letzten qualvollen Anstrengung raffte er sich hoch und preßte die Hände auf Issys Schultern, so daß sie vor ihm in die Knie glitt. »Ak, ak. Das Komplott gegen uns ... Du wirst bald hören, was ...« Sein Kopf rutschte zur Seite. »Ak, ak ...« Er fiel nieder. Brust und Kopf hingen über das Sofa hinunter. Die Perrücke, die teilweise sich gelöst hatte, ließ eine quer über den Schädel laufende breite violette Narbe erkennen.

Issy hatte Mühe, ihre Hände zu benützen. Als sie endlich stand, biß sie sich in die Finger.

Da kamen alle. Einer hinter dem andern. Als Vorletzter Mumm. Hinter ihm Wally.

Spriller legte Wong Funs Kopf auf das Sofa, schob die Perrücke zurecht und riß die Augen auf, um nicht gerührt zu werden. Nach einem langen Schweigen brachte er mit unsicherer Stimme heraus: »Dem haben wir unsere Freiheit zu danken. Und diesen beiden da.« Er wandte Mumm und Wally das Gesicht zu, das dankbar aussehen wollte. Ein plötzliches klebriges Ziehen in den Augen aber machte es böse und scharf. Deshalb rief er hastig: »Stop! Alles liegen und stehen lassen! Sobald ich pfeife, durch den zehner Gang ab! Dem holden Pärchen Galli-Molde werde ich auf den Knopf drücken. Sie werden hochgehen.«

Alle drängten ungestüm zur Tür.

»Und nun auf Wiedersehen bei Patmac's in Portsmouth!«

Dem Andenken von Hector Salina


 << zurück weiter >>