Willy Seidel
Die vier Augen
Willy Seidel

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IV

Ich erwachte, und was darauf folgte, war genau so seltsam. Die Augen der Kinder, die ich im Traum so widerwillig hatte schwinden sehen, begleiteten mich im Tagesbewußtsein wie das Nachglimmen eines Netzhautreizes. Schloß ich die Lider, so erschienen sie auf der Purpurwand: vier fordernde, bittende Pupillen. Marga merkte es mir an; sie sprach das erlösende Wort: ›So laß sie dir doch kommen! Du hast ein Anrecht auf sie!‹

So einleuchtend mir das schien, ich tat es nicht. Ich hatte den Brief schon geschrieben, doch ich steckte ihn nicht in den Kasten. Mir genügte es auf einmal, jederzeit die Möglichkeit zu haben; die Verwirklichung erschien mir nicht so dringend. Ich verstehe mich selbst nicht ganz. Ich schleppte den zerknitterten Brief monatelang wie einen Talisman in der Tasche. Da gebar die Zeit, die erfüllte Zeit, endlich von selbst das Ereignis, das in der Luft lag: sie kamen mir zuvor, kamen trotz des unabgeschickten Briefes.

Das ging so zu: Ich erhielt ein Telegramm, daß ihr Stiefvater sie mit dem Auto nach Italien nähme; sie kämen hier durchgereist und wollten mir einen Besuch abstatten. Man bäte mich, am folgenden Tage um fünf Uhr zu Hause zu sein. – In dieser Nacht schlief ich nicht; ich befreundete mich bis zum grauenden Morgen mit einer sonst selten beanspruchten Kognakflasche und verfiel erst dann in einen bleiernen Schlaf. Es war mir nicht gelungen, die vier Augen wegzutrinken; sie waren nicht gewichen.

Mittags nahm ich das Telegramm, gab es Marga und sagte: ›Lies es und zeig ihnen, daß es angekommen ist. Ich bin verreist.‹ Sie wollte mich überreden, doch ich blieb bei meinem Entschluß. Um fünf Uhr hörte ich programmgemäß das Schnurren des kleingedrosselten Motors vor der Haustür. Ich hörte, wie sie die Treppe heraufkamen.

Das Herz schlug mir bis in den Hals. Ich schob Marga beiseite, die schon zur Wohnungstür gehen wollte, und schlich auf den Zehenspitzen zum Späherloch. Gerade erreichten sie unser Stockwerk. Angus war der erste, den ich sah; er war ein schlanker großer Junge in kleidsamem Sportanzug. Dann kam Leila, vierzehnjährig, bloßbeinig und hübsch, und während ich die Kinder, meine eigenen Kinder, wie ein Spion belauerte, hörte ich, wie Angus dem Mädchen mit gekrauster Nase und gelangweiltem Gesicht zuflüsterte: ›Ach Gott, wenn wir's nur schon hinter uns hätten!‹ – Ich sah darauf, wie sie heftig nickte und ihr rotblonder Zopf dabei ins Schwingen kam ... und dann klingelten sie.

Meine Brust zog sich zusammen; kaum brachte ich noch die Vorsicht auf, lautlos zurückzuschleichen. Nun hatte ich diese Augen in Wirklichkeit gesehen: die kühlen Augen zweier gesunder junger Menschen, die ich nicht kannte. Die mich nichts angingen.

Im verschlossenen Zimmer war ich in meinem Stuhl zusammengebrochen und schloß die Augen: da erloschen die vier leuchtenden Punkte und ließen ein Nichts zurück. Ich hörte Marga zur Tür gehen mit dem offenen Telegramm; hörte, wie sie meine Abwesenheit bedauerte... Währenddessen schnurrte draußen der leerlaufende Motor und fraß gierig diese unendlich kostbaren Sekunden auf. Dann sprangen die fremden Kinder die Treppe wieder hinab. Mit schnarrenden Stößen setzte der Wagen sich in Fahrt. Dann kam Marga zurück und half mir mit ihrer Liebe über meinen Zustand hinüber. – Was ich dir soeben erzählt habe, geschah ... gestern.«

»Du wirst sie nie wiedersehen ?«

Er hob den Kopf, als begriffe er mich nicht. »Deine Kinder...«, drängte ich.

»Meine Kinder! Hehe! Diese zwei Kinder! Die ihren Vater besuchen wollten. Ihren ›Erzeuger‹! Die da auf der Treppe standen!«

Ich mußte ihn anstarren, als sei er verrückt geworden. Denn – in der Tat – es trat ein irres Licht in seinen Blick, und er beschloß: »Diese ganze Angelegenheit mit den Kindern ist überhaupt seltsam. Ich habe sie ja nie besessen, diese Kinder! Ich habe sie ja – er kicherte kurz und tonlos – nur geträumt


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