Georg Schweinfurth
Im Herzen von Afrika
Georg Schweinfurth

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19. Ein luftiger Flußübergang.

Da die Rückkehr Mohammeds sich verzögerte, trat ich am 21. Mai einen zehntägigen Streifzug nach Osten an, der durch eine abwechselnd wellenförmige und dann wieder von vielen Schluchten durchfurchte Gegend führte. Mit dem Hungerleiden war es vorbei. In den kleinern Niederlassungen Mohammeds fand ich gute Aufnahme, und die Jagd lieferte eine Menge Geflügel. An Mühseligkeiten fehlte es allerdings nicht. Bei Durchquerung einer Sumpfniederung, die in ihrer ganzen Breite von 700 Metern von einem einzigen, halb schwimmenden Papyrusdickicht eingenommen wurde, fiel ich in eine durch Sumpfgras verdeckte Lache. Über und über besudelt von schwarzem Humusmoder mußte ich herausgefischt werden. Von der letzten Niederlassung aus, der Seriba Tuhami, bis zu der ich östlich vordrang, bestieg ich den 15 Kilometer entfernten Baginse, eine Bergmasse von 400 Metern Höhe über dem Land. Er ist weithin sichtbar mit seinen gewaltigen Wänden, die ihn wie eine Insel aus der flachen Gegend emporsteigen lassen. Auf halbem Weg kam ich zu einem starkströmenden Bach, dessen Ufer einen tiefen Riß in dem Gestein bildeten; es war der Ursprung des Djur, die tritt ??? wirkliche Quelle eines der Hauptzuflüsse des oberen Nil, zu der je ein europäischer Reisender vorgedrungen war.

Vom Gipfel des Baginse hatte ich eine prachtvolle Fernsicht auf ein Gebirgsland, dessen Meereshöhe ich auf 1300-1600 Meter schätzte. Der massige, ringsum freistehende, auf allen Seiten von Wind und Wetter benagte Berg, der höchste, zu dem mich meine ganze Reise geführt hatte, erschien mir wie ein Überrest der hohen Gebirge, die in Urzeiten das südwestliche Nilgebiet begrenzt haben müssen.

Bei dieser Gelegenheit war ich unwissentlich einer großen Gefahr entgangen. Wenige Tage nach meiner Abreise überfiel der benachbarte Stamm der Babuckur, der beständigen Raubzüge der Nubier müde, die Seriba Tuhami. Die Babuckur verbrannten die Niederlassung, und nur wenige ihrer Bedrücker entkamen. Ich selbst aber langte am 1. Juni wohlbehalten wieder in der Seriba Ssurrur an. Bald darauf kehrte auch Mohammed nach schweren aber erfolgreichen Kämpfen mit einem Teil des verlorengegangenen Elfenbeins zurück. Er ließ dann große Scharen botmäßiger Niamniam einen der gewöhnlichen Beutezüge in dem Sumpfgebiet der Babuckur unternehmen, um die hungernde Karawane mit neuen Kornvorräten zu versehen. Unter ihrer Führung war es zu argen Schandtaten gekommen. Eingeborene brachten mir mehrere Menschenschädel in frisch gekochtem Zustand, und vor einer Hütte sah ich einmal das neugeborene Kind einer fortgeschleppten Sklavin in den letzten Zügen. Erbarmungslos ließ man es solange liegen, bis es verendet sein würde, um dann in den Kochtopf gesteckt zu werden. Ich hätte die dabeisitzende Frau auf dem Fleck totschießen mögen, aber besann mich noch zur rechten Zeit auf den Wahrspruch der Nubier, den sie in ähnlichen Fällen anzuwenden pflegten: sie seien nicht als Sittenrichter ins Land gekommen. Für mich galt das in noch höherm Grade. Und welchen Zweck hätte auch mein einmaliges Einschreiten gehabt? Da fänden Missionare ein fruchtbares Feld für segensreiche Tätigkeit, aber entsagungsvolle, selbstverleugnungsfähige Männer müßten es sein.

Am 11. Juni wurde der Rückmarsch nach Norden fortgesetzt. Wiederholt hat sich auf dieser Strecke die Karawane geteilt. Zuerst kam eine Hiobspost von der Streitmacht, die mit der Ghattasschen Gesellschaft nach Westen geschickt war. Sie war beim Übergang über einen Waldbach von drei Häuptlingen der Niamniam überfallen worden. Gleich der erste Lanzenangriff bedeckte den Platz mit Toten und Verwundeten. Der größte Teil des Gepäcks ging verloren. Eine rasch errichtete Verschanzung wurde drei Tage lang wütend bestürmt. Als die Lanzen verbraucht waren, schleuderten die Feinde mit gewaltiger Wucht zugespitzte Pfähle. Ein Drittel der Soldaten war kampfunfähig gemacht worden, und nur unter Zurücklassung des Elfenbeins gelang es ihnen, nach sechstägiger Einschließung zu entkommen, noch bevor Mohammed mit einer starken Entsatzkolonne zu Hilfe eilen konnte.

Am 24. Juni 1870 galt es, den wasserreichen Tondjfluß zu überschreiten, mit dem das Gebiet der Niamniam verlassen wurde. Mohammed hatte Boten vorausgeschickt, um die Ankunft der Karawane zu melden, damit Zeit gewonnen wurde, die zum Übergang über den Fluß erforderliche Brücke zu schlagen. In der Tat waren, als wir anlangten, die Arbeiten längst vollendet. Eine Hängebrücke höchst eigentümlicher Art spannte sich über das reißende, tiefe Gewässer. Mit Benutzung einiger starker Uferbäume waren Taue über den Fluß gespannt worden. Durch Querhölzer miteinander verbunden gaben sie einen mehr als luftigen Steg ab, der höchst gefährlich hin- und herschaukelte und mir den Übergang fast nur kriechend ermöglichte. Der Baustoff, aus dem die Hängebrücke hergestellt war, bestand ausschließlich aus den Reben von wildem Wein, die zu dicken Tauen von unvergleichlicher Festigkeit und Spannkraft zusammengeschlungen waren. Um die für die Spannung erforderliche Höhe zu gewinnen, war auf beiden Seiten ein Gerüst aus umgestürzten Bäumen errichtet worden, das zu den als Brückenpfeilern dienenden großen Bäumen hinaufführte. Es war ein verzweifeltes Klettern von Ast zu Ast auf diesem verworrenen Bauwerk, und nur die Gewandtheit eines Waldmenschen schien befähigt, solche Hindernisse zu überwinden.

Hängebrücke ueber den Tondj

Nach Überschreitung des Tondj am 24. Juni ließ Mohammed den Haupttrupp der Soldaten und Träger weiter nordwärts marschieren, während er selbst einen Abstecher nach Osten unternahm, um an den Grenzen seines Mittugebiets die dort aufgestapelten Elfenbeinvorräte abzuholen.

Ich schloß mich ihm mit dem unentbehrlichsten Gepäck an. Der Weg führte über zahlreiche Bäche, dazwischen durch ein schräg abfallendes Gelände, dessen Landschaft im Vergleich zu den frühern parkähnlichen Waldgebieten ein neuartiges Aussehen darbot. Viele Kilometer weit schweifte der Blick über baumfreie Steppenflächen, die ab und zu von undurchdringlichen Bambusdschungeln unterbrochen waren. Recht ergiebig war die Jagd. In der Seriba Mbomo, 39 Kilometer vom Punkt des Übergangs über den Tondj, konnte ich genauere Nachrichten über das Volk der Babuckur einziehen, deren östliche Hälfte, auf ein Gebiet von 1200 Quadratkilometern zusammengedrängt, sich gegen die Raubzüge der Chartumer Händler sowie der Niamniamhäuptlinge kräftig gewehrt hat. Sie sind ein Volk von typischer Negerrasse und sehr dunkler Hautfarbe. In die Enge getrieben, wehren sie sich bis aufs äußerste, und da der Kannibalismus unter ihnen ganz allgemein sein soll, begnügen sich die Eindringlinge gewöhnlich mit flüchtig aufgegriffener Beute. Die Babuckur haben eine unangenehme, ausdruckslose Gesichtsbildung. Die Frauen sind in der Regel ein Ausbund von Häßlichkeit und entstellen ihre unregelmäßigen Züge noch durch künstliche Mittel in einem Grad, der alles bisher Gesehene in den Schatten stellt. Die verheirateten Frauen durchbohren Ober- und Unterlippe, sowie die Ränder der Ohrmuschel und stecken zweieinhalb Zentimeter lange Grashalme durch die zahlreichen Löcher; auch die Nasenflügel werden in ähnlicher Weise behandelt.

In Mbomo trennte ich mich von Mohammed, der noch andere Seriben besichtigen wollte, und schlug mit wenigen Begleitern den nächsten Weg nach Mohammeds Hauptstützpunkt, der Seriba Ssabbi, ein.

Am zweiten Tag des Marsches durch menschenleere Waldeinöde hatte ich ein höchst unangenehmes Erlebnis beim Übergang über einen breiten reißenden Bach. Während meine Leute über eine schnell hergestellte Brücke schritten, stieg ich ins Wasser, um der mir lästigen Kletterei zu entgehen. Mit wenigen Schwimmstößen gedachte ich drüben zu sein. Aber auf halbem Weg fühlte ich mich an allen Gliedern aufs schmerzhafteste gepackt: ich war an einem vom Bach überschwemmten Dornbusch von Mimosa gestrandet! Schwimmen mußte ich um jeden Preis, so riß ich mich verzweifelt los und erreichte schließlich, aus hundert Kratzwunden blutend, das Trockene. Es war mir zumute, als hätte ich mich am ganzen Leib schröpfen lassen. An teuflischer Erfindungsgabe wäre ein mittelalterlicher Folterapparat durch diese Mimosa beschämt worden. Ihre Blättchen, genau wie die der schamhaften Sinnpflanze, sind in hohem Grad empfindlich und legen sich bei jeder Berührung scheu zusammen, sind aber voller Widerhaken.

Einer der nächsten Tage brachte eine neue sehr bedenkliche Begegnung. In dichter Buschwaldung glaubte ich einen schwarzen Baumstamm vor mir zu sehen. Plötzlich beginnt die dunkle Masse sich zu bewegen, auf kaum zehn Schritt werden zwei breite Hörner sichtbar. Ohne lange Überlegung schieße ich, aber in demselben Augenblick saust es wie ein schweres Wetter an mir vorüber. Es war in dichtgedrängter Masse ein Trupp von zwanzig grunzenden Büffeln, die Schwänze hoch in der Luft. Rauschend, krachend wie ein Felssturz aus Bergeshöhe schoß er dahin. Verschwunden waren die Büffel, aber fernhin rollte der Donner ihrer Hufschläge.

Eines meiner Nachtlager ist mir durch einen Umstand in Erinnerung geblieben, der anzeigt, daß jene undurchdringlichen Wälder doch beständig von jagenden Eingeborenen durchstreift werden. Beim eiligen Aufbruch in der Frühe war in meiner Grashütte ein zum Trocknen aufgehängtes Paar Stiefel vergessen worden. Ein solcher Verlust wäre für mich unersetzlich gewesen, und Boten mußten zu der Stelle zurück, als nach einigen Tagen die Stiefel vermißt worden waren. Mittlerweile hatten Landstreicher rätselhafter Art die verlassenen Hütten einer genauern Durchsicht unterzogen, und längst hatte das scharfe Auge des Jägers den seltsamen Fund erspäht. Die Stiefel hingen noch immer am alten Fleck, aber die kleinen Messingringe in den Schnürlöchern waren behutsam aus dem Leder entfernt. Ein ungeahntes Schicksal war ihnen beschieden; sie sollten dereinst an Ohr oder Nase einer schwarzen Schönen erglänzen.

Am 3. Juli war ich wieder in der Seriba Ssabbi, dem Ausgangspunkt der großen Südreise. Ich zähle diese Reise zu den angenehmsten und glücklichsten Entdeckungszügen, die je in einem so entlegenen Teil Afrikas unternommen worden sind. Sie war angenehm infolge meiner tadellosen Gesundheit und des ausgezeichneten Klimas des Niamniamlandes, glücklich durch die Gunst der äußern Verhältnisse. Sie hatte 156 Tage gedauert; die zurückgelegte Wegstrecke betrug, von den kleinern Biegungen abgesehen, volle 1100 Kilometer. Dabei waren die Tagemärsche oft von einer Kürze gewesen, die mich in Verzweiflung bringen konnte; an eigentlicher Marschdauer hatte, dem Tagebuch zufolge, die ganze Reise 248 Wegstunden erfordert.

In Ssabbi hielt ich nach den Gewaltmärschen der letzten Tagereisen kurze Rast. Ich erhielt hier ein dickes Paket Briefe und verbrachte die ungewohnte Muße im angenehmen Lesen der angehäuften Briefschaften. Hier ging mir auch die erste Kunde zu von dem Versuch der ägypischen Regierung, im Gebiet des Bahr-el-Ghasal festen Fuß zu fassen. Kutschuk-Ali, ein bald darauf gestorbener Chartumer Elfenbeinhändler türkischen Ursprungs, war vom Generalgouverneur an die Spitze von zwei Kompanien Regierungstruppen gestellt worden. Ihr Erscheinen rief große Bestürzung hervor; alle Seriben wurden nun für Regierungseigentum erklärt, der Handel im Gesamtgebiet des obern Nil verstaatlicht. An Stelle kaufmännischer Verwalter traten Militärpersonen, und die privaten Söldnerbanden wurden der Sudanarmee einverleibt. Darüber ist es bald zu blutigen Streitigkeiten und später zu einem sehr ernsthaften Krieg der Regierung mit den Sklavenhändlern gekommen.

Die Erholungspause beschränkte sich auf fünf Tage. Mohammed war nicht eingetroffen, er sammelte bei seinen Mittu immer noch zwangsweise Kornvorräte. Inzwischen herrschte in Ssabbi bittere Not, und schon am 8. Juli mußte ich mit frischen Trägern, aber ohne Proviant aufbrechen. Die Träger haben in den nun folgenden anstrengenden Tagen Unglaubliches geleistet, denn die auf dem Wege liegenden Seriben waren ebenso ausgehungert wie Ssabbi. Diese Leute lebten auf der ganzen fünftägigen Reise ausschließlich von wilden Wurzeln und Knollen, die sie im Wald ausgruben. Erst am Morgen des letzten Marschtages kam Hilfe, indem ihnen Körbe mit Getreide entgegengeschickt wurden. Gierig fielen die Träger darüber her und verzehrten die Körner ungekocht, indem sie sich diese handvollweise in den Mund stopften. Dann folgte, am 12. Juli, ein schwieriger Übergang über den mächtig angeschwollenen Tondj, der weit in das anliegende Gelände ausgetreten war. Über den Fluß selbst kam die Karawane nach und nach unter Anwendung aller Vorsicht auf einem gebrechlichen aus Grasbündeln bestehenden Floß. Am Abend des 13. Juli wurden die ersten Hütten der Seriba Ghattas erreicht. Damit war ich, nach einer Abwesenheit von acht Monaten, wieder glücklich in meinem alten Standquartier angelangt.


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