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Sie schritten neben einander durch den Park und Bernd, der sich seinem jungen Herrn gegenüber schon etwas erlauben durfte, sagte: »Ich muß immer noch daran denken, wie der Herr Graf zum ersten Mal beim Scheibenschießen in's Schwarze trafen – nein, die Freude! der junge Herr waren ganz außer sich vor Vergnügen und ich war nicht wenig stolz darauf, ich glaube, der Herr Graf waren damals nicht über zwölf oder dreizehn Jahr.«

»Alte treue Seele,« erwiderte Eberhard, »ich danke Dir für alles Gute, was Du mir gethan hast, behalte mich lieb bis an Dein Lebensende. Hörst Du wohl?«

Er hatte Bernd die Hand gereicht und dieser küßte sie gerührt. »O, wie mögen der Herr Graf so etwas nur sagen, unser junger Herr, den sollte ich nicht lieb behalten, na, das wäre ja unmöglich!«

Sie hatten den Scheibenstand erreicht, Bernd lud die Pistole. Eberhard zielte und fehlte bei dem ersten und dann bei dem zweiten Schuß.

Er warf die Pistole mit einer ungeduldigen Bewegung von sich, Bernd bemerkte, daß seine Hand zitterte.

»Der Herr Graf haben heute keine sichere Hand, sind wohl ein bischen aufgeregt,« sagte er.

Eberhard griff, ohne zu antworten, nach der, unterdeß von Neuem geladenen Pistole – jetzt traf die Kugel unmittelbar in's Centrum.

»Die Pistolen sind nicht gut,« sagte er, »hole mir einmal die alten, Du weißt, sie stehen links in dem Waffenschrank.«

Er sah sehr bleich aus und Bernd bemerkte wieder, daß seine Hand zitterte. Er zögerte einen Augenblick.

»Der Herr Graf sollten heute lieber nicht schießen,« sagte er.

»Und warum nicht, Alter?« entgegnete Eberhard lächelnd, »gerade heute will ich's. Geh' nur, geh!«

Bernd wandte sich zum Gehen; als er sah, daß Eberhard die Pistole in der Hand behielt, blieb er noch einen Augenblick stehen.

»Wenigstens laden sollten der Herr Graf nicht selbst,« bat er, »solche fremde Waffe – die kennt kein Mensch, und dem Herrn Grafen zittert doch nun einmal heute die Hand.«

»Geh' nur, geh,« wiederholte Eberhard und sein Ton klang ungeduldig, so daß Bernd keine weitere Einsprache wagte.

Es war eine ziemlich weite Strecke bis zum Schlosse und er beeilte seine Schritte; er konnte die Unruhe nicht los werden, der Graf war ihm heute so seltsam erschienen, eine unsichere Hand hatte er auch gehabt zum ersten Mal im Leben und unvorsichtig war er immer gewesen: »Das ist das junge, rasche Blut, was sich nicht Zeit läßt, das muß Alles fix gehen und wie er es haben will,« murmelte er vor sich hm, und nun hatte er den Pistolenkasten aus dem Waffenschrank genommen und wollte rasch desselben Weges zurück. Er war noch kaum aus dem Portal des Schlosses getreten, als ein Schuß fiel.

»Na, da hat er denn doch richtig geladen,« sagte Bernd, »bin doch neugierig, ob er in's Centrum getroffen hat.« Aber unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte; als er sich dem Platz näherte, sah er Eberhard nicht, das Herz stand ihm still in namenlosem Schreck, er lief vorwärts, er sah durch die Bäume eine dunkle Gestalt am Boden liegen, noch wenige Schritte – es war Eberhard; er lag todt in den Rasen gestreckt, die Pistole in seiner Hand, und mit einem lauten Schmerzensruf kniete Bernd neben der Leiche seines jungen Herrn nieder.

Der Tod des jungen Grafen Eberhard Rodan, des letzten aus der Linie der Rodans aus Rodanseck, durch dessen Hingang die großen Begüterungen auf die Seitenlinie übergingen, ein Tod in der Blüthe der Jugend, sobald nach dem Antritt des glänzenden Erbes, so unmittelbar vor der bevorstehenden Vermählung, erregte die allgemeinste Theilnahme. Niemand kam es in den Sinn, daran zu zweifeln, daß Graf Eberhard das Opfer eines unglücklichen Zufalls, einer Unvorsichtigkeit bei dem Laden eines Pistols, sei. Wie hätte man auch auf den Gedanken kommen sollen, daß der junge, schöne, reiche, auf jede Weise vom Geschick begünstigte Graf Rodan, seinem Leben aus freiem Entschluß ein Ende machen wollte! Jeder wußte, mit welcher Energie er sich der Verwaltung seiner Güter gewidmet, welche Pläne er für die Zukunft gemacht, Viele hatten ihn noch kurz vor seinem Tode gesehen, Rennertsdorf sogar am letzten Tage, er erzählte, daß er ihn für den Nachmittag eingeladen und von einem gemeinschaftlichen Pistolenschießen gesprochen hatte: Nichts konnte Verdacht erwecken, Alles deutete auf einen traurigen Zufall hin!

Das Begräbniß hatte mit aller, der Stellung des Verstorbenen und dem traurigen Ereigniß gebührenden Würde, stattgefunden. Viel warme Theilnahme, und viel herzliche Zuneigung lagen in den Zügen der alten und jungen Männer, die in stattlichem Zuge dem Sarge bis zur Familiengruft der Rodans gefolgt waren. Ihnen Allen voran, war neben ihrem tiefgebeugten Vater, in tiefe Trauergewänder gehüllt, Valeska von Lauenstein geschritten; die Blässe ihrer Wangen, die vom Weinen gerötheten Augen und ihre, während der ganzen Trauerfeierlichkeit unaufhaltsam herabströmenden Thränen, hatten deutlich von der ganzen Fülle ihres Schmerzes gesprochen, aber sie hatte es entschieden verlangt, ihrem Verlobten die letzte Ehre zu erweisen, und die wundervolle Haltung, die sie trotz alledem bewahrte, zeugte dafür, daß sie ihren Schmerz zu tragen und zu überwinden verstehen würde.

Anders Gräfin Ebba: sie hatte den Anschluß an den Leichenzug entschieden verweigert und erklärt, daß sie nicht im Stande sein würde, sich am Sarge ihres Sohnes aufrecht zu erhalten; sie hatte auch Eberhards Leiche, nachdem sie zuerst an derselben scheinbar völlig fassungslos zusammengebrochen war, nicht wiedergesehen. Sie, die nach dem Tode ihres Gatten mit einer gewissen Ostentation ihre Wittwentrauer getragen und die Beileidsbezeugungen entgegengenommen hatte, empfing jetzt Niemand, zog sich ganz in die Einsamkeit ihres Zimmers in Rodanseck, wo sie bis nach dem Begräbniß verweilte, zurück, und selbst die Gegenwart Valeskas, der sie sich nicht immer entziehen konnte, schien ihr lästig. Man verwunderte sich darüber, da solches Bezeigen ganz außerhalb der Persönlichkeit der Gräfin zu liegen schien, die sonst bei jeder Gelegenheit auf die würdige Durchführung einer Rolle bedacht gewesen war, und meinte, man habe eine so grenzenlose Liebe zu ihrem Sohn, aus der allein dies Alles zu erklären sei, bei ihrer scheinbar so kalten, äußerlichen Natur, nicht vorausgesetzt.

Der alte Bernd war gesenkten Hauptes und schwer bedrückten Herzens umhergegangen; sollte er reden oder schweigen, und wenn er sprach, wen sollte er zum Vertrauten der grausigen Ahnung machen, die wie ein Alp auf seiner Seele lag, so daß er nicht essen noch trinken mochte und kein Schlaf in seine Augen kam. Die ganze Dienerschaft war dem Leichenzuge gefolgt, und Bernd als der Aelteste von Allen, der am längsten der Familie Rodan gedient hatte, war an ihrer Spitze geschritten, und da an der kühlen Gruft, als der Geistliche die letzten Segensworte über den Sarg gesprochen, da hatte es ihm fast die Brust zersprengen wollen und es war ihm gewesen, als ob er nicht schweigen könne und dürfe. Am liebsten hätte er sein gequältes Herz Fräulein von Lauenstein ausgeschüttet, ihr, die seinen jungen Herrn geliebt, die so herzlich über seinen Tod geweint hatte, die zu ihm, dem alten Bernd, so freundlich gewesen war und ihm neulich, an der Leiche des Grafen, sogar die Hand gereicht hatte! Aber sein Gewissen gestattete es ihm, dem in den Familientraditionen alt gewordenen Diener der Rodans, nicht, diesem Herzenswunsch zu folgen. Gräfin Ebba war Eberhards Mutter, sie war eine Gräfin Rodan, ihr gebührte es allein, das Geheimniß zu erfahren, das Bernd zu kennen glaubte; freilich war sie immer stolz und unnahbar gewesen, er durfte sich nicht rühmen, je ein freundliches, oder gar vertrauliches Wort von ihr gehört zu haben, das die Grafen immer für ihn übrig gehabt hatten, aber das konnte sein Pflichtgefühl nicht beeinträchtigen.

Nachdem alle fremden Gäste, welche die Leichenfeier nach Rodansdeck geführt hatte, abgefahren, war auch Gräfin Ebba nach Guntersdorf zurückgekehrt; und hier, fern von den öden, unheimlichen Räumen, die für sie nur quälende, bange Erinnerungen umschlossen, hatte sie ihre Festigkeit wiedergewonnen, so daß, als sich am nächsten Tage der Jäger Bernd bei ihr melden ließ, er sie in derselben nachlässigen Haltung wie sonst, in den Sessel gelehnt fand, sie mit derselben, kaum merklichen Neigung des Hauptes, seinen ehrfurchtsvollen Gruß erwiderte. Sie hatte einen Augenblick geschwankt, ob sie ihn vorlassen solle, hatte sich dann aber doch schnell dafür entschieden.

»Was wünschen Sie?« fragte sie den Eintretenden. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich fortan mit jedem Anliegen an den nunmehrigen Besitzer von Rodanseck zu wenden haben.«

Ihre Stimme hatte herb geklungen, so daß Bernd der Muth sank.

»Ich komme mit keinem persönlichen Anliegen, Frau Gräfin,« antwortete er leise, »was ich zu sagen habe, betrifft den Herrn Grafen Eberhard.«

Die Gräfin hob das Haupt; ein durchdringender Blick traf ihn. »Den Grafen Eberhard? Was hätten Sie mir von ihm mitzutheilen?«

»Die Frau Gräfin wollen verzeihen, ich habe nicht gewußt, ob ich es sagen sollte, ob nicht, aber es drückt mir fast das Herz ab und ich meinte doch auch, daß es meine Pflicht wäre.«

»Sie reden sehr umständlich, Bernd,« unterbrach ihn Gräfin Ebba, »machen sie es kurz, was wollen Sie?«

Bernd wagte nicht mehr das Auge zu erheben. »Frau Gräfin,« begann er mühsam, »ich war gerade in der letzten halben Stunde neben dem Herrn Grafen und da – erlauben die Frau Gräfin, daß ich es erzähle, wie es Alles kam.«

Und ohne die erbetene Erlaubniß abzuwarten, fing er an, sein letztes Gespräch mit Eberhard, und dessen Verhalten während des Ganges und der ersten Schüsse, mitzutheilen. Er hatte genau jedes Wort, jede Bewegung behalten, es fehlte nichts und immer wieder schaltete er ein: »Und der Herr Graf sah sehr blaß aus, und seine Hände zitterten. Und als ich den Schuß fallen hörte,« schloß er seine Erzählung, »da wurden mir die Füße so schwer, daß ich kaum weiter konnte, und doch lief ich, so schnell es nur ging, und als ich ankam – da fand ich den Herrn Grafen todt daliegen. Und da habe ich nun gemeint, ich müsse es der Frau Gräfin wohl Alles sagen, damit die Frau Gräfin doch wenigstens wüßten, wie es wirklich ist.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Gräfin Ebba, »was soll ich wissen?«

Bernd erschrak vor dem scharfen Ton dieser Frage.

»Ich – ich dachte nur,« stotterte er, während er die Mütze zwischen den Fingern drehte.

»Was dachten Sie?«

Jetzt war es keine Frage mehr, es war ein Befehl, Bernd mußte antworten, so gern er auch jetzt geschwiegen hätte.

»Ich meinte, den Herrn Grafen hätte die Kugel nicht zufällig getroffen,« sagte er ganz leise, mit tief gesenktem Haupt.

Im nächsten Moment hatte sich Gräfin Ebba aus ihrer nachlässigen Stellung im Sessel erhoben. »Wie dürfen Sie es wagen, ein solch' vermessenes Wort auszusprechen, thörichte Vermuthungen zu einer solchen Anklage gegen Ihren Herrn, gegen einen Grafen Rodan, zusammenzustellen? Ein Beweis, wie wenig auf die Treue der Diener zu bauen ist, wenn der älteste unter allen, der im Dienste der Rodans ergraut ist, sich nicht entblödet, aus einem unglücklichen und namenlos traurigen Zufall, ein solches abscheuliches Märchen zu erfinden. Schämen Sie sich, Bernd, Ihnen hätte ich dergleichen am wenigsten zugetraut; ich will thun als hätte ich Ihre thörichten Reden nicht gehört, aber hüten Sie sich, wenn ich's erlebe, daß nur ein Laut dieser in Ihrem Hirn entstandenen Fabel sich verbreitet, Sie irgend etwas von diesen wahnsinnigen Muthmaßungen zum zweiten Mal aussprechen – dann werde ich nicht so nachsichtig sein, dann haben Sie sich selbst die harte Strafe zuzuschreiben, die nicht ausbleiben wird.«

Sie hatte hoch aufgerichtet, wie eine Königin vor ihm gestanden und königlich stolz klang auch ihre Stimme, nur die Hand, die sie auf die Tischplatte gestützt hielt, zitterte.

»Ich bitte die Frau Gräfin um Verzeihung,« sagte Bernd und schritt gebeugt hinaus.

Gräfin Ebba sah ihm mit starrem Blicke nach, als die Thür hinter ihm zufiel, preßte sie die Hand auf's Herz und sank erschöpft in den Stuhl zurück, aber ein Seufzer entrang sich ihrer Brust, als ob sie damit eine Last von ihrer Seele wälze; sie wußte jetzt, daß der alte treue Diener, den sie, als den einzigen Zeugen der letzten Stunde Eberhards, am meisten gefürchtet hatte, unverbrüchlich schweigen, daß vor der Welt Graf Eberhard Rodan das Opfer eines unglücklichen Zufalls bleiben würde.

Graf Erich Rodan war nun der Besitzer von Rodanseck geworden. Er selbst aber war weit entfernt, und ahnte nicht, wie daheim die Würfel über sein Geschick gefallen. Er hatte – wie damals Eberhard Elisabeth berichtet, es versucht in B. zu bleiben und durch die gänzliche Hingabe an seine wissenschaftlichen Arbeiten, sein tief verwundetes Herz zu heilen. Aber er hatte sich zu viel zugetraut; er fühlte bald, daß unter den Umgebungen, die ihn stets an das einst Gewonnene, dann so schnell Verlorene, an eine Ueberfülle des Glückes und zugleich an eine Ueberfülle des Schmerzes, erinnerten, er nicht zum Frieden gelangen könne. Er war nicht im Stande sich seinen Arbeiten mit ganzer Seele zu widmen, all sein Sinnen und Denken wurde von seinem persönlichen Leid hingenommen. So beschloß er von Neuem in die Welt zu gehen, vielleicht daß fern von der Heimath, unter der Fülle reicher Eindrücke, die den Forschergeist in ihm erregten, ihm Vergessen geschenkt wurde; und so schmerzlich die Seinen diese neue Trennung von ihm empfanden, so konnten auch sie seinen Entschluß nur billigen. So hatte er sich denn abermals einer überseeischen Expedition angeschlossen, mit wie anderen Empfindungen als damals, wo er bei seiner Rückkehr die Erfüllung höchsten Herzensglückes erwartete. Er war bereits Monate lang von der Heimath entfernt, als Graf Eberhards Tod ihn zum Besitzer von Rodanseck machte, und Wochen vergingen, bevor er von der unerwarteten Wendung seines Schicksals erfuhr. Sie erfreute ihn kaum – was sollte ihm, dem einsamen Manne, das Majorat! Es legte ihm Pflichten auf, die ihm keine wünschenswerthen dünkten, es entzog seine Zeit und Kraft der Wissenschaft, die ihm lieb und theuer geworden war, und es war ihm keine Arbeit für die Zukunft, denn es schien ihm unmöglich, nach der bittern Täuschung, die sein ganzes Leben vergiftet hatte, noch einmal an die Schließung einer Ehe zu denken.

Dennoch rief ihn der Antritt des Erbes heimwärts, und mit schwerem, beklommenen Herzen trat er den Rückweg an. Als er nach einer anstrengenden Seereise in Hamburg eintraf, in der gedrücktesten Stimmung, von den schmerzlichsten Erinnerungen an seine damalige Rückkehr und alle die sie begleitenden Glückshoffnungen überfluthet, fand er dort unter den Briefen von Hause, in einem seines Vaters eingeschlossen den von Eberhard. So gleichgiltig er ihn eröffnet, solchen Sturm des Empfindens erregte das Durchlesen desselben in ihm.

Je mehr der Verlust Elisabeths ihm als ein Verzicht auf jegliches Lebensglück erschienen war, je mehr die Täuschung, die er durch sie erfahren, den Glauben an alles Gute und Reine in ihm erschüttert hatte, um so überwältigender war der Eindruck, den Eberhard's Brief auf ihn machen mußte. Elisabeth war nicht so schuldig als er geglaubt, ihre Gestalt erschien wieder in einem neuen, helleren Lichte vor ihm, der Zauber, den sie früher auf ihn geübt hatte, gewann plötzlich wieder seine alte Macht, ja selbst ihre Flucht aus Elmenried dünkte ihn jetzt nur der Beweis ihres reinen Herzens, ihres zarten, ächt weiblichen Empfindens, das davor zurückbebte, eine Verirrung des Herzens, die sie, so meinte er, damals wohl schon für eine solche erkannt hatte, zu gestehen. Der wahre, einfache Ton von Eberhards Brief ließ keinen Zweifel an seinen Worten zu, und so glaubte er sich jetzt selbst Vorwürfe machen zu müssen, daß er Elisabeths Verschwinden als eine von ihr gewollte Trennung hingenommen, und in der Voraussetzung einer auf ihr lastenden Schuld keinen Schritt gethan hatte, ihren Aufenthalt zu entdecken. Es schien ihm keine Entschuldigung für sich selbst, daß auch seine milden, gütigen Eltern, sogar die sanfte immer zum Vergeben geneigte Gertrud, Elisabeth als eine Verlorene betrachtet hatten; wußte er doch nur zu gut, wie die Liebe für ihn es war, die auch ihre Verurteilung Elisabeth's bestimmt hatte. Jetzt drängte es ihn gewaltsam fort zu ihr, der noch immer, und jetzt von Neuem Heißgeliebten, wie würde er sie wiederfinden, wie würde sie ihn empfangen?

Er änderte nun sofort seinen Reiseplan, was war ihm Rodanseck gegen Elisabeth! Einige schriftliche Worte an seine Eltern benachrichtigten diesem flüchtigen Umrissen von dem Geschehenen und seinen dadurch veränderten Beschlüssen, und eine Stunde später war er bereits auf dem Wege nach P. Auf der Reise, als der erste Sturm des Empfindens sich abgestillt hatte, und er ruhigerer Ueberlegung fähig geworden war, trat ihm das seltsame Zusammenwirken von Eberhards Briefe und seinem wenige Stunden nach der Abfindung desselben erfolgten Tode, vor die Seele; und plötzlich klang ihm durch seine Worte eine Abschiedsstimmung hindurch, die ihnen freilich nur noch um so mehr den Stempel der Wahrhaftigkeit aufdrückte. Täuschte Erich seine plötzlich aufdämmernde Ahnung nicht, so empfand er doch mit dem instinktiven Rechtsgefühl eines edlen Mannes, daß er derselben nicht weiter nachhängen, nicht nach einem Vorgange forschen dürfe, den der Verstorbene in Dunkel zu hüllen gestrebt hatte. Aber das Gefühl des Hasses, das sich in ihm gegen Eberhard geregt hatte, wandelte sich unter diesem neuen Eindruck in ein tiefes Mitleid – der Mann, der scheinbar aus der Fülle des Glückes, freiwillig aus dem Leben geschieden war, mußte Schweres gelitten und durchkämpft haben – er hatte seine Schuld gesühnt.

An Elisabeth war nach dem Eintreffen jenes jede Hoffnung für sie zerstörenden Briefes Eberhards, nun die Frage herangetreten, wie sie sich ihre Zukunft gestalten solle, und wenn sie auch zunächst gemeint hatte, sich wieder eine Thätigkeit in einem fremden Hause zu suchen, die ihr womöglich keine Zeit zum Nachdenken und Trauern ließe, so hatte sich ihr doch bald die Schwierigkeit dargethan, eine solche, nach ihrer Flucht aus Elmenried, zu finden. Es würde ihr ebenso wenig ohne irgend welchen Bericht über ihre Vergangenheit, als nach einem offenen Bekenntniß des Geschehenen, möglich werden, eine ihr passende Stellung zu gewinnen, und so nahm sie gerührt und dankbar das liebevolle Anerbieten der Pfarrerin an, wenigstens vorläufig bei ihr zu bleiben. Sie half ihr bei den häuslichen Beschäftigungen, und da sie geschickt in Handarbeiten war, so vermochte sie sich durch diese ein ausreichendes Taschengeld zu erwerben. Wie verschieden war dies Leben von dem, welches sie in den glücklichen Jahren in Elmenried kennen gelernt hatte; oft dünkte ihr dies Alles wie ein Traum, und sie meinte, aus ihm erwachen zu müssen zu einer schöneren Wirklichkeit. Soll es immer so bleiben? Ist das Deine Zukunft? so fragte sie sich dann und es schien ihr unerträglich, grausam! Sie hätte so gern der Pfarrerin ihre Güte durch Frohsinn gelohnt, aber das Lächeln, zu dem sie sich zwang, war traurig, ihre Wangen wurden immer bleicher, ihre Augen nach durchweinten Nächten immer trüber, und die Pfarrerin beobachtete nicht ohne Besorgniß die äußerliche Veränderung, die mit ihr vorging. Ihr selbst war es, als könne dies Leben nicht mehr allzu lange dauern, als müsse der Tod als freundlicher Erlöser erscheinen, und eine heiße Sehnsucht erfaßte sie dann, Erich nur noch einmal zu sehen. In welch' hellem Glanze erschien ihr jetzt sein Bild und ihr dünkte es, sie habe ihn und ihn allein geliebt; könnte sie ihm das nur sagen, nur seine Verzeihung erbitten, aber sie wagte es nicht, ihm zu schreiben, würde er ihren Worten glauben, ja würde er selbst nur einen Brief von ihrer Hand lesen?

Sie hatte wieder die Nacht unter so traurigen und quälenden Gedanken durchwacht. Kopf und Augen schmerzten ihr und doch mußte die Stickerei noch heute vollendet werden; sie hatte es versprochen, und seit sie einmal ihr Wort gebrochen, hatte sie sich das Wort halten, auch in kleinen Dingen, zur strengen Pflicht gemacht. So saß sie nähend am Fenster; ihre Gedanken freilich waren nicht bei der Arbeit, die schweiften weit umher, und so hatte sie auch nahende Schritte nicht gehört, erst ein Klopfen an der Thür erschreckte sie; vielleicht schickte der Kaufmann schon nach der Stickerei, und sie war noch nicht fertig! »Herein,« sagte sie zögernd – die Thür öffnete sich – Erich stand auf der Schwelle. Er hatte die Pfarrerin gesucht und zu finden erwartet, so überwältigte ihn der Anblick Elisabeths mit namenloser Freude.

»Elisabeth,« rief er jubelnd.

Sie stand einen Moment wie vor einer Geistererscheinung, aber er breitete die Arme nach ihr aus – er lebte, und dieser Ton, er täuschte nicht, er bedeutete Verzeihung!

»Erich!« jauchzte sie, »Du, Du bist es!«

Sie lag an seinem Herzen, er hielt sie fest umschlungen und sie hatte ihre Heimath wiedergefunden.

Als der Frühling in's Land zog, führte Graf Erich seine junge Gattin nach Rodanseck und das alte Schloß öffnete ihnen gastlich seine Thore. Eberhards Wille hatte sich erfüllt; der Namen der Grafen von Rodan war unbefleckt geblieben und dennoch hatte der rechtmäßige Besitzer seine Herrschaft angetreten, und Elisabeth führte den ihr gebührenden Namen einer Gräfin Rodan, so war er nicht vergeblich freiwillig aus dem Leben geschieden.

Seit Jahrzehnten entfaltete sich zum ersten Mal wieder ein fröhliches und frisches Leben in Rodanseck, und glückliche Menschen walteten dort. Und die Jahre gingen hin und eine blühende Kinderschaar wuchs heran, gesund an Leib und Seele, der Stolz und die Freude ihrer Eltern. Es war ein gastliches Haus geworden, und es herrschte dort ein reger Verkehr mit nahen und fernen Freunden, aber der liebste Gast für Alle war Tante Gertrud; sie selbst fühlte sich nirgends glücklicher als unter ihren geliebtesten Menschen in Rodanseck, und wenn sie im Kreise der Kinder saß, von Jedem mit Liebe gehegt und gepflegt, dann sagte sie wohl zu Elisabeth: »hatte ich nicht Recht, Elisabeth, wenn ich Dir einmal versicherte, daß ich sehr glücklich sei? Kann es ein schöneres Loos geben, als das meine?«

Valeska von Lauenstein hatte zwei Jahre nach Eberhards Tode Herrn von Rennertsdorf geheirathet und eine herzliche Freundschaft verband sie und Elisabeth.

In Guntersdorf war es öde und still geworden. Als Erich zum ersten Mal nach Rodanseck gekommen war, hatte Gräfin Ebba seinen Besuch nicht angenommen: sie sei schwer leidend, hieß es, und Frau von Voltzau war zu ihrer Pflege und Gesellschaft bei ihr. Aber auch dieser war es nicht gelungen, den Sturm in Gräfin Ebbas Brust zu sänftigen; sie bewahrte ihr Geheimniß, sie hielt äußerlich ihre kühle Ruhe, ihren Stolz aufrecht, aber ihr inneres Leben war gebrochen und elend. Nach einem Jahr starb sie: an gebrochenem Herzen in Folge des Todes ihres Sohnes, sagten die Leute, und schüttelten verwundert die Köpfe, weil ihr Keiner eine solche Tiefe des Empfindens zugetraut hätte, und nun ruhte sie in der Familiengruft der Rodans, neben den beiden Männern, deren Leben sie arm und elend gemacht hatte, und wer auf den Marmortafeln über den drei Särgen die Namen: Graf Eberhard Heinrich von Rodan, Graf Eberhard Ottokar von Rodan und Gräfin Ebba von Rodan, geborne von Niederfelden, las, der ahnte nicht, welch' eine traurige Geschichte, welch' ein düsteres Geheimniß mit diesen Dreien begraben war.


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