Gustav Schwab
Erzählungen aus den alten Volksbüchern
Gustav Schwab

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Die schöne Magelone

Vor alter Zeit herrschte in der Provence, einer französischen Landschaft, ein edler Graf, der einen einzigen Sohn namens Peter hatte. Dieser Jüngling übertraf alle seine Altersgenossen, und die Untertanen dankten Gott, daß sie einst einen solchen Herrn bekommen sollten. Der Graf und die Gräfin ließen ihrem Sohn zulieb manche fröhlichen Feste am Hof veranstalten. Nach einem glänzenden Turnier, in dem Peter den Preis davontrug, erzählte einer der fremden Gäste auch von der schönen Magelone, der Tochter des Königs von Neapolis, der niemand an Schönheit und Tugend gleiche. Ein anderer Ritter sagte zu Peter: »Junger Herr Graf, Ihr solltet in die Welt ziehen und Euch in ritterlichen Spielen üben. Ihr würdet weit und breit bekannt werden und am Ende eine schöne Braut heimführen!«

Dem Grafen Peter gefiel dies wohl, und er nahm sich vor, in die Welt hinauszureiten. Als daher das Festspiel vorüber war, ließ er sich vor seinen Eltern auf die Knie nieder und bat: »Gnädige Eltern, ich weiß, daß ihr mir bisher viel Freude gemacht habt, schlagt mir meine demütige Bitte nicht ab, daß ich reisen und der Welt Lauf erfahren darf; es würde euch zur Ehre und mir von Nutzen sein.«

»Peter, lieber Sohn«, antwortete der Vater traurig, »wir haben nur dich allein; wenn dir etwas zustoßen sollte, wovor dich Gott behüten wolle, wäre unsere Herrschaft für unser Haus verloren!«

Seine Mutter aber klagte: »Liebster Sohn, was hast du es nötig, die Welt aufzusuchen! Du hast alles, was dein Herz begehrt. Sieh doch unser Alter an! Bedenke, daß du unsere einzige Freude bist! Ich bitte dich wie eine Mutter ihr Kind, sprich nicht mehr vom Scheiden!«

Peter aber fing von neuem zu bitten an, bis der Graf und die Gräfin schließlich einsahen, daß der Vorsatz in der Seele ihres Sohnes feste Wurzel gefaßt hatte, und zuletzt doch ihre Einwilligung gaben. »Nur denke daran«, schloß der Vater seine Rede, »daß du nichts tust, was deinem Adel entgegen ist, und trachte, bald wieder zurückzukommen. Nimm dir Pferde, Harnisch, Gold und Silber, soviel du brauchst.«

Peter dankte seinen Eltern gerührt. Dann nahm ihn seine Mutter beiseite und gab ihm drei kostbare Ringe. »Suche gute Gesellschaft«, flehte sie weinend, »fliehe die böse! Denke immer an uns!« 52

So bereitete sich Peter mit großem Gefolge auf die Fahrt vor und zog nach Neapolis, wo der Vater der schönen Magelone, der König von Neapel, mit Gemahlin und Tochter Hof hielt. Graf Peter bezog eine Herberge auf dem Fürstenplatz und erfuhr von seinem Wirt, daß vor kurzem ein angesehener Ritter, Herr Heinrich von Carpona, an den Hof gekommen sei, dem zu Gefallen der König am nächsten Sonntag ein Turnier veranstalten wolle. Zugleich sagte ihm der Wirt, daß auch fremde Ritter Zutritt zu dem Turnier erhalten könnten.

Als der Sonntag gekommen war, ließ Peter sein Pferd satteln und legte seine schönsten Kleider an; denn heute wollte er sich vor der schönen Magelone zeigen. Auf seinem Helm hatte er zwei kostbare silberne Schlüssel anbringen lassen, um daran kenntlich zu sein. Auch alle Decken seiner Pferde ließ er mit Schlüsseln zieren.

Die Bahn ward eröffnet, und der König mit seiner Gemahlin und Tochter sowie großem Gefolge betrat das Schaugerüst. Da kam auch Peter mit einem Knecht und einem Knaben auf die Bahn; er stellte sich aber ganz rückwärts auf, denn er war fremd und unbekannt. Zuerst trat Herr Heinrich von Carpona in die Schranken; gegen ihn kämpfte ein Vasalle des Königs. Den traf Herr Heinrich so gut, daß er bügellos im Sattel hing und vor Schrecken die Lanze von sich warf. Diese fiel zufällig dem Roß des Herrn Heinrich vor die Füße, daß es strauchelte und samt seinem Herrn stürzte. Da wurde dem königlichen Ritter der Sieg zugesprochen. Dies verdroß Herrn Heinrich von Carpona, daß er nicht mehr kämpfen wollte, und tat auch dem Grafen Peter leid, der wohl sah, welch tapferer Ritter Herr Heinrich war.

Als nun der Herold zum zweitenmal zum Kampf aufrief, trat Peter in die Schranken und traf bald seinen Gegner so gut, daß Mann und Roß stürzten und alle Zuschauer staunten. Auch der König lobte den Ritter mit den silbernen Schlüsseln und hätte gern erfahren, wer er sei. Aber Peter antwortete dem Herold auf seine Frage: »Sage dem König, daß ich ein Gelübde getan habe, keinem Menschen meinen Namen zu nennen. Nur soviel mag er wissen, daß ich ein armer Edelmann aus Frankreich bin und im Kampf Ehre erringen will.« Der König begnügte sich mit dieser Antwort.

Jetzt fing Peter erst recht an, seine Kunst zu zeigen. Der König und alle erkannten bald, daß er der beste sei, und gaben ihm den Preis. Unter den Jungfrauen und Frauen ging ein Flüstern über den Ritter mit den silbernen Schlüsseln, und die schöne Magelone konnte 53 seine Taten und seine Gestalt nicht vergessen. Herr Heinrich von Carpona begleitete den Sieger mit einigen anderen in die Herberge, um ihn recht zu ehren.

Bald darauf bat Magelone ihren Vater, wieder ein Turnier zu halten, denn sie freute sich darauf, den Ritter mit den silbernen Schlüsseln wiederzusehen. Als Peter in seiner kenntlichen Waffenrüstung in die Schranken trat, die Trompeten schmetterten und die Speere an den Schilden krachten, überzog eine holde Röte ihr Antlitz. Unverwandt blickte sie auf Peter, obgleich sie sein Angesicht noch nicht erkennen konnte. Auch dem König gefiel der Ritter mit den silbernen Schlüsseln, und er dachte: »Dieser Ritter kann aus keinem niedern Geschlecht sein; sein ganzes Wesen verrät das Gegenteil; er ist es wert, daß wir ihm mehr Ehre erweisen, als ihm bisher zuteil wurde.«

Als das Kampfspiel zu Ende war, ließ ihn der König an seine Tafel laden, worüber Peter sehr erfreut war; denn nun durfte er hoffen, die schöne Magelone einmal in der Nähe zu sehen. Der Ritter erschien zur bestimmten Stunde und wurde der Prinzessin gegenübergesetzt. Die herrlichsten Gerichte wurden aufgetragen, aber der Ritter achtete wenig auf das Essen. Die Schönheit der Jungfrau hatte es ihm angetan, so daß er sie immer anschaute. Er mußte sich gestehn, daß es auf Erden kein schöneres Wesen gebe als die schöne Magelone, und er dachte: »O wie glücklich wäre der Mann, der ihre Liebe erringen könnte!«

Nach dem Mahl rief die schöne Magelone den Ritter mit den silbernen Schlüsseln freundlich zu sich. »Edler Ritter«, sprach sie zu ihm, »mein Vater und wir alle haben an Eurem edlen Wesen großen Gefallen gefunden. Ich soll Euch darum bitten, sooft Ihr wollt, zu uns zu kommen, um Euch im Haus meines Vater zu vergnügen.«

Peter dankte ihr in ehrerbietigen Worten. Noch eine Zeitlang unterhielten sie sich. Beim Abschied aber sah sie ihn so freundlich an, daß ihm das Herz übergehen wollte.

Unterdessen trat der König wieder zu dem Ritter mit den silbernen Schlüsseln. Er bat ihn freundlich, ihm seinen Namen und seinen Stand zu sagen. Aber er konnte von Peter nur erfahren, daß er ein armer Edelmann sei und in der Welt umherziehe, um sie kennenzulernen und Ritterspiele zu üben. Dann verließ der Ritter den Hof und kehrte in die Herberge zurück. 54

Sobald sich Peter allein sah, vertieften sich seine Gedanken in die Schönheit der Jungfrau Magelone, und sein Herz wiederholte alle freundlichen Reden und jeden huldvollen Blick der Geliebten. Die schöne Magelone aber dachte nur an den Ritter und sann darüber nach, woher er wohl stamme und wie er heiße; denn sie konnte nicht glauben, daß er von so geringem Geschlecht sei, als er vorgab.

Endlich nahm sie sich vor, ihre Zuneigung zu dem Ritter ihrer Amme zu offenbaren, von deren Treue sie überzeugt war. »Liebe Amme«, begann sie, »hast du den jungen Ritter gesehen, der vor wenigen Tagen den Preis im Turnier erlangt hat? An dem hängt mein Herz, und ich kann darüber nicht essen, trinken und schlafen. Wüßte ich, daß er von hohem Geschlecht ist, so wollte ich ihn zu meinem Gemahl machen. Nun rate mir, liebe Frau, und trachte zu erfahren, woher er stammt und wer er ist.«

Erschrocken erwiderte die Amme: »Liebes Kind, was sagst du? Du bist von hohem Stand, und wenn der mächtigste Herr der Welt dich zur Frau bekäme, müßte er sich freuen! Du aber denkst an einen jungen, fremden Ritter, der vielleicht nur deinen Spott und deine Schande im Auge hat. Liebe Tochter, schlage dir doch solche Gedanken aus dem Sinn!« Magelone aber hörte nicht auf, in die Alte zu dringen, und schloß mit den Worten: »Ich bin sicher, wenn du ihn in meinem Auftrag nach seinem Namen und Stand fragen wolltest, er würde ihn dir gewiß sagen.« Als die Amme sah, wie groß die Liebe der schönen Magelone zu dem jungen Ritter war, brachte sie es nicht übers Herz, der Jungfrau ihre Bitte abzuschlagen, und versprach ihr, den Ritter zu fragen.

Am nächsten Morgen suchte die Amme den Ritter auf und begann: »Herr Ritter, ich wundere mich, daß Ihr Euren Stand und Euer Herkommen verbergt. Ich weiß gewiß, daß der König und die Königin, besonders aber die schöne Magelone, große Freude hätten, wenn sie erfahren könnten, wer Ihr seid. Wolltet Ihr der Prinzessin dies mitteilen, ich versichere Euch, Ihr tätet ihr einen großen Gefallen.« – »Liebe Frau«, antwortete der Ritter, »seit ich von der Heimat weg bin, habe ich mich keinem Menschen zu erkennen gegeben. Weil aber niemand auf der ganzen Welt ist, dem ich lieber gefällig sein möchte als Eurer schönen Gebieterin, so sagt ihr, wenn sie wirklich meinen Namen wissen will, daß ich von höchstem Adel bin. Bittet sie aber in meinem Namen, sich mit dieser Antwort zu begnügen. 55 Euch ersuche ich, nehmt von mir dieses kleine Andenken an!« Dabei übergab er der Amme einen von den drei Ringen, die ihm seine Mutter mit auf die Reise gegeben hatte.

Die Alte ging fröhlich in das Schloß. »Er muß wohl, wie Magelone sagt, von hohem Geschlecht sein«, sprach sie zu sich selbst; »denn man merkt es an seinem Benehmen.«

Magelone harrte sehnsüchtig auf ihre Rückkehr. Die Eintretende zog den Ring hervor, hielt ihn ihrer Herrin entgegen und berichtete alles. Magelone griff freudig nach dem Ring, betrachtete ihn und rief: »Siehst du nun, Liebe! Habe ich dir nicht gesagt, er müßte aus hohem Geschlecht sein! Meinst du, ein so kostbarer Ring könnte einem Armen und Niedrigen gehören. Ja, diese Liebe wird mein Glück sein! Ich will ihn besitzen, und kein Gedanke an einen andern soll je in mein Herz kommen! Ich bitte dich, laß mir diesen Ring, der von ihm kommt, und nimm ein anderes Kleinod dafür!«

Das tat die Alte gern. Als aber Magelone verlangte, sie solle gehen und dem Ritter ihr ganzes Sinnen und Wollen offenbaren, erschrak sie und bat, ihre Liebe doch nicht so schnell einem fremden, unbekannten Ritter zuzuwenden. Dieses Wort konnte die schöne Magelone nicht ertragen, sie sprach mit bewegter Stimme: »Du sollst ihn keinen Fremden mehr nennen; ich habe auf der ganzen Welt niemand, der mir lieber wäre!« Mit vielen tröstenden Worten gelang es der Amme schließlich, ihre Herrin ein wenig zu beruhigen.

Indessen bemühte sich der Ritter, die Amme der schönen Magelone wiederzusehen, und es dauerte nicht lange, bis sie einander in der Kirche trafen. Dort erzählte ihm die Amme leise, welche Freude Magelone an dem Ring habe, den sie ihrer Herrin hätte abtreten müssen.

»Liebe Frau«, antwortete der Ritter, »ich habe den Ring Euch gegeben, nicht der schönen Magelone; denn ich weiß wohl, daß eine so kleine Gabe nicht würdig ist, einer so mächtigen Fürstin übersandt zu werden. Aber alles, mein Leib und mein Gut, gehört ihr, ohne ihre Gunst kann ich nicht leben und bin der unglücklichste Ritter auf der Welt. Meldet ihr das, ich bitte Euch; denn ich weiß, daß die Fürstin keine vertrautere Freundin hat als Euch!« Die Amme erwiderte: »Ich will alles tun, was Ihr befehlt, und hoffe, Euch eine günstige Antwort zurückzubringen. Aber warum verbergt Ihr noch immer Euren Namen und Eure Abstammung vor meiner Herrin? Wenn 56 Ihr von hohem Adel seid, so dürfte einer Ehe wohl nichts im Wege stehen.«

Bei diesen Worten flammte die Liebe Peters hoch auf. »Ich bitte Euch, Amme«, rief er, »helft mir dazu, daß ich mich mit der Jungfrau aussprechen kann, dann will ich ihr alles anvertrauen, was sie von mir zu wissen begehrt.«

Die Amme sagte ihm dies zu, und nun gab er ihr den zweiten Ring für Magelone mit und verabschiedete sich von ihr. Die Alte ging wieder zu der schönen Magelone, die auf ihrem Ruhebette lag. Sobald sie die Amme erblickte, sprang sie auf und lief ihr entgegen. »Sei mir willkommen, liebe Freundin!« rief sie. »Ach, bringst du mir keine gute Botschaft von jenem, den meine Seele liebt? Ach, liebe Amme, wenn du mir keinen Rat gibst, wie ich ihn sehen und sprechen kann, so muß ich sterben!«

»Liebes Kind, ich bringe dir günstige Kunde«, sprach die Amme. Da fiel ihr Magelone vor Freude um den Hals und erfuhr nun alles, was der Ritter gesagt hatte. »Glaubt mir«, berichtete die Alte, »wenn Ihr seinetwegen große Schmerzen duldet, so erträgt er um Euretwillen nicht kleinere. Und nun möchte er heimlich mit Euch sprechen und Euch seinen Namen und seinen Stand anvertrauen. Auch bittet er Euch, diesen Ring aus seiner Hand anzunehmen.«

Bei dieser guten Nachricht färbte sich das schöne Gesicht Magelonens mit noch höherer Röte, sie betrachtete den Ring und meinte noch: »Ach, das ist ja der gleiche Ring, den ich heute nacht im Traum gesehen habe. Nun glaube ich auch, daß dieser Ritter mein Gemahl werden soll! Darum, Trauteste, suche Mittel und Wege, wie ich ihn sehen und mit ihm reden kann.«

Die Amme versprach es, und nun war Magelone den ganzen Tag fröhlich wie ein Kind, sah den einen Ring an, dann wieder den andern, spielte mit ihnen, steckte sie jetzt an diesen Finger, jetzt an jenen, küßte sie und dankte im Herzen ihrem Freund vielhundertmal für diese Gaben seiner Liebe.

Am andern Tag traf die Amme den Ritter. »Edler Herr«, redete sie ihn an, »Ihr seid zur guten Stunde in dieses Land gekommen und erlangt durch Eure Tapferkeit die schönste Jungfrau auf der Erde. Sie wünscht von Herzen, Euch zu sehen und freundlich mit Euch zu reden, und ich will mich ihr nicht widersetzen. Kommt morgen nachmittag durch das kleine Pförtchen unseres Gartens zu meiner 57 schönen Herrin, damit ihr beide allein miteinander reden und einander nach Herzenswunsch erzählen könnt.« Mit dieser Hoffnung schied der Ritter von der Amme.

Tags darauf fand er das Pförtchen offen und eilte durch den Garten zur schönen Magelone. Hier fand er die Jungfrau mit der Amme allein. Als sie ihn erblickte, ward sie rot wie eine Rose. Ihr holdes Antlitz und ihr liebliches Auge ließen die Neigung durchschimmern, die sie für den Ritter im Herzen trug. Auch der Ritter war beklommen, als er so plötzlich die Geliebte seines Herzens vor sich stehen sah, und fand keine Worte. Endlich kniete er vor ihr nieder und sprach: »Hochgeborene Fürstin, der allmächtige Gott verleihe Euch Ehre und alles, was Euer Herz begehrt.«

Da faßte ihn Magelone bei der Hand und flüsterte: »Seid mir willkommen, edler Ritter!« Sie hieß ihn neben ihr Platz nehmen und fuhr fort: »Wohl ziemt es sich für ein so junges Mädchen, wie ich bin, nicht, mit einem Ritter heimlich zu reden, aber es ist kein Mensch auf der Erde, den ich lieber hätte als Euch. Darum möchte ich gern erfahren, wer Ihr seid und warum Ihr hierher gekommen.«

Da stand der Ritter auf und erwiderte: »Ich danke Euch, gnädigste Fürstin, für Eure Freundlichkeit, die ich nicht verdiene. Ihr sollt alles erfahren, doch bitte ich Euch, es vor jedermann geheim zu halten. Ich bin der einzige Sohn des Grafen von Provence, der ein Oheim des Königs von Frankreich ist. Ich bin nur deshalb von Vater und Mutter weggegangen, um Eure Liebe zu erlangen; denn ich hörte, daß Ihr die schönste Fürstin wäret, und so ist es auch: Eure Schönheit ist unaussprechlich. Das ist die ganze Wahrheit. In meinem Herzen ist beschlossen, niemand lieber zu haben als Euch bis an meinen Tod.«

Auf diese Worte des Ritters entgegnete Magelone: »Mein edler Ritter und Herr, ich schätze mich für das glücklichste Wesen der Welt, einen so edlen Mann gefunden zu haben, der an Hoheit des Geschlechts, an Tapferkeit und Klugheit nicht seinesgleichen hat. Nein, Ihr sollt Euch nicht umsonst treu um mich bemüht haben. Und weil Ihr mir Eure geheimsten Gedanken aufgedeckt habt, so ist es billig, daß ich ein Gleiches tue. Darum wißt, auch mein Herz ist Euch in Liebe zugetan, nur bitte ich Euch, es bis zur Zeit unseres Verlöbnisses geheim zu halten! Aber seid versichert, daß ich lieber in den Tod gehen würde, ehe ich mich und mein Herz einem andern schenken wollte.« 58

Magelone nahm nun eine goldene Kette von ihrem Hals. »Mit dieser Kette«, sprach sie, »geliebter Freund und Bräutigam, übergebe ich Euch mein Leben und verspreche Euch, keinen andern zu ehelichen als Euch.« Peter sank vor der Geliebten in die Knie, dankte ihr und steckte ihr den dritten und kostbarsten Ring, den er von seiner Mutter empfangen, an den Finger.

Hierauf verabschiedete sich Peter und ging fröhlich in die Herberge zurück. Magelone aber ließ sich niemand gegenüber anmerken, was vorgegangen. Nur mit der Amme sprach sie von nichts anderem als von ihrem Ritter. Die Frau aber erklärte: »Es ist alles wahr, was Ihr Gutes und Liebes von ihm sagt. Nur, liebstes Fräulein, bitte ich Euch, laßt Euch nichts merken. Würden Vater und Mutter es erfahren, so könnte es für euch beide und für mich üble Folgen haben.« Magelone versprach, der Amme in allem aufs Wort zu folgen. Als der Ritter wieder in seiner Herberge war, dachte er nur an Magelonens Güte und Schönheit. Es trieb ihn, früher wieder an den Hof zu gehen, als er sich vorgenommen hatte. Sooft er dort einen unbemerkten Augenblick erhaschen konnte, warf er der schönen Magelone heimlich einen liebevollen Blick zu. Nur wenn er vom König oder der Königin Befehl erhielt, mit der Fürstin zu reden, nahte er sich ihr. Und dann vertrieben sie sich mit freundlichen Gesprächen die Zeit.

Damals lebte in der Normandie ein vornehmer Ritter, der wegen seines edlen Charakters überall beliebt war; er hieß Friedrich von der Krone. Dieser liebte die schöne Magelone; denn er hatte sie früher einmal gesehen, ohne daß sie auf ihn geachtet hätte. Nun nahm er sich vor, zu einem Turnier in die Stadt Neapel zu reiten. Er vertraute dabei auf seine Stärke, die ihm den Preis und damit vielleicht die Huld der schönen Magelone gewinnen könnte. Und nun wurde in Frankreich und allen Landen ausgerufen: Wer am Turnier teilnehmen wolle, der solle am Tage Mariä Geburt in der Stadt Neapel erscheinen. Dies bewog viele Fürsten und Herren aus Savoyen, aus England, aus Böhmen und Rußland nach Neapel zu kommen. Auch Jakob, der Bruder des Grafen von Provence, der Oheim des Ritters mit den silbernen Schlüsseln, kam, ohne seinen Neffen zu erkennen. Herr Friedrich von der Krone, Herr Heinrich von Carpona und andre Edle hatten sich auch eingefunden, doch der Ritter mit den silbernen Schlüsseln war als erster auf dem Platz. 59

Sechs Tage verweilten die Fürsten und Herren in der Stadt, dann rüsteten sie sich herrlich und zogen auf den Turnierplatz, wo der König und die Königin mit ihrer Tochter, der schönen Magelone, und andern Jungfrauen und Frauen auf einer Schaubühne saßen, dem Wettkampf zuzusehen. Es war ein prächtiger Kranz; aber unter soviel schönen Frauen leuchtete Magelone wie der Morgenstern hervor.

Als dann der Herold den Beginn des Turniers ausrief, zog Herr Friedrich von der Krone als erster auf die Bahn. Wider ihn trat Herr Heinrich auf, der Sohn des Königs von England. Sie trafen einander so gut, daß beider Lanzen brachen. Nach ihm kam der Ritter Lancelot von Valois, der stach gleich im ersten Zusammentreffen Herrn Friedrich aus dem Sattel.

Nun ritt Peter von Provence wider Lancelot in die Schranken. Sie trafen so heftig aufeinander, daß beider Pferde stürzten und sie auf Befehl des Königs die Pferde wechseln und noch einmal antreten mußten. Die schöne Magelone war ganz traurig geworden, als sie das Roß ihres Geliebten fallen sah. Nun aber zogen sie abermals auf die Bahn, und Peter rannte mit solcher Gewalt wider seinen Gegner an, daß er ihm einen Arm brach und Lancelot wie tot auf die Erde stürzte und von der Bahn weggetragen werden mußte.

Darauf trat Herr Jakob von Provence gegen Peter an. Peter erkannte seinen Gegner sogleich, wurde aber von jenem nicht erkannt. Da ließ der Jüngling den Herold rufen und befahl ihm: »Sagt dem Ritter, daß er nicht wider mich antritt, denn er hat mir einmal einen ritterlichen Dienst erwiesen, daher will ich nicht gegen ihn kämpfen.«

Als Herr Jakob dies hörte, wurde er zornig. »Meldet dem Ritter«, erklärte er, »wenn ich ihm Liebes erwiesen habe, so sollte er um so mehr gegen mich zum Kampf antreten, um auch mir einen Gefallen zu tun; denn er wird hier als tapferer Ritter geachtet. Ich fürchte aber, daß er nicht genug Kraft in sich fühlt, sich gegen mich zu wehren!«

Der Herold meldete dies Herrn Peter, und so schwer es diesem fiel, gegen seinen Oheim zu kämpfen, mußte er es doch tun, um von den Leuten nicht der Feigheit geziehen zu werden. Als es nun zum Treffen kam, hielt Peter seinen Speer querüber; denn er mochte seinen Oheim nicht treffen. Dieser hingegen schonte Peter nicht, sondern traf seine Brust. Der Stoß war so heftig, daß Jakobs Speer 60 zerbrach und er selbst aus dem Sattel gehoben wurde. Peter jedoch rührte sich nicht. Der König bemerkte wohl, daß der Ritter mit den silbernen Schlüsseln nur aus Höflichkeit so handelte, begriff jedoch nicht, warum es geschah.

Indessen schickten sich beide zu einem zweiten Kampf an, und Peter machte es wieder wie das erstemal. Sein Oheim hingegen rannte so heftig gegen Peter an, daß er selbst von der Wucht des Stoßes vom Pferd fiel. Peter aber hatte sich nicht im Steigbügel gerührt. Hierüber staunten alle. Herr Jakob selbst, der Peters Stärke empfunden hatte und doch sah, daß der Ritter sich keine Mühe gab, ihn zu treffen, wunderte sich und wollte nicht mehr antreten. So zog er ab, ohne zu wissen, daß sein Gegner sein Neffe Peter gewesen war. Nach ihm kamen noch viele andere Herren; die alle schonte der Ritter mit den silbernen Schlüsseln nicht, sondern hob einen um den andern aus dem Sattel.

Als nun niemand mehr auf dem Kampfplatz war, der es mit Peter wagen wollte, schlug er sein Visier auf und ritt zum König. Dieser ließ ihn durch den Herold als Sieger ausrufen, und die Königin, die schöne Magelone und alle übrigen Frauen und Jungfrauen erwiesen ihm große Ehre. Der König aber ging dem Ritter mit den silbernen Schlüsseln entgegen, umarmte ihn und richtete huldvolle Worte an ihn.

Nach den Festlichkeiten zogen die anderen Fürsten und Edlen heim, obgleich ziemlich ärgerlich, weniger weil sie besiegt worden waren, als deshalb, weil sie durchaus nicht erfahren konnten, wer der siegreiche Ritter war, der bei dem Turnier unter so vielen Tapfern der Beste gewesen.

Tags darauf kam der Ritter wieder mit seiner schönen Magelone zusammen. »Edelste, schönste, liebste Magelone«, redete er sie an, »Ihr wißt, wie lange ich Euretwegen von Eltern und Heimat fern bin; darum bitte ich Euch, erlaubt mir nun, nach Hause zu reiten; denn Vater und Mutter sind gewiß in großer Sorge um mich, und das beschwert mein Gewissen.«

Als dies Magelone hörte, liefen heiße Tränen über ihr zartes Angesicht. Sie schwieg lange. Endlich begann sie seufzend: »Ja, geht nur, ich weiß, daß ein Sohn Vater und Mutter gegenüber gehorsam sein soll! Aber es schmerzt mich, daß Ihr Eure Geliebte zurücklassen wollt, die doch ohne Euch weder Rast noch Ruhe in dieser Welt hat. 61 Glaubt mir, wenn Ihr von mir fortzieht, werdet Ihr bald von meinem Tod hören!«

Diese Klagen gingen dem Grafen Peter sehr zu Herzen, und er antwortete: »Ach, liebste Magelone, sorgt Euch nicht! Glaubt mir, daß ich lieber den Tod erleiden als Euch lassen will. Wollt Ihr aber mit mir ziehen, so seid versichert, daß ich Euch in hohen Ehren halten werde.«

Als Magelone diese Worte ihres Geliebten hörte, freute sie sich und machte ihm selbst den Vorschlag, sobald als möglich heimlich fortzuziehen. »Hört, was ich Euch bisher verschwiegen habe«, setzte sie hinzu, »mein Vater will mich demnächst mit Herrn Heinrich von Carpona vermählen. Mir war bei seinen Worten zumute, als ob er mich mit dem Tode bedroht hätte.«

Darauf beschlossen die beiden, am dritten Tag, wenn alles im ersten Schlaf läge, gemeinsam fortzuziehen. Peter sollte sich mit allem Nötigen versehen und mit den Pferden zu dem kleinen Pförtchen beim Garten kommen. Magelone bat ihn inständig, gute, starke Pferde mitzubringen, damit sie schnellstens aus dem Land kämen. »Denn wenn mein Vater uns einholte«, versicherte sie, »würde er uns beide töten.«

Von diesem Entschluß sagte die schöne Magelone sogar ihrer Amme nichts; sie fürchtete, daß diese ihre Absicht verhindern oder ihren Eltern anzeigen könnte. So hütete sie allein ihr Geheimnis bis in die Nacht hinein. Als alles schlief, kam Peter mit den Pferden vor das Gartenpförtchen. Die schöne Magelone hatte inzwischen Gold, Silber und was sonst für ihre Reise nötig war, zu sich genommen und setzte sich auf einen schmucken englischen Zelter, der sehr sanft ging. Peter saß auf einem stattlichen Roß, und so ritten sie die ganze Nacht hindurch. Als der Tag anbrach, suchte Peter dichtes Gehölz auf, damit sie von niemand gesehen würden. Als beide tief genug im Wald waren, hob er die schöne Magelone vom Pferd und ließ die Rosse weiden. Sie selbst setzten sich im grünen Gras in den Schatten eines Baumes und baten Gott, sie zu beschirmen. Dann legte die schöne Magelone, von Müdigkeit überwältigt, ihr Haupt in Peters Schoß und schlief bald sanft ein, während Peter ihren Schlaf bewachte.

Inzwischen trat zu Neapel die Amme vor das Bett ihrer Herrin und erschrak; denn sie fand es leer und die Linnen und Kissen frisch und 62 unberührt. Ihr erster Gedanke war, daß Peter die schöne Magelone entführt habe. Sie eilte in die Herberge des Ritters und fragte dort nach ihm; da erfuhr sie, daß er fortgeritten sei. Jetzt begann die Amme zu jammern, sie ging sogleich zur Königin und meldete, daß ihre Tochter verschwunden sei.

Die Königin erschrak sehr und ließ die Jungfrau überall suchen, so daß auch der König aufmerksam wurde. Allmählich verbreitete sich das Gerücht, auch der Ritter mit den silbernen Schlüsseln sei verschwunden. Da dachte der König sogleich, jener habe seine Tochter entführt, und ordnete seine Verfolgung an. Wenn man den Ritter aufgreife, solle man ihn lebendig einliefern; er wolle ihn aufs härteste bestrafen.

Während sich nun Geharnischte auf die Suche machten, ließ der König die Amme holen und fuhr sie zornig an: »Es ist nicht anders möglich; du mußt von der Sache gewußt haben!«

Da warf sich das arme Weib dem König zu Füßen und rief: »Gnädigster Herr, wenn Ihr mich in dieser Sache schuldig findet, so bin ich bereit, den grausamsten Tod zu erleiden, den Ihr über mich verhängen mögt. Ich habe vielmehr die Flucht, sobald ich davon erfuhr, sogleich der Königin gemeldet.« Der König glaubte ihr, ging in sein Zimmer und verfiel in stille Trauer. Die Königin, alle Jungfrauen des Hofes, die ganze Stadt Neapel, alles war ein Bild tiefster Kümmernis.

Die Bewaffneten, die ausgesandt waren, kamen erst nach mehreren Tagen wieder. Sie hatten nichts erfahren, so daß der König von neuem ergrimmte, bis er mit der Königin und allen in stumme Trauer versank.

Indes schlief die schöne Magelone im tiefen Wald im Schoß Peters. Dabei bemerkte er um Magelonens Hals ein seidenes Band, woran ein zierliches rotes Beutelchen hing. Er wollte erfahren, was es wäre, nahm das Beutelchen und öffnete es. Da fand er die drei kostbaren Ringe, die er seiner Geliebten geschenkt hatte und freute sich innig darüber, daß sie seine Gabe so wert hielt und so gut aufbewahrte. Er wickelte sie wieder ein, legte die Kostbarkeit neben sich auf das moosige Gestein und schlief ein.

Plötzlich schoß ein Raubvogel herab, der das Beutelchen erblickt hatte und es für ein Stück Fleisch halten mochte, faßte es mit dem Schnabel und trug es in den Lüften davon. Unmittelbar nachher erwachte Peter aus seinen Träumen. Erschrocken fuhr er auf; er 63 fürchtete, Magelone könnte zürnen, wenn ihr beim Erwachen die Ringe fehlten. Er legte daher seiner Geliebten sorglich den Mantel unter das Haupt, damit sie ruhig fortschlafen könnte, dann verfolgte er den Vogel und warf mit Steinen nach ihm, aber keiner wollte ihn treffen. So kam Peter bis ans Meeresufer. Hier setzte sich der Raubvogel auf eine kleine spitzige Klippe. Da warf Peter einen Stein so wohlgezielt, daß der Vogel aufflog und dabei die Ringe ins Meer fallen ließ. Peter sah den Beutel auf dem Wasser schwimmen, weit vom Ufer entfernt. Er konnte nicht hoffen, ihn schwimmend zu erreichen und suchte vergebens am Ufer nach einem Fahrzeug.

Endlich fand er ein kleines, altes Boot, das die Fischer verlassen hatten. Aber diese Freude währte nicht lange; denn kaum war er eingestiegen und hatte zu rudern angefangen, als sich ein Sturm erhob, der den Schiffer wider seinen Willen auf das hohe Meer hinausführte. Der Wind hatte auch den Beutel fortgetrieben, so daß er dem Jüngling bald aus den Augen entschwand.

Peter war in hellster Verzweiflung. Er sah den eigenen Tod vor Augen, und dann dachte er wieder an die schöne Magelone, die er im Wald schlafend zurückgelassen und die nun, wie er fürchten mußte, verzweifelt sein würde. Ohne Hilfe und Rat war er nahe daran, sich ins Meer zu stürzen; aber bald kam er wieder zu sich und dachte: »Ach, warum sollte ich mich denn selbst töten? Der Tod läuft mir ja nach, ich brauche ihn nicht zu suchen. Ich will gern alles leiden, wenn nur meine geliebte Magelone der Gefahr entgeht! Ach, was wird sie zu dulden haben, wenn sie sich auf einmal so allein findet! Um mich ist nur wenig schade, aber daß Magelone sterben soll, die allerschönste Jungfrau auf Erden! O gütiger Gott, bewahre sie vor allem Übel! Erbarme dich doch nur ihrer, denn sie ist unschuldig!«

So sprach Peter zu sich selbst. Er saß in der Mitte des lecken Schiffleins und erwartete den Augenblick, wo es untersinken würde. Vom Morgen bis zum Mittag harrte er aus. Da kam ein Schiff herangesegelt; es war ein Seeräuberschiff, das ihn aus Mitleid aufnahm. Nach tagelanger Seefahrt machte der Kapitän des Schiffs Peter in Alexandrien dem Sultan von Babylon zum Geschenk. Diesem gefiel der junge Mann, und er dankte dem Kapitän. Weil Peter immer die goldene Kette um den Hals trug, die Magelone ihm geschenkt hatte, schloß der Sultan, daß er von hoher Abstammung sein müsse. Er ließ ihn deswegen bei Tisch aufwarten. Mit der Zeit gewann er ihn so lieb, als 64 wäre er sein eigener Sohn. Peter erlernte die griechische und türkische Sprache und zeigte sich gegen jedermann so höflich und freundlich, daß alle Leute am Hof ihn gern hatten und überall bevorzugten. Doch konnte all das den armen Peter nicht fröhlich machen. Schweren Herzens dachte er beständig an seine unglückliche Magelone und wünschte, er wäre im Meer ertrunken, um seinen Schmerz los zu sein. Doch ließ er sich nichts anmerken, so betrübt er auch war.

Als die schöne Magelone im grünen Wald endlich erwachte, meinte sie, sie sei noch bei ihrem geliebten Peter, in dessen Schoß sie ihr Haupt gelegt hatte. »Mein liebster Freund«, rief sie emporschauend, »ich habe gut geschlafen – aber Ihr schweigt!« Und nun sah sie um sich und gewahrte niemand; sie erschrak und sprang auf. Mit lauter Stimme rief sie durch den Wald: »Peter, Peter!«, aber niemand antwortete. Dann fing sie zu weinen an und ging rufend und jammernd durch den Wald, bis sie vor Schmerz und Weh ohnmächtig niedersank.

Als sie nach längerer Zeit wieder zu sich kam, klagte sie erneut: »Peter, ach, geliebter Peter, du meine Liebe und Hoffnung, hab' ich dich denn verloren? O warum hast du deine treue Genossin verlassen? Meinst du denn, ich könnte leben ohne dich, in dieser Wildnis, in diesen rauhen Wäldern? Was habe ich dir zuleide getan, daß du mich so ängstigst? O Peter, wo ist deine Treue und dein Wort? Du bist der elendeste Mann auf Erden, und doch vermag mein Herz nichts Böses über dich zu sagen! Gewiß, du bist nicht freiwillig von mir geschieden; du bist der Getreue, und ich bin untreu, daß ich dich so geschmäht habe. Peter, bist du tot? Warum bin ich nicht mit dir tot? Ach, keinem Menschen ist je ein so großes Unglück widerfahren als mir! O Gott, laß mich meinen Bräutigam wiedersehen, ehe ich sterbe!«

So jammerte die schöne Magelone und lief verzweifelt im Wald umher, horchte, ob sie nicht etwas hören könnte, stieg auf einen Baum, um in die Ferne zu sehen, aber sie sah nichts als Einöde und weit draußen das große, unendliche Meer. So blieb sie den ganzen Tag traurig, ohne zu essen und zu trinken. Als die Nacht kam, suchte sie sich einen hohen, starken Baum aus, den bestieg sie mit vieler Mühe und blieb die ganze Nacht auf seinen breiten Ästen sitzen, doch schlief sie wenig, denn sie hatte Furcht vor den wilden Tieren. Jetzt hatte sie Zeit, über ihr Schicksal nachzudenken. Daß sie nicht mehr nach Hause zu ihren Eltern zurückgehen könne, sah sie ein; 65 denn sie fürchtete den Zorn ihres strengen Vaters. So beschloß sie, ihren Geliebten zu suchen. Sobald der Tag anbrach, stieg sie vom Baum herab und ging zu den Pferden. Unter Tränen löste sie ihnen die Fesseln und flüsterte ihnen zu: »Da euer Herr verloren ist, mögt auch ihr hinlaufen, wohin ihr wollt.« Damit zog sie ihnen die Zäume ab und ließ sie traben, wohin sie wollten.

Dann ging sie weiter und fand endlich die Landstraße, die nach Rom führte. Hier traf sie eine arme Pilgerin. Die rief sie herbei und bat sie um ihren Pilgerrock und ihre übrigen Kleider. Die Frau meinte, eine so schön gekleidete Jungfrau könne nicht allein im Wald leben, und glaubte daher, die schöne Magelone spotte. »Gnädige Frau«, tadelte sie, »Ihr seid köstlich geschmückt, deswegen solltet Ihr aber arme Leute nicht verhöhnen!«

»Liebe Schwester«, entgegnete darauf die schöne Magelone, »ich bitte dich, sei mir nicht böse! Es ist mir Ernst mit meiner Bitte!« Verwundert zog die Pilgerin nun ihre Pilgerkleider aus, und Magelone tat dasselbe und hüllte sich dann in das Gewand der Pilgerin, so daß sie ganz unkenntlich wurde.

In dieser Kleidung nahm die schöne Magelone ihren Weg nach Rom. Im St.-Peters-Dom kniete sie vor dem Hochaltar nieder und verrichtete unter bitteren Tränen ihr Gebet für sich und Peter. Als sie die Kirche verlassen wollte, um nach einer Herberge zu suchen, erblickte sie zu ihrem großen Schrecken ihren Oheim mit großem Gepränge und vielem Gefolge in die Kirche treten. Er war ausgezogen, seine entführte Nichte zu suchen. Doch in den schlichten Pilgerkleidern erkannte er Magelone nicht. Sie aber meldete sich als Pilgersfrau im Spital und blieb längere Zeit dort in Pflege. Dann wollte sie nach Frankreich in die Grafschaft Provence wandern, weil sie dort am ehesten etwas von ihrem Geliebten zu erfahren hoffte.

Sie machte sich auf den Weg und fand in der Stadt Genua ein Schiff, mit dem sie nach Aiguesmortes segelte. In dieser Stadt wurde sie von einer frommen Frau aus Mitleid aufgenommen. Magelone mußte der alten Frau viel von Rom und ihren Wallfahrten erzählen und erkundigte sich ihrerseits nach den Gegenden, die sie durchwandern mußte, um nach der Grafschaft Provence zu kommen. Da berichtete ihr die Frau viel Gutes von dem alten Grafen von Provence und seiner Gemahlin, die um ihren Sohn trauerten, der Peter heiße und der edelste Ritter in der Welt sei. Dieser sei vor zwei Jahren 66 zu einem Ritterspiel gezogen und nicht mehr heimgekommen; niemand wisse, was aus ihm geworden sei. Nun mußte Magelone laut aufschluchzen, und weil die fromme Frau glaubte, Magelone weine aus Mitleid mit den alten Eltern des Grafen, hatte sie die fremde Pilgerin nur um so lieber.

Am andern Morgen erkundigte sich Magelone bei ihrer Wirtin nach einem Ort, wo sie ruhig und sicher leben könne, und erfuhr, daß in der Nähe des Hafens, der der Heidenport heiße, eine kleine Insel liege, wohin die Kaufleute aus allen Landen mit ihren Waren kämen und wo sich auch viele arme kranke Leute befänden. Diesen Ort suchte Magelone auf, und da er ihr wohl gefiel, ließ sie von den Schätzen, die sie aus Neapel mitgenommen und sorgfältig verborgen hatte, ein kleines Kirchlein zu St. Peters Ehren nebst einem Spital bauen. Dort pflegte sie dann eifrig die Armen und führte ein so strenges Leben, daß alle Leute sie nur die heilige Pilgerin nannten. Von allen Seiten erhielt die Gründung Schenkungen, so daß zuletzt auch Peters Eltern, der Graf und die Gräfin von Provence, kamen, ihre Andacht dort zu halten. Die fremde Pilgerin ging ihnen entgegen und erwies ihnen große Ehrerbietung, wurde auch von beiden als eine fromme Magd hochgeehrt. Die Gräfin erklärte ihr auch, wie sehr sie um ihren verlorenen Sohn trauere; dabei fing sie heftig zu weinen an. Die schöne Magelone versuchte sie zu trösten, obwohl ihr die Tränen ebenso nahe waren und sie den Trost noch nötiger gehabt hätte. Beim Abschied bat die Gräfin, die fromme Frau möge für die Heimkehr ihres Sohnes Peter beten. Das gelobte Magelone gern, und es wurde ihr nicht schwer, dies Gelöbnis zu halten.

 

Eines Tages fingen die Fischer der Insel einen schönen Fisch; den brachten sie dem Grafen von Provence zum Geschenk. Als der Fisch zubereitet werden sollte, fand man in seinem Bauch einen roten Beutel, und einer der Köche brachte das wunderliche Ding der Gräfin. Als diese den Beutel öffnete, fand sie darin die drei Ringe, die sie ihrem Sohn mitgegeben. Da fing sie laut zu weinen an und rief: »Allmächtiger Gott, was brauche ich ein weiteres Zeugnis, daß mein geliebter Sohn tot ist! Nun bin ich aller Hoffnung beraubt.« Auf ihr Jammern kam der Graf herbei, auch er erkannte die Ringe und brach in Tränen aus. Dann befahl er seinen Dienern, das ganze Haus mit schwarzen Tüchern zu behängen. Seine Untertanen trauerten mit ihm. 67

Die Gräfin aber suchte Trost bei der frommen Pilgerin. Sie kam auf die Insel und erzählte Magelone klagend, daß sie jetzt gar keine Hoffnung mehr habe, ihren Sohn wiederzusehen. Magelone, die über Peters Verschwinden ihre Ringe vergessen hatte, bat weinend, ihr die Ringe zu zeigen. Die Gräfin holte die Ringe mit Seufzen hervor, und da erkannte die schöne Magelone freilich, daß es Peters Ringe waren. Aber gefaßt suchte sie die verzweifelte Gräfin zu trösten, daß damit des Grafen Peters Tod nicht bewiesen sei; er könne die Ringe ja auch verloren oder einer andern Person gegeben haben. Aber als Magelone dann allein in der Kirche war, fiel sie vor dem Altar nieder und bat Gott, wenn Peter noch am Leben wäre, möge er ihn wohlbehalten seinen Freunden zuführen; wäre er aber tot, so wolle er sie selbst bald im Tode mit ihm vereinigen.

Inzwischen blieb Peter aber im Orient am Hof des Sultans und wurde von ihm wie sein eigener Sohn gehalten. Aber Peter dachte nur an seine arme Magelone, von der er nichts erfahren konnte, und an seine Eltern, von denen er auch nichts hörte.

Einst gab der Sultan ein großes Fest, bei dem er viele Gaben austeilte. Jetzt wollte Peter sich auch seinen Anteil holen, fiel vor dem Sultan auf die Knie und bat: »Herr, ich bin lange an Eurem Hof gewesen und habe die Angelegenheiten vieler Leute betrieben, für mich selbst aber noch nie etwas begehrt. Jetzt wag' ich es, von Euch etwas zu erbitten, was Ihr mir nicht abschlagen wollt!«

Als der Sultan ihn so demütig bitten sah, erwiderte er freundlich: »Lieber Peter, ich will dir gern gewähren, was du für dich begehrst!«

Als ihm aber Peter sein Gesuch vortrug, Vater und Mutter in Frankreich besuchen zu dürfen, sagte der Sultan unwillig: »Guter Freund, ich denke nicht daran, dich fortzulassen.« Peter aber ließ nicht nach zu bitten, bis der Sultan sprach: »Nun gut, aber versprich mir, wieder zu mir zu kommen, wenn du deine Eltern besucht hast.«

Peter gelobte es, und der Sultan ließ ihn ziehen, nachdem er ihm noch eine Menge Gold, Silber und Kleinode zum Geschenk mitgegeben hatte.

In kurzer Zeit kam Peter an die Küste, wo er sich mit allem Nötigen versah. Auch ließ er hier vierzehn Fässer machen, die er oben und unten mit Salz füllte, in der Mitte aber war sein Schatz. Bald fand er auch ein Schiff, das eben nach der Provence fahren wollte. Er wurde bald mit dem Kapitän einig, nur lachte dieser, als er die 68 vierzehn Salzfässer sah. »Die könnt Ihr zu Hause lassen«, meinte er, »denn wenn Ihr in die Provence kommt, findet Ihr dort überall Salz genug und werdet wenig Gewinn davon haben.«

Aber Peter erklärte, die Fracht gut bezahlen zu wollen, und so war es der Schiffer zufrieden. Noch in der Nacht stellte sich guter Wind ein, und sie fuhren fröhlich ab. Unterwegs legten sie bei einer Insel namens Sagona an, um Trinkwasser einzunehmen. Peter stieg ans Land und streifte durch die Insel; er lagerte sich ins grüne Gras unter den Baumschatten, und wie er so sann, überkam ihn der Schlaf, dem er sich sorglos überließ.

Mittlerweile hatte sich ein frischer Wind erhoben, und der Kapitän befahl, man solle zu Schiff gehen. Als er sah, daß Peter nicht zugegen war, ließ er ihn am Strand suchen. Die Leute fanden ihn nicht. Sie riefen laut ins Gebüsch hinein, aber er hörte es nicht, denn er schlief fest. Der Kapitän wollte den günstigen Wind nicht versäumen, ließ die Segel aufziehen und fuhr davon. Peter aber blieb schlafend liegen.

Im Heidenport in der Provence gingen die Schiffer vor Anker und luden ihre Fracht aus. Die vierzehn Fässer übergaben sie dem Spital St. Peters; besser, dachten sie, könnten sie nicht verwendet werden. Der Kapitän ging zu der Vorsteherin, der schönen Magelone, und sagte ihr, der Herr der Fässer sei verlorengegangen; er übergebe sein Gut dem Hospital; sie möge für seine Seele beten.

Nun fehlte es eines Tages im Spital an Salz, und Magelone öffnete eines der Fässer. Da entdeckte sie in der Mitte des Fasses einen großen Schatz, worüber sie heftig erschrak. Sie ließ die andern Fässer aufbrechen und fand überall das gleiche. Da bemerkte sie zu sich selbst: »Ach, du armer Mensch, wer bist du gewesen? Gott der Allmächtige erbarme sich deiner Seele!«

So war die Pilgerin in den Besitz eines wertvollen Schatzes gekommen. Sie ließ sogleich Maurer und andere Werkleute berufen, um die Kirche und das Hospital größer zu bauen. Das Volk, das zur Einweihung herbeiströmte, wunderte sich über die Zubauten und konnte sich nicht erklären, wer das Geld dazu hergab.

 

Peter hatte auf der grünen Insel eine gute Weile geschlafen; als er erwachte, war es Nacht. Erschrocken eilte er zum Meer, wo er das Schiff verlassen hatte. Anfangs glaubte er nur, es wegen der 69 Dunkelheit nicht zu erkennen, und fing daher laut zu rufen an; aber kein Mensch antwortete ihm. Da warf er sich verzweifelt auf die Erde, und der Jammer wollte ihn fast übermannen. Unter seinen Klagen wurde es Tag und wieder Nacht. Er lief hin und her und spähte auf allen Seiten nach dem Meer hinaus, ob er nicht irgendwo ein Schiff erkennen könnte; aber seine Mühe war vergebens. Endlich sank er vor Müdigkeit und Hunger ermattet zu Boden.

Da fügte es sich, daß ein kleiner Fischerkahn an der Insel anlegte, um frisches Wasser einzuholen. Einige Fischer betraten die Insel und fanden Peter ausgestreckt auf der Erde liegen. Sie hatten großes Mitleid mit ihm und brachten ihn mit vieler Mühe wieder zu sich. Dann trugen sie ihn in das Schifflein und fuhren nach einer Stadt mit Namen Cragona. Dort übergaben sie den Kranken dem Spital zur Pflege.

Peter blieb hier mehrere Monate. Als er wieder soweit hergestellt war, daß er mühsam auf und ab gehen konnte, erblickte er eines Tages ein Schiff im Hafen, und als er näher trat, hörte er die Matrosen die Sprache seines Vaterlandes reden. Peter zitterte vor Freude bei diesen Lauten. Er fragte sie, wann sie wieder nach Frankreich fahren wollten. »Spätestens in zwei Tagen«, erwiderten sie. Da ging Peter zu dem Kapitän und bat ihn, er solle ihn doch mitnehmen; denn er sei aus diesem Land und lange Zeit hier in der Fremde krank gelegen. Der Schiffer erklärte sich bereit, ihm, weil er sein Landsmann sei, diesen Dienst zu erweisen, nur müßte er mit ihm fahren, wohin er steuere, nach Aiguesmortes in den Heidenport.

Peter war damit zufrieden und begab sich auf das Schiff. Unterwegs sprachen die Matrosen einmal auch von der schönen Kirche St. Peters, von Magelone und ihrem Spital. Als Peter diesen Namen hörte, fuhr er wie aus dem Traum auf und fragte verwundert, wo in der Welt eine Kirche wäre, die diesen Namen hätte. Da erklärten ihm die Schiffer: »In dem Heidenport, wohin wir fahren, da liegt auf einer Insel eine schöne Kirche und ein Spital; die führen diesen Namen, und Gott tut dort viele Wunder an den Kranken.«

Da gelobte Peter, in dem Spital, das denselben Namen trage wie seine Geliebte, einen ganzen Monat zu bleiben, ehe er sich Vater und Mutter zu erkennen gäbe. Er hoffte auch, vielleicht etwas von seiner schönen Magelone zu hören, obgleich er glaubte, sie sei schon lange tot.

Sobald Peter sich auf dem Land befand, eilte er in die Kirche und 70 dankte Gott, daß er ihm sicher in die Heimat geholfen. Dann begab er sich in das Spital. Als nun die Pilgerin nach ihrer Gewohnheit umherging, die Kranken zu besuchen, sah sie auch den neuen Ankömmling, nahm sich seiner an und versprach, ihm alles zu geben, was er bedürfe, damit er recht bald wieder gesund werde. Aber Magelone hatte ihn nicht genauer angesehen als all die anderen Kranken und ihn nicht wiedererkannt. Auch Peter vermochte sie in ihrer Pilgertracht und Verschleierung nicht zu erkennen.

Nun ruhte Peter geraume Zeit im Spital aus, so daß er bald wieder zu Kräften kam. Einmal dachte er sehnsüchtig an seine schöne Geliebte und seufzte im Verlangen nach ihr laut auf, als eben Magelone nach ihrer Gewohnheit von einem Kranken zum andern ging. Sie hörte sein lautes Seufzen, und weil sie meinte, er habe ein Anliegen, trat sie an sein Bett und fragte ihn: »Lieber Mann, was fehlt Euch? Sagt mir, wenn Ihr einen Wunsch habt; er soll Euch erfüllt werden.« Peter erwiderte dankend: »Es fehlt mir gar nichts; mir geht es nur wie so vielen andern: wenn sie an ihr Unglück denken, wird ihnen schwer ums Herz, und sie seufzen.« Als die Pilgerin ihn von Unglück reden hörte, sprach sie ihm freundlich zu, ihr seinen Kummer anzuvertrauen. Ihre Worte waren so gütig, daß Peter sein Anliegen nicht länger verbergen konnte, sondern seine Lebensgeschichte bis zum heutigen Tag erzählte.

Die schöne Magelone merkte bald, mit wem sie sprach; ja, sie erkannte ihn nicht nur an seinen Worten, sondern an allen seinen Gebärden, und Tränen quollen ihr aus den Augen. Doch verbarg sie dies, faßte sich und sprach aufs freundlichste zu ihm: »Lieber, guter Freund, tröstet Euch, wendet Euch zu Gott, er wird Euch sicher helfen. Gewiß, Ihr werdet Eure Braut, die Ihr so treu und herzlich geliebt habt, wiederfinden.«

Als Peter diese Trostworte hörte, stand er vom Lager auf und dankte. Sie aber floh aus der Stube in die Kirche, neigte sich vor dem Altar und weinte vor Freude. Als sie ihr stilles Gebet vollendet hatte, ließ sie sich königliche Kleider anfertigen; dann befahl sie, ihr Frauengemach aufs herrlichste auszuschmücken.

Als dies alles geschehen war, ging sie zu Peter und forderte ihn auf: »Lieber Freund, kommt mit mir! Ich habe Euch ein Bad bestellt, das wird Euch wohltun; denn ich habe die Zuversicht, Gott werde Euch erhören und frisch und gesund machen.« Inzwischen ging Magelone 71 in ihr Gemach und kleidete sich festlich an. Vor das Gesicht aber zog sie wieder den Schleier, damit er sie nicht sogleich erkenne. Unter dem Schleier aber hatte sie ihr goldgelbes langes Haar schön in Locken gelegt. So ging sie zu Peter und sprach: »Edler Ritter, seid fröhlich! Eure Freundin steht vor Euch, Eure treue Magelone, um die Ihr soviel gelitten habt! Aber ich habe nicht weniger gelitten um Euch. Ich bin diejenige, die Ihr allein im wilden Wald schlafend zurückgelassen habt. Ich bin es, die Euch diese goldene Kette um den Hals gehängt und der Ihr drei kostbare Ringe geschenkt habt. Nun seht, ob ich es bin oder nicht, nach der Ihr so von Herzen begehrt!«

Und ehe sich Peter besinnen konnte, warf sie den Schleier zurück; da fiel ihr schönes Haar herab wie wallendes Gold. Als Peter von Provence die schöne Magelone ohne Schleier sah, erkannte er, daß das vornehme Fräulein seine Braut war, nach der er so lange gesucht hatte. Er fiel ihr um den Hals und küßte sie, und beide konnten lange kein Wort hervorbringen. Dann aber erzählten sie einander ihr Unglück.

Vier Tage fehlten noch, und Peters Gelübde, einen Monat in St. Peters Spital bleiben zu wollen, war erfüllt. Als der letzte Tag gekommen war, begab sich die schöne Magelone zu dem Grafen und der Gräfin von Provence. Diese empfingen ihre liebe Pilgerin freundlich und erwiesen ihr große Ehre. Da sprach Magelone: »Gnädiger Herr, gnädige Frau, ich bin zu euch gekommen, um euch zu erzählen, was ich in der vergangenen Nacht geschaut habe. Mir ist ein Engel vom Himmel erschienen, der führte einen schönen jungen Ritter an seiner Hand und sagte zu mir: ›Siehe hier denjenigen, um den dein Herr und deine Frau sowie du selbst Gott so lange gebeten haben.‹ Ich habe euch das nicht verschweigen wollen; denn ich weiß, wie sehr ihr um euren geliebten Sohn bangt. Ihr werdet ihn sicherlich bald frisch und gesund wiedersehen! Darum bitte ich euch, laßt die schwarzen Trauertücher wegnehmen und hängt Freudenfahnen aus!« Dann bat sie den Grafen und seine Gemahlin freundlich, am nächsten Sonntag bei ihr in St. Peters Kirche zu erscheinen; denn sie vertraue auf Gott, daß sie eine große Freude erleben würden. Beide versprachen, pünktlichst zu erscheinen.

Peter wartete indessen sehnsüchtig auf Magelone. Als sie zurückkam, erzählte sie, wie sie die Sache veranstaltet habe, und versprach ihm den baldigen Besuch seiner Eltern. Und wirklich, als der Sonntag kam, brach das gräfliche Paar mit seinem Gefolge auf und zog nach 72 St. Peter zu Magelone. Hier sprach die Pilgerin zu ihnen: »Wenn ihr euren Sohn sehen solltet, würdet ihr ihn erkennen?« – »Ja!« riefen beide. Da trat plötzlich Peter in die Kammer und kniete vor Vater und Mutter nieder. Sie erkannten ihn sogleich und fielen ihm unter Freudenrufen um den Hals. Und unbegreiflich schnell verbreitete sich das Gerücht, des Grafen Sohn sei wiedergekommen. Jedermann war fröhlich, und Peter konnte seinen Eltern nicht genug berichten.

Inzwischen war die schöne Magelone in ihr Gemach gegangen und hatte sich aufs kostbarste geschmückt. So königlich angetan, kehrte sie wieder zurück. Der Graf und die Gräfin wunderten sich, woher die wunderschöne Jungfrau käme, die sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hätten. Aber Peter ging auf sie zu, grüßte sie wie eine Altbekannte und küßte die Jungfrau vor den Augen seiner Eltern. Dann nahm sie Peter bei der Hand und erklärte: »Liebe Eltern, um dieser Jungfrau willen bin ich von euch gezogen, sie ist eine Tochter des Königs von Neapel.« Da gingen der Graf und die Gräfin auf die schöne Magelone zu, umarmten sie zärtlich und waren voll Freude.

Zu Roß und zu Fuß kam auf das Gerücht von Peters Heimkehr alles aus dem ganzen Land herbei. Der Adel turnierte, die andern tanzten, und alle waren fröhlich. Als die Eltern den Leidensweg seiner Liebe vernommen hatten, verkündete der Graf: »Sohn, ich will, daß du die Jungfrau, die um deinetwillen so viel gelitten hat, zur Frau nimmst.«

»Ach, lieber Vater!«, fiel Peter ein, »das war auch mein Wille, schon als ich sie aus dem Haus ihres Vaters führte.« Und der Bischof vollzog die Trauung.

Vierzehn Tage dauerten Hochzeit und Fröhlichkeit, dann verloren sich die Gäste. Der Graf und die Gräfin lebten noch viele Jahre in Frieden und Glück mit dem jungen Paar. Einmal aber machte Peter mit seiner Frau eine weite Reise zu dem Sultan nach dem fernen Orient. Der schalt ihn freundlich, verzieh ihm aber und ließ ihn mit reichen Geschenken heimziehen.

Peter und Magelone führten ein langes, glückliches Leben. Sie hatten einen gesunden Sohn, der wurde König von Neapel und Graf von Provence.

Die beiden liegen jetzt in St. Peter auf der Insel begraben, und die Kirche und das Spital, die Magelone einstens gegründet, schauen noch heute vom Heidenport weit in das offene Meer hinaus.


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