Willy Seidel
Das siebenköpfige Tier
Willy Seidel

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VI

»Molk!« rief der Tischler. Er saß in der Wohnstube, und die Bibel lag aufgeschlagen vor ihm. Als der Knecht von draußen hereinkam, schob er die runden Brauen in die schmale Sektiererstirn und riß sich gedankenvoll am fahlen Schnurrbart. – »Setzt Euch, Molk.«

»Ein Sermon, Meister?«

»Kein Sermon, Molk. – Ich muß Euch berichten« – und der Tischler kicherte in sich hinein, so daß der Adamsapfel ins Hüpfen kam –, »daß ich den Ansturm des Sendboten abgeschlagen hab', des Sendboten von der anderen Partei. Den Diener des Usurpators.«

»Ich versteh' Euch schwer.«

»Den Pfaffen; daß Ihr's genau wißt.«

Molk sah seinen Brotherrn nachdenklich an. Er war ein schlichter Mensch, aber er merkte doch, daß hier etwas Seltsames im Werke war. Er starrte in die bleichen Augen des Tischlers, in denen ein fragwürdiger Humor glitzerte.

»Ihr meint«, fragte er tastend, leise vorwurfsvoll, »Hochwürden Degele?«

»Den mein' ich. Ich hab' ihm die Offenbarung erläutert. Ich muß sie wohl verstehen. Meint Ihr nicht? Wenn überhaupt jemand sie versteht, dann muß doch ich sie verstehen!«

»Ich dachte, Ihr hättet aufs Tischlerhandwerk studiert, Meister, und nicht auf Gottesgelahrsamkeit.«

»Stellt Euch nicht dümmer, als Ihr seid, Molk.«

»Ich bin durchaus nicht dumm, Meister. Aber warum solltet Ihr denn die Offenbarung Johannis besser verstehen als Hochwürden Degele?«

»Weil ich die Offenbarung, Molk, selber geschrieben habe. Deshalb hab' ich auch so gewaltige Oberhand über den Diener des Usurpators.«

Molk wiegte das Haupt. Er war, wie gesagt, ein schlichter Mensch; doch dieses war auch ihm zuviel. »Wenn Ihr sie selbst geschrieben habt, die Offenbarung, dann könnt Ihr ja mehr als Garn spinnen. Aber ich glaub's Euch nicht.«

Der Meister schlug die Bibel auf und zog eine kolorierte Postkarte hervor. »Ich will nicht debattieren mit Euch«, sagte er wegwerfend. »Von der Erleuchtung seid Ihr allzu weit entfernt! Wäret Ihr mit in Ruppin gewesen letzthin, so hättet Ihr Augen gemacht. Da haben sie mir das Gewand geküßt. Seht hier«, er zeigte ihm die Karte mit dem Buntdruck, »hier ist der Apostel Johannes. Prägt's Euch ein.« Er blätterte weiter in der Bibel und zog eine Photographie heraus. Darauf war er selber dargestellt, mit segnender Geste und in wallendem Gewand; offenbar ein Bettlaken. – »Und nun«, sagte der Tischler, »vergleicht die Bilder. Seht Ihr die Ähnlichkeit? Ich bin älter, freilich. Der Gottesjüngling hat Locken, duftende Locken.« Er schnalzte mit der Zunge. »Die wachsen nicht mehr auf meinem alten Schädel. Aber die Nase ist dieselbe, und die Augen, ich möchte sagen, das ganze Mienenspiel ist dem meinen gänzlich ähnlich und verwandt – er könnt' schier ein Sohn sein von mir. Aber 's ist so, daß ich ein Sohn bin von ihm, und hier drinnen haust er« – er riß sich die Jacke auf und schlug sich schallend auf die mageren Rippen –, »süß und milde.«

»Ihr sprecht so selten sanft, Meister. Sonst eifert Ihr und zankt.«

»Auch dem Heiligen lief zuweilen die Galle über ob der Einfalt der Menschen. – Aber nun, Molk, hier hab' ich das Bildlein. Ich kann Euch versiegeln damit; dann seid Ihr teilhaft der ewigen Seligkeit.«

»Nein«, sagte Molk jetzt heftig und trotzig, »ich halte nichts davon. Ihr habt Eure Tochter auch versiegelt, und trotzdem ist sie eine Hexe.«

Der Tischler fuhr auf; seine Augen blitzten gehetzt.

»Nehmt Euch in acht. Was sagt Ihr da?«

»Jawohl«, ereiferte sich Molk. »Eine Hexe. – Die Ratten fressen ihr aus der Hand wie die Hündlein. Und Eure Frau, die Zigeunerin, habt Ihr auch versiegelt, und trotzdem hat sie den Fluch gelegt auf Eure Tochter.«

Der Tischler war grau im Gesicht. Er schloß die Augen wie in Pein und reckte sich langsam in die Höhe. Er öffnete die Augen wieder; sie brannten.

»Wo ist die Verlorene?« stöhnte er heiser. »Sie wird wohl wieder auf dem Speicher hocken. Da könnt Ihr sie finden.«

»Führt mich, Molk.« Er schwankte ein wenig. »Ich werd' sie fragen, vor Euch.«

Dem Knecht wurde die Sache nun bedenklich.

»Fragt sie doch lieber beim Abendbrot«, schlug er zögernd vor. »Dann seid Ihr milde. Jetzt seid Ihr im Zorn.«

»Nein, nein«, stammelte der Tischler. »Ich bin nicht im Zorn. Aber eine Seele gilt es zu retten. Die Versieglung ist durchbrochen ... Da heißt es, nicht verziehen, nicht hintanhalten das Gute.« Er packte den Knecht am Arm. »Geht mit, geht auf der Stelle mit.«

Mißmutig fügte sich Molk. Leise stiegen sie die Speichertreppe hinan.

Seraphine, in ihrer hockenden Stellung vor dem Bretterstapel, schrak zusammen, fuhr herum und taumelte dann zurück.

Der Vater und der Knecht standen hinter ihr. – Doch wie benahm sich denn der Vater?

Gotthold Reibedanz stand vorgebeugt und stierte in das Loch zwischen den Brettern. Sein Kiefer hing lahm herab; seine Augen quollen hervor, und seine Hände, mit gekrümmten Fingern, zitterten – so, als ob er tödlicher Gefahr ins Auge sähe.

Und nun formten seine Lippen fast tonlos stockende Worte, wie von übermenschlicher Anstrengung hervorgewürgt:

»Das siebenköpfige Tier!«

»Meister«, sagte Molk besänftigend, »seid gefaßt, um Christi willen. Was gibt's denn da drinnen?«

Auch er beugte sich nun und blickte unter den Bretterstapel. Sein Ausdruck veränderte sich seltsam. Schaudernd hielt er sich die Nase zu. Große Furcht malte sich in seinen Zügen.

»Der Rattenkönig«, murmelte er. »Schlagt ihn beileibe nicht tot, Meister. Der Förster schlug ihn tot – Ihr wißt doch, der zu Eßlingen – und hatte zu büßen dafür. Wir tun das Geschmeiß in einen Sack und bringen's in den Wald.«

Der Tischler stand noch immer da wie ein Berauschter.

»Das ... Tier ... der ... Apokalypse!« tönte es hohl aus ihm hervor mit einer Stimme, die ihm gar nicht zu gehören schien. Langsam drehte er sich und starrte Seraphine an. Diese wich zehn Schritt zurück, gegen die Speicherluke hin. Denn nach der Treppe war ihr der Weg verstellt von den Männern. – »Was redet ihr von Ratten – ihr Verworfenen, ihr Sünder! Ratten hab' ich mit Gift gefüttert mein Lebtag. Die Hündlein der Zara – haha – und sie selbst, das Zigeunermensch, hab' ich mit dem gleichen Gift gefüttert. Ausgerottet hab' ich die Sünderin, und ausrotten werd' ich ihre Brut. Dem HErrn opfern.«

»Vater!« schrie Seraphine schrill.

»›Und doch beteten sie‹« – sang der Irre weiter – »›den Drachen an, der dem Tier die Macht gab, und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich? Und wer kann mit ihm kriegen?‹« – Er brüllte auf und torkelte auf die Tochter zu. »Lästerung! Auf jedem Haupt eine Lästerung! Hinweg, Verfluchte! Hinweg, Bastard der Sünde! Der faule Brodem der Sünde stinkt aus diesen Brettern. Der Drache hat Macht hier – der Drache ...«

»Meister!« Molk eilte ihm nach und packte ihn um die Brust von hinten wie mit einer Zange. Der Tischler wehrte sich und entwickelte Riesenkräfte; Schaum tropfte ihm vom Mund.

Währenddessen langte Seraphine bei der Luke an und ließ sich lautlos ins Leere gleiten. Man hörte drunten ihr dumpfes Aufschlagen.

Oben, im Speicher, dröhnte das Geräusch eines erbitterten Kampfes, der im Poltern des stürzenden Bretterstapels plötzlich erlosch.


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