Heinrich Seidel
Leberecht Hühnchen als Großvater
Heinrich Seidel

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5. Neugarten.

Das Glück war uns günstig in diesen Wochen, wir hatten Tage, von denen es im Liede heisst:

»Blauer Himmel, sonn'ge Tage
Ziehn in goldner Pracht vorbei:
Ja, noch ist es keine Sage,
Was der Dichter singt vom Mai.«

Ach, selten nur spendet sie dieser berühmte Monat, dann aber sind sie so schön, dass man sie niemals wieder vergisst und sie seinen zweifelhaft gewordenen Ruf auf lange wieder befestigen. Denn man weiss nun doch wieder, dieser Monat kann herrlich sein, wenn er will, doch leider will er nur allzu selten. Da wir nun aber ganz ungemein viel Sonnenschein in uns selber trugen, so hätten wir so vieles äusseren garnicht einmal bedurft und als mal ein trüber Regentag dazwischen fiel, da fanden wir auch diesen wundervoll. Wie behaglich war es da auf der geschützten Veranda zu sitzen, während der Regen auf das junge Laub trommelte, Blumen und Kräuter aromatischen Duft aushauchten, und Alles dankbar und erfolgreich die laue Feuchtigkeit trank, so dass Wiesen und Bäume zusehends grüner wurden. Wie erfreulich war es unter sicherem Schutze hinzusehen auf das wimmelnde Gehüpfe der Tropfen, die mit sanfter Musik auf die Fläche des Sees niederrieselten und sie wie mattgeschliffen erscheinen liessen, während die fernen Ufer und Inseln in feuchte Schleier gehüllt waren.

Am andern Tage glänzte wieder heller Sonnenschein und die Welt erschien uns noch einmal so blank und strahlend als vorher. Am Abende dieses letzten Tages unserer Anwesenheit geschah es, dass wir zum ersten Male unser Inkognito brachen und Herrn Doktor Havelmüller auf seinem neuen Grundstücke besuchten. Denn hier wird es nun hohe Zeit einzufügen, dass wir uns eigentlich gar nicht in Tegel befanden, sondern am Rhein und in anderen schönen Gegenden. Mein Urlaub war mir ertheilt worden zum Zwecke meiner Verheirathung nebst anschliessender Reise nach Kassel und an den Rhein, und nur die nächsten Freunde wussten, dass wir heimlich in Tegel steckten. Doktor Havelmüller, der in dieser Zeit täglich des Abends herüberkam, um in seinen beiden Gärten zu arbeiten, achtete unser Inkognito auf das strengste, und wir hatten uns bis jetzt kaum begrüsst. Jetzt aber, da mein Urlaub ablief und wir aus unserer behaglichen Zweisiedelei unter die Menschen zurückkehren mussten, beschlossen wir uns zu erkennen zu geben und Doktor Havelmüller in »Neugarten«, wie er sein neues Grundstück nannte, zu besuchen. Er hatte nämlich schon im Anfang des vorigen Jahres gegenüber dem Parke des Eisenhammers einen halben Morgen Kiefernheide gekauft und trug sich mit Plänen, sich dort ein Häuschen zu bauen. Da er sich jedoch durchaus nicht für irgend einen Stil entscheiden konnte und fortwährend zwischen einem tiroler oder schwarzwälder oder sächsischem Bauernhause, oder einer gothischen oder romanischen oder Renaissance-Villa hin- und herschwankte, dann auch den Kajütenstil der Schifferhäuser an der Ost- und Nordsee in Betracht zog, so hatte er einstweilen sich dort eine Erdhütte errichtet und den niedrig gelegenen Theil des Grundstückes in Gartenland verwandelt, während er den höheren, der mit einundvierzig wirklichen Kiefern geziert war, seiner »natürlichen Wildheit« überlassen hatte.

Als wir durch die kleine Pforte in den eingezäunten Raum traten, sahen wir den Doktor beschäftigt, wie er mit mächtigem Eifer Wasser pumpte, das durch blecherne Röhren in hölzerne Tonnen lief, die an verschiedenen Stellen in die Erde versenkt waren. Der Boden war sorglich umgegraben und in Beete getheilt, auf denen zum Theil ein freundliches Grün schimmerte. Im übrigen leuchteten sie in dem schönen weisslichen Gelb des unverfälschten märkischen Sandes. Als der Doktor uns bemerkte, hielt er die Hand über die Augen und sah eine Weile scheinbar befremdet auf uns hin. Dann ging etwas wie freudiges Wiedererkennen durch seine Züge. »Ha, willkommen,« rief er. »Schon zurück vom schönen Rhein? Willkommen in Neugarten!«

Wir lachten ein wenig über die schauspielerische Kunst, mit der er Ueberraschung heuchelte, da wir uns doch fast alle Tage von ferne gesehen hatten, und dann zeigte er uns die Wunder seiner neuen Besitzung. »Stosst Euch nicht, lieben Freunde, an dem weisslichen Aussehen dieses Bodens,« sagte er, »auf dem märkischen Sande wächst Alles, was man verlangt, wenn er nur Dung und Wasser bekommt. Und ausserdem ist es Urboden. Seit Menschengedenken war hier Kiefernheide und es ist nicht anzunehmen, dass es früher anders gewesen ist. Ich bin der erste Mensch, welcher dieses Land den Zwecken höherer Kultur dienstbar macht. In Folge dessen sind hier im vorigen Jahre schon kannibalische Kartoffeln gewachsen.«

Dann führte er uns dem höher gelegenen Theile zu auf einem schmalen Steige, der an dem niedrigen Abhang empor ging.

Als ich nun hier den »Wald« musterte, fand ich, dass an allen Kiefern ein Stück der Rinde entfernt war und sie an dieser Stelle mit fortlaufenden Nummern gezeichnet waren. Auf meine Frage nach der Bedeutung dieses Verfahrens, drehte Doktor Havelmüller wehmüthig lächelnd seinen Kinnbart und sagte: »Ja, lieber Freund, es könnte doch einmal vorkommen, dass hier Holz gestohlen wird. Da wäre es mir doch sehr tröstlich zu wissen, welche Nummer es gewesen ist.«

Wir hatten uns unterdess auf eine sehr ursprüngliche Bank gesetzt, die zwischen dem Park des Eisenhammers und dem der Wasserwerke hindurch eine Aussicht auf den im Sonnenlichte flimmernden See gewährte und nun zog der Doktor ein in Halbleder gebundenes Buch hervor, schlug es auf und deutete mit einem gewissen Stolz auf seine erste Seite. Ich las:

»Grundstück »Neugarten« bei Tegel.

Seine Geschichte, Grösse und Bedeutung, seine Bodenbeschaffenheit, seine Flora und Fauna nebst sonstigen Merkwürdigkeiten.«

»Lieben Freunde,« sagte Doktor Havelmüller, »als ich die Idee zu diesem Buche fasste, war ich so glücklich, als hätte ich den Stein der Weisen gefunden. Der Augenblick ist mir noch deutlich in der Erinnerung. Es war im vorigen Juni. Ich lag hier oben auf dem Rücken und schaute mit dem unvergleichlichen Gefühl, auf meinem eigenen Grund und Boden zu ruhen, durch die von der sinkenden Sonne röthlich angestrahlten Kiefernwipfel in das schöne Blau des unermesslichen Weltraums. Es war ein idyllischer Abend, mein Buchfink, der in Kiefer Nr. 29 sein Nest hatte, sang unablässig, meine Goldammer – sie wohnte unter dem kleinen Dornbusch dort hinten in der Ecke – sass auf dem Zaun und zwirnte ihr einförmiges Lied, das zu vergleichen ist einem feinen Sonnenstrahl, der durch eine Blattlücke fällt, meine siebenzehn Ameisenlöwen dort an dem Sandabhang brüllten« . . . . . »Brüllen die wirklich?« fragte Frieda plötzlich ganz unschuldig dazwischen. »Ungemein!« erwiderte Havelmüller mit eiserner Stirne und fuhr dann fort: »Also meine Ameisenlöwen brüllten, meine Heuspringer wetzten, meine Fliegen summten, meine Schmetterlinge wiegten sich um meine Blumen und ich sonnte mich in dem wunderbar behaglichen Gefühle, das in dem Worte »Mein« liegt. »Mein, so weit das Auge reicht,« sagte ich stolz vor mich hin und das durfte ich, denn man wird sich erinnern, dass ich auf dem Rücken lag. Um mich herum natürlich und auch unter mir hatte mein Grundstück seine Grenzen, in der Tiefe ging es nur bis zum Mittelpunkt der Erde, wo es in einen Punkt zusammenschwand. Das war jedoch der Punkt, wo auch alle Königreiche dieser Welt zu Null werden. Zog man aber von diesem Punkte aus Linien an die Grenzen meines halben Morgens und verlängerte sie bis in die Unendlichkeit, so war es klar, dass sich mein Grundstück kegelförmig in das Weltall hineinstreckte und immer grösser und grösser wurde, je weiter die Entfernung war. Der Rechenteufel fing an mich zu plagen, ich nahm mein Taschenbuch hervor und ermittelte zunächst den Flächeninhalt meines Grundstückes, den es einnehmen würde in der Entfernung gleich der unserer Sonne.

1300 Quadratmeter war es gross hier auf der Erde. Rechnete man nun die Entfernung der Sonne rund zu 24000 Erdhalbmessern, so ergab sich nach dem Satze, dass der Flächeninhalt eines Kegelquerschnittes sich vergrössert, mit dem Quadrat der Entfernung von der Spitze also in Sonnenweite folgender Inhalt:

24000 × 24000 × 1300

= 748,800,000,000 Quadratmeter
oder = 748 800 Quadratkilometer.

Das sind über 200,000 Quadratkilometer mehr als die Grösse von Deutschland. Was mache ich mir aus 200,000 Quadratkilometern bei solchem Reichthum? Weg damit! Wir nehmen also an, dass der Inhalt meines Grundstückes in Sonnenweite gleich dem Flächenraum von Deutschland ist. Erhabenes Gefühl, nicht wahr? Aber es kommt noch viel schrecklicher. Einer der uns am nächsten liegenden Fixsterne ist der Sirius , seine Entfernung von der Erde beträgt rund eine Million Sonnenweiten. Ergiebt für mein Grundstück in der Entfernung des Sirius eine Grösse gleich einer Billion Deutschländer. Eine Billion ist eine furchtbare, entsetzliche, grauenhafte Zahl, welche mit zwölf Nullen geschrieben wird und deren Grösse kein Mensch sich mehr klar machen kann, selbst der ewige Jude nicht. Weiter habe ich nicht mehr gerechnet, denn ich fühlte bereits wie der Grössenwahn an meinem Gehirn pickte.«

Hier unterbrach sich Doktor Havelmüller plötzlich und rief: »Sehen Sie dort den schlanken Vogel, rasch! Er hat eben die Luft über meinem Grundstück durchschnitten. Kennen Sie ihn?«

Ich folgte schnell seiner zeigenden Hand und sah eben noch, wie blitzschnell ein Sperber um die Waldecke bog. Ich nannte ihm den Vogel. »Schön,« sagte Havelmüller befriedigt, schlug sein Buch auf, unterstrich darin etwas und sah nach der Uhr. Dann sagte er: »Astur nisus, festgestellt am 30. Mai, Abends 6 Uhr 7 Minuten.«

Darauf fuhr er fort: »Das war nämlich der Gedanke, der mich an jenem Tage so fröhlich stimmte und der sich einfand, nachdem ich jene ungeheuerliche Berechnung angestellt hatte. Ich sagte mir: Was willst du in die Ferne schweifen in den unfruchtbaren Aether und in die unermesslichen Sternenweiten? Aber dieses kleine Fleckchen Erde, das dir gehört, das willst du kennen lernen nach jeglicher Richtung, seine Geschichte, seine Bodenbeschaffenheit, seine geologischen Verhältnisse, seine Flora und seine Fauna. In der Beschränkung zeigt sich der Meister. Ich will mich auf einen halben Morgen beschränken, den aber will ich kennen. Meine verehrten Freunde, Ihr glaubt garnicht, was ich seitdem schon Alles gelernt habe. Die Formation meines Grundstückes gehört dem Diluvium an und im Diluvium weiss ich jetzt Bescheid wie ein Geologie-Professor. Was nun die Flora und die Fauna betrifft, so habe ich in der Pflanzenkunde die meisten Fortschritte gemacht. Denn hier hat man mit einem sesshaften Geschlechte zu thun, das weder mit Beinen noch Flügeln in der Welt herumschwietisirt und nur in seiner Anfangsform als Same einige Beweglichkeit entwickelt. Kinder, ich sage Euch, ein reiches Gebiet. Allein, was ich im vorigen Herbste mit meinem Freunde Johannes hier für Moose und Flechten festgestellt habe, das sollte man kaum glauben. Auf dem Boden an den Rinden der Bäume, an den verwitterten Zaunpfählen, lauter verschiedene Arten. Ja, vertieft man sich in's Einzelne, da sieht man erst, wie unerschöpflich reich die Natur ist. Auch der Vorrath an einjährigen Pflanzen, den wir auf diesem Grundstücke festgestellt haben, ist sehr bedeutend.

In diesem Augenblicke ertönte über uns ein leises Sit, sit! und als wir schnell aufblickten, bemerkten wir gerade noch ein sonderbares Vögelchen, das wie ein Armbrustbolzen mit etwas zu dickem Kopfe anzusehen, mit schnurrendem Fluge durch die Luft hüpfte und in den Laubwipfeln des gegenüber liegenden Parkes verschwand.

»Ha,« rief Doktor Havelmüller, »wieder was Neues!«

»Die Schwanzmeise,« sagte ich.

Havelmüller schmunzelte sehr befriedigt, schlug sein Buch auf, sah nach der Uhr und notirte, nachdem er den bereits vorläufig eingetragenen Namen unterstrichen hatte: »Parus caudatus, festgestellt den 30. Mai, Abends 6 Uhr 11 Minuten.«

Wir gingen nun umher, um die übrigen Merkwürdigkeiten dieses Grundstückes anzusehen. »Ich muss Sie doch mit meinen Miethern bekannt machen,« sagte der Doktor mit seinem gewöhnlichen wehmüthigen Ernst. »Allerdings eine merkwürdige Sorte, denn ausserdem, dass sie keine Miethe bezahlen, machen sie noch Ansprüche auf Ernährung aus den Erträgnissen meines Bodens. Hier also zunächst in diesem Jahre auf Kiefer Nr. 31 wohnt vier Treppen hoch Familie Buchfink, der Mann ist Sänger. Sein Schlag wird aber leider von Kennern unter die Klasse der »Putzscheeren« gerechnet, taugt also nicht viel. Die dritte und die zweite Etage sind zu meinem Leidwesen unbesetzt. Dagegen im ersten Stock wohnen dort in meinem grössten Wachholderbusch seit diesem Frühjahr Hänflings. Ich würde Sie gern mit dieser liebenswürdigen Familie und ihrer niedlichen Häuslichkeit bekannt machen, allein die gnädige Frau sehen bereits zum zweiten Male in diesem Jahre einem frohen Familienereigniss entgegen und sind angelegentlichst mit Brüten beschäftigt. Ich möchte nicht stören.« Dies sagte der Doktor mit einer Zartheit, die nicht zu übertreffen war.

Dann fuhr er fort: »Derselbe Grund verhindert mich, Sie mit der Familie Goldammer bekannt zu machen, die sichtlich mit ihrem Quartier zufrieden, wiederum ihre Parterrewohnung unter dem kleinen Dornenbusch dort in der Ecke auch in diesem Jahre bezogen hat. Ausserordentlich zufrieden aber bin ich mit der Vermiethung meiner Kellerräume, Diese sind am meisten begehrt, zuweilen aber finden sich unter den Bewohnern auch manche zweifelhafte Existenzen. So wohnt in diesem ansprechenden und geräumigen Erdloche unter Kiefer Nr. 13 ein verdächtiges Individuum, das ein liederliches Leben zu führen scheint, denn es pflegt nur Nachts auszugehen und es gilt von ihm, was von Peter Gottfried Rempel gesagt wird:

»Ach, er sank noch immer tiefer,
Sumpfte Nachts – am Tage schlief er.«

Nach einer vorgefundenen Visitenkarte ist dies Geschöpf von einem thierkundigen Freunde für einen Iltis erklärt worden. Wahrscheinlich wegen solcher unliebsamen Nachbarschaft ist dieser benachbarte Kaninchenbau von seinen ursprünglichen Bewohnern verlassen worden, man munkelt sogar von Mord. Dafür hat sich eine alte freundliche Kröte dort eingemiethet, die Abends in ihrer Hausthür zu sitzen und mit goldenen Augen in's Wetter zu schauen pflegt. Wir wollen doch gleich mal sehen.«

Damit wies er uns an, leise näher zu treten und bald sahen wir auch das stattliche Reptil in der Oeffnung des Kaninchenloches ganz behaglich sitzen. »Das gute Wesen ist fast zahm und frisst beinahe aus der Hand,« sagte Havelmüller. Er zog eine kleine Dose aus der Tasche, in welcher einige Mehlwürmer krabbelten und warf einen dieser Leckerbissen dem Thiere vor die Nase. Die Kröte ward aufmerksam, richtete sich etwas auf und starrte mit den goldenen Augen eine Weile auf den schönen gelben Wurm hin. Dann ein plötzlicher Vorstoss mit dem Kopfe, man sah wie die dicke klebrige Zunge kräftig vorschnellte, um die Beute anzuleimen und dann war der Mehlwurm verschwunden.

»Ja, meine liebe Rosaura,« rief jetzt Doktor Havelmüller, »das glaub' ich wohl, das schmeckt! – Sie heisst nämlich Rosaura,« sagte er dann, während er seine Stimme zu einem geheimnissvollen Flüstern dämpfte, »und sie ist eine Seele, aber man weiss ja, wie so alte Damen sind. Von Zeit zu Zeit muss ich ihr eine kleine Aufmerksamkeit erweisen, sonst kündigt sie.«

»Von den Miethern meiner Kellerwohnungen will ich nur noch die vornehmsten erwähnen,« sagte Havelmüller, »denn ihre Zahl ist Legion und so nenne ich nur noch eine Familie Waldmaus und zwei desgleichen Landmaus, welche trotz reichlichen Familiensegens in behaglichen Verhältnissen leben. Ferner einen unheimlichen Gesellen in schwarzem Pelzrock, der wühlerischen Tendenzen huldigt und fortwährend auf Umsturz bedacht ist. Ich habe ihm desshalb bereits im vorigen Jahre die Wohnung gekündigt, allein was soll ich machen, der Kerl geht nicht.« Doktor Havelmüller zuckte die Achseln und sah sehr melancholisch aus.

In diesem Augenblicke kam ein sonderbares Individuum an dem Garten vorüber, ein Mann mit etwas zu kurzen Hosen, die unten ausgefranst waren und mit einem Rocke, der in den Tagen, »da Bertha spann«, wohl einmal braun gewesen sein mochte, jetzt aber überall in ein unbeschreibliches Grün hinüber schielte, sowie mit einem Hute aus der Konfliktszeit, der ihm zu klein war. Der Mann lehnte sich über den Zaun und sah mit seinen etwas verschwommenen Aeuglein eine Weile theilnahmsvoll auf den Garten hin: »Bei die Witterung wachst et,« sagte er dann.

»Jawohl,« antwortete der Doktor.

»Een zu scheener Maimonat,« sagte dann wieder der Mann, »wie er in's Gedicht steht.«

»Gewiss,« erwiderte Havelmüller.

»So'n Dichter kriegt zuletzt doch immer Recht!« äusserte der sonderbare Fremdling wieder.

»Natürlich,« erwiderte der Doktor, »denn wie singt schon Friederike Kempner:

»Die Poesie, die Poesie,
Die Poesie hat immer recht!«

»Scheen gesagt!« sagte voller Anerkennung der Fremde. Dann druckste er eine Weile zögernd vor sich hin und schoss endlich mit der Frage hervor:

»Kennen Sie den Dichter Liebig?«

»Meinen Sie den, der den Fleischextrakt erfunden hat?« fragte unser Freund.

»Nee,« antwortete jener, »nich mal mit ihn verwandt.«

Dann nahm er langsam seine runzlige Hand hervor und nachdem er damit eine Weile nachdenklich die achttägigen Bartstoppeln an seinem Kinn gerieben hatte, begann er wieder: »An den hat sick die Menschheit ooch versündigt.«

»Wieso,« fragte der Doktor.

»Na,« antwortete er, »Schillern und Kotzebue'n und Quida'n kennt jeder, wer aber kennt Liebig'n? Sie ooch nich. Und ick weess doch, dat Sie 'n Doktor sind und haben Bildung gelernt. Aber det macht der Brodneid heitzudage. Sie lassen Eenen nich uffkommen. Et is 'ne heuchlerische Krokodillenbrut, sagt Kotzebue. – Kennen Sie Kleisten sein Grab bei Wannsee? – Den haben se verkannt und er hat sick dodtgeschossen. Haben Sie neilich in die Zeitung gelesen von Lindnern? Den haben se ooch verkannt und er is verrückt geworden. Ebenso verkennen se Liebig'n und wie 's mit den noch mal kommen wird, det weess ick nich. Mahlzeit die Herrschaften.«

Damit wandte er sich energisch ab und schob, allerlei Unverständliches vor sich hinmurmelnd, gesenkten Hauptes weiter.

»Kinder, Kinder,« sagte Doktor Havelmüller dann, als der Mann ausser Hörweite gekommen war, »mir ist vorhin, als dieses Individuum seine letzte Rede hielt, eine Erleuchtung gekommen. Das war nämlich der Dichter Liebig selber. Ich habe bereits von ihm gehört. Er betreibt neben dem beschaulichen und nachdenklichen Gewerbe des Topfbindens auch die Kunst, einige kümmerliche Scherben alter gebrauchter Reime durch den dünnen Draht fadenscheiniger Gedanken zu sogenannten Gedichten zu verbinden. Seht, lieben Freunde, nun habt Ihr zum Schluss auch noch ein verkanntes Genie hiesiger Gegend kennen gelernt, nun könnt Ihr in Frieden nach Hause fahren.''

Wir verabschiedeten uns nun und wanderten noch einmal, während die Sonne immer näher den Wipfeln des Tegeler Forstes zusank, durch das freundliche Dorf zu all den geliebten Plätzen, welche die glücklichsten Stunden unseres Lebens gesehen hatten. Wir nahmen Abschied von ihnen und von einer Zeit, in welcher es uns vergönnt war, das Glück des Lebens zu kosten, rein und ohne jede Trübung, in einer Weise, wie sie wohl nie wiederkehren wird. Wir nahmen Abschied von Tagen, die voller Sonne gewesen waren in uns und ausser uns und deren wärmender Glanz durch unser ganzes Leben leuchten sollte. Ich ging wieder entgegen meiner alten Arbeit und wir beide einem neuen unbekannten Leben, durch das wir wandeln wollten treu verbunden Hand in Hand. Erst als die Dunkelheit gekommen war und nur über den Wipfeln des Waldes ein leises Roth noch träumte als letzte Spur der versunkenen Sonne, kehrten wir in unser kleines Häuschen zurück.

 

 


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