Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen als Großvater
Heinrich Seidel

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9. Allerlei von Kindern.

Hühnchen als Grossvater zu sehen, war eine wirkliche Freude, und obwohl er in sehr jugendlichem Alter zu dieser Würde gelangt war, so musste man doch sagen, er war dazu geboren. Die Mischung von grossväterlichem Ernst und kindlicher Vertraulichkeit in seinem Wesen war bewunderungswürdig und ward nur durch die Geduld übertroffen, mit der er sich den phantastischen Launen seiner Enkelkinder fügte. Er war Alles, was sie wollten, ein Elephant, ein Pferdebahnwagen, ein Kameel, eine Dampfmaschine, ein Hottehühpferd, ja sogar scheussliche Lindwürmer darzustellen gab er sich her. Denn einst, als er bei uns war und sich mit den Kindern auf dem Teppich balgte, während ich in meinem kleinen Zimmer noch eine nothwendige Arbeit zu erledigen hatte, ward ich gerufen, um ein lebendes Bild in Augenschein zu nehmen, das die drei darstellten und das an die Phantasie des Beschauers die ungeheuerlichsten Anforderungen stellte. Es betitelte sich: »Der Ritter St. Georg mit dem Drachen.« Hühnchen wand sich als Lindwurm am Boden, während der vierjährige Wolfgang, auf den Knieen liegend, das Pferd darstellte. Auf ihm sass die kleine zweijährige Helene als Ritter Georg und zielte mit einem Spazierstock auf den furchtbar aufgesperrten Rachen des gräulichen Ungethüms, während dieses mit seinen Krallen mächtig ausholte.

Sogar zu Dichtungen regten ihn seine Enkel an. Als der kleine Wolfgang zwei Jahre alt war, spielte er vorzugsweise mit zwei wolligen Holzthieren, einem Lamme und einem Hunde, deren Fell er mit einem Kamme und einer kleinen Bürste eifrig bearbeitete, an welchem seltsamen Spiele er ein unerschöpfliches Gefallen fand. Dazu machte Grosspapa ein kleines Märchen, das später zum eisernen Bestande der Kinderstube gehörte und allen unseren Kindern, wenn sie in gleichem Alter waren, nicht oft genug erzählt werden konnte. Es lautete: »Es waren einmal ein Wauwau und ein Mählamm, und es waren einmal ein Kamm und eine Bürste. Da sagte das Mählamm zur Bürste: »Komm Bürste, bürste mich!« Da sagte aber der Wauwau zur Bürste: »Nein Bürste, bürste mich!« Nun sagte das Mählamm zum Kamm: »Komm Kamm, komm, kämme mich!« Aber gleich sagte auch der Wauwau zum Kamm: »Nein Kamm, komm, kämme mich!« Da thaten Kamm und Bürste sich in ihr Futteral und sprachen: »Alles zu seiner Zeit! Geduld, Geduld verlass mich nicht!«

Von den vielen Versen, welche er auswendig konnte und den Kindern zu ihrem Jubel vorsang und vorsagte, will ich nur ein kleines Gedicht mittheilen, das mir bemerkenswerth ist, weil es mir vorkommt, als müsste der Verfasser Hühnchen's gekannt und sie unter dem Bilde dieser Vogelfamilie dargestellt haben. Es lautete:

Bei Goldhähnchen's.
      Bei Goldhähnchen's war ich jüngst zu Gast!
Sie wohnen im grünen Fichtenpalast,
In einem Nestchen klein,
Sehr niedlich und sehr fein.

Was hat es gegeben? Schmetterlingsei,
Mückensalat und Gnitzenbrei,
Und Käferbraten famos –
Zwei Millimeter gross.

Dann sang uns Vater Goldhähnchen was:
So zierlich klang's, wie gesponnenes Glas.
Dann wurden die Kinder beseh'n:
Sehr niedlich alle zehn!

Dann sagt' ich: »Adieu!« und: »danke sehr!«
Sie sprachen: »Bitte, wir hatten die Ehr',
Und hat uns mächtig gefreut!«
Es sind doch reizende Leut'!

Und was konnte Grosspapa nicht Alles machen! Das erste war, wenn er kam, dass ihm alle Invaliden gebracht wurden, an denen es in einer Kinderstube nie fehlt, und dass er sich den Fischleimtopf holte. Hühnchen brachte sie alle zurecht, er setzte den Pferden neue Beine an und den Wagen gab er die Räder wieder. Soldaten, die höchst unmilitärischer Weise ihre Gewehre verloren hatten, bewaffnete er aufs Neue und kein Thier in der Arche Noah's gab es, das nicht schon einmal in seiner Kur gewesen wäre. Wolfgang hatte aber auch einen solchen felsenfesten Glauben an die unfehlbare Kunst seines Grossvaters, dass einst, als ein kleiner Knabe bei einem wilden Strassenspiele das Bein gebrochen hatte und die Mutter darüber weinte und lamentirte, er auf diese zuging und sagte: »Nich weinen Frau! Grosspapa mit Fischleim wieder heil machen!«

Schon als Wolfgang vier Jahre alt war, baute Hühnchen ihm einen gewaltigen Drachen, und als wir ihn einst in Steglitz besuchten, liessen die beiden ihn steigen. Nachher sagte Hühnchen zu mir: »Eigentlich habe ich hier nicht ganz ehrlich gehandelt, denn der Junge ist für dieses Vergnügen noch viel zu klein und hat sehr wenig davon. Ich will dir nur offen gestehen, dass mich schnöde Selbstsucht geleitet hat, denn obwohl ich Grossvater bin: Drachen steigen lassen, macht mir noch ganz ungeheuer viel Spass!«

Unter Hühnchen's Fingern ward jedes Stückchen Papier zum Spielzeug und nahm hunderterlei Form und Gestalt an, und was für komische Männchen, Thiere, Mützen und sonstige Dinge er aus einem Taschentuch gestalten konnte, war einfach unglaublich. Gab man ihm eine Anzahl schwedischer Streichholzschachteln, ein wenig steifes Papier, ein bischen Zwirn, einige Streichhölzer, etwas Siegellack und eine Scheere, so machte er daraus die halbe Welt. Zum Beispiel eine schöne Waage mit Schaalen aus Streichholzschachteln, oder ganze Güterzüge mit Achsen aus Streichhölzern und Rädern von steifem Papier, die sich zur grossen Wonne der Kinder »ordentlich drehten,« oder den Palankin der Prinzessin von China, den Staatsschlitten des Kaisers von Russland, Mühlenräder, die mit Sand getrieben wurden, und wer weiss, was sonst noch.

Jedes Weihnachtsfest und jeder Geburtstag brachte ein neues Bilderbuch seiner Fabrik, wozu er die Bilder aus illustrirten Journalen, Anzeigen und dergleichen sammelte und sorgfältig in einen Band aus steifem Papier klebte. Komische Unterschriften oder kleine selbstgemachte Verse bildeten den Text zu diesen Bilderbüchern. Im Hühnchen'schen Hause kam überhaupt nichts um. Jedes Stückchen Staniol, jedes Stück buntes Glas, jeder blanke Knopf, jedes Gummibändchen und was sonst an Werthlosigkeiten und Abfall im Hause vorkommt, wurde aufbewahrt und fand gelegentlich eine manchmal geradezu geniale Verwendung.

Am ersten Ostertage fuhren wir alle stets nach Steglitz und in Hühnchen's Garten wurden Eier gesucht. Er musste wohl ein besonders gutes Verhältniss mit dem Osterhasen haben, denn in Hühnchen's Garten legte dieser räthselhafte Vierfüssler, der seinen einzigen Kollegen in der Eierproduktion, das wunderliche Schnabelthier sowohl in der Reichhaltigkeit als auch der Massenhaftigkeit seiner Erzeugnisse so fabelhaft übertrifft, die herrlichsten Eier. Da gab es goldene und silberne und solche, die in allen Farben des Regenbogens glänzten. Da gab es welche, die nach der Methode, die im Spreewald angewendet wird, mit den herrlichsten Ornamenten geziert waren, und einige sogar hatte ihr Erzeuger mit seinem eigenen Bildniss geschmückt und mit deutlicher Pfote darunter geschrieben: »Z. fr. Erg. Der Osterhase.«

Grosspapa Hühnchen war natürlich in Folge so trefflicher Eigenschaften der Liebling aller meiner Kinder und selbst der kleine Werner, der zwei Jahre nach Helene geboren war, streckte ihm schon, wie er noch ganz klein war, vom Arme seines Mädchens die Händchen entgegen und krähte vor Vergnügen. Sein besonderer Liebling aber war Helene. Unsere Kinder hatten alle etwas Sonniges in ihrem Wesen, das mochte wohl eine Erbschaft von ihrem Grossvater sein, aber Helene hatte diese Eigenschaft im höchsten Grade. Wir nannten sie nur das Sonnenkind oder Grosspapas Sonnenschein. Von ihrem freundlichen Gesichte ging stets ein heller Schimmer aus und auf ihrem braunen Haare lag es wie ein goldiger Glanz. Sie hatte auch mit dem Sonnenschein ein besonderes Verhältniss und spielte sogar mit ihm. Als das Kind fast vier Jahre alt war, rief mich meine Frau einmal um die Mittagszeit, als die Sonne zwischen den Vorhängen hindurch einen breiten Strahl in das Schlafzimmer sendete, und zeigte mir ein holdes Bild. Dort kniete Helenchen vor einem Stuhle, auf den das himmlische Licht mit ganzer Kraft funkelte und griff mit den zarten Händchen in den hellen Sonnenschein und versuchte ihn mit zierlicher Bewegung der Finger in die dunklen Ecken zu streuen. Ausser dem Sonnenschein liebte sie die Blumen, welches seine Kinder sind und oft rührte es mich tief, wenn sie bei unseren Spaziergängen das kleine dürftige Blumenwerk, das an den staubigen Wegen wuchs, mit heller Freude begrüsste und die kümmerlichen Glöckchen und Sterne sorglich in der kleinen warmen Hand nach Hause trug. Wie arm sind doch die Kinder einer so grossen Stadt gegen die auf dem Lande. Wir waren in dem Sommer, da Wolfgang sechs Jahre alt wurde, und nun zum Herbst die Schule besuchen sollte, von Onkel Nebendahl auf sein Pachtgut eingeladen und ich werde nie vergessen, wie ich mit den beiden älteren Kindern das erste Mal im Felde spazieren ging. Wir gelangten auf einem Fusssteige durch Kornfelder zu einem wenig befahrenem Landwege, der über und über mit Blumen bewachsen war und weithin in schimmernder Farbenpracht vor uns lag. Die Kinder betrachteten dieses Paradies anfangs mit einer heiligen Scheu und Helene sagte nur wie überwältigt: »O Blumen, Blumen, Blumen!« Dann stellte Wolfgang mit zaghafter Schüchternheit die Frage: »Dürfen wir uns hier wohl ein paar pflücken?«

Ich sagte: »Sie gehören euch alle! Pflückt so viele ihr wollt!«

Dies erschien ihnen wie ein Märchen, denn sie waren nur an die staubigen Wegränder der nächsten Berliner Umgegend und an das Nolimetangere des Thiergartens gewöhnt und so unzählig viele herrenlose Blumen hatten sie noch niemals beieinander gesehen. Sie stürzten sich nun wie zwei jauchzende Schwimmer in diesen Blumenstrom und geriethen in einen förmlichen Rausch über die Fülle dieser Reichthümer. Bald tauchten sie unter zu den rothen Blüthen des Klees, bald erhoben sie sich wieder und stürzten zu den goldenen und weissen Tellern der Wucherblume, bald wurden sie gelockt von den grossen hellblauen Blüthensternen des Wegewarts, bald von den rothen Büscheln der Flockenblumen oder den goldenen Knöpfen des Rainfarrens. Als sie nun aber im angrenzenden Kornfelde die purpurnen Köpfe des Mohns, die leuchtenden Raden, den dunkelblauen Rittersporn und vor Allem die Kornblumen, nach ihrem Sinne die Königin dieser ganzen Gesellschaft, erblickten, da glaubten sie sich in einem Zauberlande. Das sind nun allerdings wieder Freuden, welche ein Landkind, das mit dergleichen als gemeinen Dingen gross geworden ist, niemals kennen lernt.

So rauften und rupften sie, bis sie so viel von der schimmernden Farbenpracht dieses Ortes zu grossen Büscheln vereinigt in den Händen trugen, dass diese den Reichthum nicht mehr zu fassen vermochten. Ich band ihnen die Sträusse mit Binsen zusammen und wie grosse Schätze trugen sie sie nach Hause.

»Vater,« sagte Wolfgang dann, nachdem er eine Weile still und ernsthaft nachgedacht hatte: »Onkel Nebendahl ist wohl sehr, sehr reich?«

»Warum meinst Du das, mein Kind?«

»Weil er so furchtbar schrecklich viele Blumen hat!«

Onkel Nebendahl und seine Frau, welche ebenso behäbig, rundlich und glänzend aussah als ihr Mann, hätten unsere Kinder in aller Gutmüthigkeit fast umgebracht, wenn wir nicht stets auf der Hut gewesen wären. Wie so manche Landleute geneigt, das städtische Leben als ein Hungerleben anzusehen, waren sie stets darauf aus, sowohl während als ausserhalb der regelmässigen Mahlzeiten, deren es täglich fünf gab, unsere Kinder bis oben hin voll gute Sachen zu stopfen. Insonderheit Onkel Nebendahl war der Ansicht, ein ordentlicher Junge auf dem Lande müsse stets, wie er sich ausdrückte, »mit den Vorderfüssen im Fliegenschrank stehen,« so habe er es auch gemacht und er sei darum auch stets ein »Bostbengel« gewesen. Als Mittel, solches Ziel auch bei Wolfgang zu erreichen, empfahl er die reichliche Vertilgung von Butterbroten in der Zwischenzeit und zwar von dem groben Landschwarzbrot, dessen Scheiben ohngefähr einen halben Quadratfuss Oberfläche haben. Ein einziges solches Ungethüm, ohngefähr zwei Zentimeter dick und mit einem halben Zentimeter Butter und dessgleichen Lederkäse darauf, hätte meinen Sohn, der an so schweres Geschütz nicht gewöhnt war, auf der Stelle niedergeworfen.

Helene, obwohl sie ihn im Punkte des Essens ebenfalls nicht befriedigte, war auch sein Liebling. »Die kleine Dirn',« sagte er, »is immer vergnügt un so fix zu Bein wie 'n Brummküsel, un tanzt un singt un springt den ganzen Tag. Wenn ich manchmal so sitz un grätz' mich un ärger' mich über die Wirthschaft, un die kleine Dirn' kommt rein, un so drat sie man in der Thür is, da is sie auch schon bei mir un sitzt mir auf 'n Schooss un kuckt mich an mit 'n Gesicht, als wenn die Sonn' in 'n goldenen Becher scheint – ja denn is aller Aerger gleich weg. Un alle Kreatur is ihr gut, das mit Wasser werd' ich mein lebtag' nich vergessen.«

»Wasser« hiess nämlich ein ungemein böser Kettenhund, der einzig und allein nur vor dem Onkel und dem Manne, der die Kühe fütterte und auch ihn mit Nahrung versorgte, Achtung hatte, die übrige Menschheit aber ohne alle Ausnahme in die Waden biss, wenn er ihrer habhaft werden konnte. Diese bösartigen Naturanlagen hatten ihm, nachdem er eine genügende Anzahl von Kindern und grossen Leuten in unverantwortlicher Weise geschädigt hatte, eine dauernde Anstellung als Kettenhund eingetragen, und die ewige Gefangenschaft, die solcher Beruf mit sich brachte, hatte sein Gemüth natürlich nur noch mehr verdüstert. So lebte er denn in seiner geräumigen Hütte einsam als ein Sonderling und Menschenfeind, keine andere Freude kennend, als, sobald ein fremder Mensch den Hof betrat, an der rasselnden Kette einem Teufel gleich herum zu toben und zu rasen und seinem sinnlosen Zorn und Ingrimm durch ein fanatisches Gebell und durch Beissen in Steine Luft zu machen. Wegen der oftmaligen Wiederholung dieses Manövers war rings um seine Hütte ein tief ausgetretener Kreis beschrieben und in diesen wagte sich weder Mensch noch Thier, mit Ausnahme der frechen Sperlinge, die vor nichts in der Welt Respekt haben.

Nun ward am zweiten Tage unserer Anwesenheit auf dem Gute bald nach Tisch bemerkt, dass Helene verschwunden war. Man suchte und rief sie im Hause und im Garten, allein es kam keine Antwort. Endlich sah Jemand zwei zierliche Kinderstiefel neben dem Kopf des bösen Kettenhundes, der scheinbar tückisch brütend in seiner Hütte lag. Ein tödtlicher Schreck befiel uns Alle, als dies bekannt wurde, Frieda ward leichenblass und selbst Onkel Nebendahl verfärbte sich. Er ging allein auf die Hütte zu, indem er uns anwies, im Hintergrunde zurückzubleiben. Der Hund richtete sich auf, als er seinen Herrn sah, fletschte die Zähne und knurrte bedenklich. In diesem Augenblicke vermochte sich Frieda nicht mehr zu halten und sie rief mit lauter Stimme: »Helene! Helene!«

Da rappelte sich in der Hütte etwas empor und neben dem zottigen Kopf des Hundes erschien das rosige Angesicht des kleinen Mädchens. Es rieb sich anfangs ein wenig verschlafen die Augen und sah dann von Glück strahlend auf uns hin.

Frieda wagte nicht mehr zu rufen, sondern winkte nur eindringlich mit der Hand. Da sagte die kleine Helene zu ihrem Nachbar: »Adjö Hund, nun muss ich wieder zu meine Mama,« und dabei tätschelte sie ihm den zottigen Kopf, während der Köter gerührt winselte, ihr die Hand zu lecken versuchte und mit dem Schwanz wedelte, wie man aus dem Klopfen gegen die Wand der Hütte vernehmen konnte. Dann, als sie ruhig und seelensvergnügt zu uns ging, folgte ihr der Hund bis an den Kreis, der die Grenzen seines Reiches bezeichnete, und winselte und günste nach ihr und stellte ein Bild dar, unter welches man gleich hätte schreiben können: »Die Sanftmuth in Hundegestalt.«

Nachher erzählte sie: »Ich war so traurig von den Hund, dass er immer so allein is und an der Kette und kann garnich rumspringen wie Karo und Fips und Bergmann. Und da bin ich hingegangen und hab' ihm viele schöne Blumen gepflückt. Die mocht' er aber garnich leiden und hat sich garnich gefreut. Und da war seine Wasserschale ganz leer und er hatte immer die Zunge raus und den Mund auf und machte immer so.« Sie ahmte das Jichern eines Hundes nach. »Und da bin ich an den Trog gegangen und hab' ihm Wasser in seine Schale gemacht. Und das hat er all' ausgetrunken und seine Zunge wie einen Löffel dabei gemacht und es hat immer schlapp, schlapp, schlapp gesagt. Und da sind wir beide in sein Haus gegangen und da hab' ich ihm die Geschichte von dem Wauwau und dem Mählamm erzählt. Die mocht' er woll gern leiden und hat immer mit 'n Schwanz an seine Hütte geklopft. Und dann haben wir beide 'n bischen geschlafen. Und dann hat mich Mama gerufen. Und nun ist die Geschichte aus.«

Dies war das letzte Jahr, da wir die Zeit unserer Sommerfrische uns selber auswählen durften, denn im nächsten Herbste kam Wolfgang in die Schule und von dieser Zeit an gerieth natürlich das ganze Haus unter den Zwang dieser öffentlichen Einrichtung. Mir kommt es nach meinem bescheidenen Verstande manchmal so vor, als wenn der Schule eine Wichtigkeit beigelegt wird, die nicht ganz der Uebertreibung ermangelt. Eine mir bekannte Dame ward kürzlich von einer Freundin gefragt, warum sie so niedergeschlagen aussähe. Da rief jene aus: »O die Schande, die Schande! Ich weiss nicht, wie ich es ertragen soll! Ich kann Niemandem mehr gerade in die Augen sehen!« Und so lamentirte sie noch eine ganze Weile weiter. Nachher kam es heraus, dass weiter sich nichts ereignet hatte, als dass ihr ältester Junge nicht versetzt worden war und sich nun mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder in einer Klasse befand. Und man glaube ja nicht, dass eine solche Anschauung so vereinzelt dasteht. Die Menschen scheinen ganz vergessen zu haben, dass man das Beste im Leben erst nach der Schule lernt.

Die Schule, wie sie heute besteht, ist eine Art von Forstkultur, und die einzelnen Klassen bedeuten Schonungen verschiedenen Alters. Sieht man eine Kiefer, die sich frei nach allen Seiten hat entwickeln können, so wird man erfreut durch die kraftvolle Eigenart dieses Baumes, den man dann gar wohl der südlichen, um so Vieles berühmteren, Pinie vergleichen kann. In der Schonung aufgewachsen aber werden alle Stämme gleich, lang und schlank und ebenmässig und sind oben mit einem öden grünen Büschel versehen, aber sie geben ein vortreffliches Nutzholz. Das Gleiche erzielt auch die Schule. Sie drückt die Begabten herab zur schönen goldenen Mittelmässigkeit und zerrt die minder Begabten zu dieser begehrenswerthen Stufe empor. Und wie das Auge des Forstmannes lacht, wenn er so eine gut bestandene Schonung betrachtet, wo ein Baum aussieht wie der andere, so freut sich auch der richtige Schulmeister, wenn er seine schöne gleichmässige Waare an die nächste Klasse abliefern kann.

Dieses Forstmeister-Prinzip mag wohl ganz gut und nützlich sein, aber richtige Kiefern sind das nicht mehr, die man dort erzielt, sondern Bauholz-Kandidaten. Und wenn nicht manchmal trotz alledem ein solcher Baum durch günstige Umstände Luft und Licht um sich bekäme, dass er sich entwickeln kann nach seiner zwar etwas knorrigen Eigenart zu kraftvoller und eigenthümlicher Schönheit, so wüssten wir am Ende garnicht einmal mehr, wie eine Kiefer wirklich aussieht.

Es war ein wichtiger Tag, als ich hinging, um meinen jungen Pflänzling in diese grosse Baumkultur einzureihen. Er ging frisch gewaschen und gekämmt und sauber angezogen gar fröhlich und erwartungsvoll mit, denn er wusste ja nicht, dass die schönste Zeit seines Lebens, da er im Sonnenscheine fröhlich wachsen und seine jungen Zweige nach allen Seiten breiten konnte, nun vorüber sei. Von nun an galt es, in Reihen zu stehen unter dem Zwange einer unerbittlichen Dressur.

Ein Saal nahm uns auf, in dem die feierliche Stille nur durch gedämpftes Flüstern unterbrochen und jedes unschuldige helle Kinderstimmchen, das sich erhob, gleich wieder zur Ruhe getuscht wurde. In der Mitte dieses Saales stand ein ungeheurer grüner Tisch und um diesen herum sassen die Mütter, eine jede mit ihrem ebenfalls wohlgekämmten und säuberlich angezogenen Sprössling zur Seite. Die in weit geringerer Anzahl versammelten Väter standen mit den ihrigen an den Wänden herum. Dann ward die Thür nicht schüchtern und vorsichtig, sondern mit herrischem Ruck geöffnet und unter erwartungsvollem Flüstern erschien der Herr Direktor und begab sich mit raschem Schritt an das oberste Ende des Tisches. Zu beiden Seiten von ihm nahmen zwei Unterlehrer Platz und die Sache wurde feierlich. Für diesen Tag hatte der Gewaltige einen Theil seiner erhabenen Grösse abgelegt und indem er mit beiden Händen seinen grauen Backenbart auszog, blickte er wie ein wohlwollender und gut aufgelegter Monarch über die zukünftigen kleinen Schüler dahin, deren unschuldige Kinderaugen alle auf ihn gerichtet waren. Dann wurde der erste Name aufgerufen und alle die kleinen Menschenkinder nach einander in die neue Fessel eingeschmiedet. Der Gewaltige schien guter Laune zu sein und machte allerlei kleine Scherze, die mit beifälligem Gemurmel aufgenommen wurden, und schien sehr verwundert, als eins dieser Knäblein trotzdem von der Feierlichkeit dieses Momentes so ergriffen wurde, dass, als es seinem zukünftigen Oberherrscher die Hand reichen sollte, es in lautes Schluchzen ausbrach. »Du ahnungsvoller Engel du,« dachte ich, während andere dieser Knirpse im Bewusstsein ihrer stärkeren Männlichkeit lächelnde Blicke auf ihre Mütter oder Väter warfen. Dann ward ein neuer Name aufgerufen und eine blühend aussehende Dame trat, hervor, die dem Direktor schon bekannt zu sein schien. »Der wievielte ist denn das, den Sie uns bringen?« fragte er wohlwollend.

»Der fünfte!« sagte die Dame und ein leichtes Roth stieg ihr in das blühende Antlitz. Der Direktor nickte wohlwollend und legte wie segnend dem Kleinen die Hand auf das Haupt, während in der Korona ein murmelndes Geflüster des Beifalls und der Bewunderung laut wurde und die glückliche Mutter mit unterdrücktem Stolze vor sich hin blickte. Der Zufall wollte es dann, dass auf ein zwerghaftes kleines Männlein, das kaum über den Tisch blicken konnte, ein Enackssohn folgte, ein Riesenkind, das die meisten seiner Genossen um mehr als Haupteslänge überragte. Der Direktor legte sich in den Stuhl zurück und mass den Jungen mit bewundernden Blicken. »Wie alt bist Du mein Sohn?« fragte er. »Sechs Jahr!« ertönte ein festes aber dünnes Stimmlein. »Alle Achtung!« rief der Direktor, »Du bist ja ein Riese!« Wieder allgemeines Vorbeugen und bewunderndes Geflüster rings im Umkreis und possirlich war es zu sehen, wie alle Mütter und alle Väter die ihrigen mit den Augen massen, um sie dann mit jenem Riesenkinde zu vergleichen, während der zu diesem gehörige Vater sich grosse aber vergebliche Mühe gab, Gleichmuth zu heucheln. Endlich kamen auch wir an die Reihe und im Nu war mein kleiner Wolfgang aus einem freien Spielkinde in einen Schüler der dritten Vorschulklasse verwandelt und in die grosse Schonung eingereiht.

Wir waren zu derselben Zeit aus der Frobenstrasse fortgezogen und hatten eine neue Wohnung in der Flottwellstrasse, nahe dem Karlsbade. An dieser Wohnung fand Hühnchen ganz besondere Vorzüge. »Dergleichen,« sagte er, »kann man doch nur in einer Grossstadt haben. Aus den Vorderfenstern schaut Ihr auf den Güterbahnhof der Potsdamer Bahn und habt das brausende Treiben des Weltverkehrs vor Augen, aus den Hinterfenstern blickt Ihr aber in das Idyll friedlicher, blühender und ausgedehnter Gärten, wo lauter Grün und Vogelgesang ist, wo junge Mädchen in hellen Kleidern auf den Steigen wandeln und fröhliche Kinder spielen. Da ist für jede Stimmung gesorgt.«

Von dieser Wohnung aus machte Wolfgang seinen ersten Schulbesuch, und da der Weg zu meinem Bureau ebenfalls in dieser Richtung lag, so begleitete ich ihn des Morgens, während das Mädchen ihn nachher wieder abholte. Doch nach einigen Tagen kam der grosse Moment, wo er zum ersten Male allein gehen sollte und dieses Unternehmen erfüllte ihn mit grosser Wichtigkeit. Ich hatte mir vorgenommen, ohne sein Wissen hinterher zu gehen, um zu sehen, wie die Sache abliefe, denn wir trauten seinem Ortssinne nicht so recht.

Ich sehe das kleine tapfere Männchen noch immer vor mir, wie es mit dem Ränzel auf dem Rücken so wichtig und zuversichtlich in die mächtige Riesenstadt hineinstapfte. Zuerst unter der Ueberführung der Potsdamer Bahn hindurch, dann am Kanal entlang, immer vorwärts, ohne sich umzusehen. Bei der Schöneberger Brücke musste er links abbiegen, das that er aber nicht, sondern tüffelte immer muthig weiter. Nun, er konnte auch über die Möckernbrücke gehen, obwohl es etwas weiter war; vielleicht hatte das Mädchen mit ihm schon einmal diesen Weg gemacht. Aber auch an der Möckernbrücke ging er ohne Zaudern vorüber und immer weiter den Kanal entlang. Mich überkam etwas wie Rührung, als der kleine Mann so unverdrossen und zuversichtlich auf seinem falschen Wege fortpilgerte, immer gerade aus in die weite Welt hinein. Denn wenn er auf diesem Wege fortfuhr, dann kam er wohl schliesslich über Südrussland und Westsibirien nach China, aber niemals in seine Schule.

Nun wollte ich die Brücke an der Grossbeerenstrasse noch abwarten, nur um zu sehen, ob ihm auch dann noch keine Bedenken kämen, allein auch hier schickte er sich an, ohne Zaudern weiter zu wandern, immer in schnurgerader Richtung auf China los. Doch nun beschleunigte ich meine Schritte und holte ihn ein. »Junge, wo willst Du denn eigentlich hin?« fragte ich.

Er wunderte sich natürlich garnicht darüber, dass ich plötzlich da war, sondern sagte ganz ruhig: »Ich will in meine Schule, Vater!«

»Aber, was gehst Du denn für einen Weg?« fragte ich und er antwortete: »Ich geh' doch so lange, bis das Wasser alle ist, und dann kommt doch der Platz, wo all' die Kohlen sind und dann der, wo immer die Pferde reiten, und dann der grosse Thorweg« – er meinte den Tunnel, der unter der Anhalter Bahn durchführt – »und dann bin ich gleich da.«

Nun war es heraus. Er hatte niemals beachtet, dass wir stets über die Schöneberger Brücke nach links abgebogen waren, und dass aus diesem Grunde dann das Wasser »alle« geworden war und wartete nun, immer geduldig weiter schreitend, dass diese Erscheinung endlich eintreten sollte. Ach, der Kanal mündete in die Spree und das Wasser wäre ihm immer zur Seite geblieben bis nahe der böhmischen Grenze, wo dieser Fluss entspringt, da endlich erst wäre es »alle« geworden.

So unbedeutend dies kleine Erlebniss auch ist, so werde ich es doch nie vergessen und so lange ich lebe, werde ich es vor mir sehen, wie der kleine Mann mit seinem Ränzel auf dem Rücken so unverdrossen und voll kindlichen Vertrauens in die weite Welt hinauswandert.

 

 


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