Gustav Schwab
Erzählungen aus den alten Volksbüchern
Gustav Schwab

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Genoveva

Damals, als König Martellus in Frankreich regierte, lebte im trierischen Land ein vornehmer Graf namens Siegfried, der mit Genoveva, der Tochter des Herzogs von Brabant, vermählt war. Das junge Ehepaar lebte in Liebe und Glück mitsammen. Als die Mauren mit großer Heeresmacht Spanien verwüstet hatten und auch in Frankreich einzufallen drohten, befahl der Frankenkönig allen ihm untergebenen Fürsten und Grafen, ihm gegen die Feinde Hilfe zu leisten. Weil aber das Gebiet von Trier damals zu Frankreich gehörte, mußte auch Graf Siegfried mit zu Felde ziehen.

Als er von seiner Gemahlin Abschied nehmen wollte, wurde die Gräfin von solchem Leid überfallen, daß sie ohnmächtig niedersank. Der Graf suchte sie zu trösten und befahl sie dem Schutz der Gottesmutter. »Auch hinterlasse ich Euch«, fügte er hinzu, »meinen treuen Diener Golo; der wird Euch auf das eifrigste dienen und für alle Eure Bedürfnisse sorgen.« Genoveva konnte vor Tränen kein Wort reden, sondern sank in die Arme ihrer Dienerinnen. Da wandte sich Graf Siegfried ohne weitern Abschied ab und ritt mit düsterer Miene fort.

Der Krieg zog sich in die Länge, so daß sich die Rückkehr des Grafen um ein ganzes Jahr verschob. Die Gräfin wurde über dieses lange Ausbleiben immer trauriger und fand ihren einzigen Trost im Gebet. Sie führte ein frommes, tugendhaftes Leben und hielt auch alle ihre Diener zur Frömmigkeit an.

Aber dem Satan war das gottgefällige Leben der frommen Gräfin ein Dorn im Auge, und er bewog den Hofmeister Golo, der tugendhaften Frau in unziemlicher Weise nachzustellen. Sobald die fromme Frau dies bemerkte, sprach sie zornig zu ihm: »Schämst du dich nicht, leichtfertiger Diener? Ist dies die Treue, die du deinem Herrn versprochen hast, ist das der Dank, den du ihm für seine Güte erweisest? Wage nicht mehr, mich zu belästigen!«

Der schurkische Golo erschrak und wagte lange Zeit kein Wort mehr zu sagen. Die fromme Genoveva aber glaubte, seine bösen Gedanken seien verschwunden, und fing wieder an, freundlicher mit ihm zu sein. Da beleidigte er die Gräfin aufs neue durch ungebührliche Worte. Doch sie verwies es ihm so streng, daß er beschämt davonging. Aber dieser Verweis vermochte ihn nicht zur Vernunft zu bringen, und als die Gräfin einst nach dem Abendmahl allein im Schloßgarten spazieren ging, trat er zu ihr und schmeichelte ihr mit den süßesten Worten.

Entrüstet schwor die Gräfin, wenn dies noch einmal vorkomme, werde sie es ihrem Herrn und Gemahl berichten. Da verkehrte sich Golos Liebe in grimmigen Haß, und er dachte nur daran, wie er sich an der Gräfin rächen könnte. Er belauerte all ihr Tun und Lassen, und endlich entdeckte er, daß sie eine besondere Zuneigung für einen ihrer Köche zeigte, mit Namen Drago, weil dieser ein gottesfürchtiger Mann war. Sooft sie an ihm vorüberging, redete sie ihn an, und wo sie ihm einen Gefallen tun konnte, tat sie es gern. Der verworfene Golo aber fand in diesem gütigen Wohlwollen Genovevas die rechte Gelegenheit, seine Gebieterin zu verklagen, und wußte die Gräfin bei ihren Dienern so zu verdächtigen, daß er schließlich einige auf seine Seite brachte.

»Ich bin gewiß«, erklärte er, »der elende Koch hat unsere Herrin verzaubert und ihr einen Liebestrank unter die Speisen gemischt. Darum ist es ratsam, den Koch ins Gefängnis zu werfen, der Gräfin aber den Zugang zu den Menschen zu versperren.«

Hierauf ließ Golo den Koch rufen, fuhr ihn mit rauhen Worten an und warf ihm vor, daß er die Gräfin verzaubert habe, darum verdiene er, in Eisen geschmiedet und in den tiefsten Turm geworfen zu werden. Vergebens beteuerte der erschrockene Drago seine Unschuld und nahm Himmel und Erde zu Zeugen, daß ihm niemals in den Sinn gekommen, sich so an seinem Herrn, dem Grafen, zu versündigen. Nichts half – er wurde in den Kerker geworfen.

Mit dieser Grausamkeit war der ruchlose Golo noch nicht zufrieden, sondern er stürmte mit einigen seiner Helfershelfer in das Zimmer der Gräfin und brüllte sie an, daß er ihrer verdächtigen Zuneigung zu dem Koch Drago nun lang genug zugesehen habe und dieses Ärgernis nicht länger dulden könne. Darum solle auch sie ins Gefängnis geworfen und vor einer weiteren Verfügung des Grafen nicht daraus entlassen werden.

So wurde die hohe Gräfin, die bald einem Kind das Leben schenken sollte, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, von ihrem eigenen Diener, der ihr zum Schutz beigegeben war, gefangengenommen und in einen dunklen Turm geworfen.

Genoveva erzählte den einsamen Kerkerwänden ihre Unschuld, und die Engel trugen ihre Klage vor Gottes Thron. Niemand besuchte sie in dem finsteren Turm als die Amme des bösen Hofmeisters, die der gefangenen Gräfin die armselige Nahrung brachte. Auf einmal erschien auch Golo selbst wieder und wandte alle Mittel an, um die schöne Frau für sich zu gewinnen. Sie aber rief: »Du elender Bösewicht, ist es dir nicht genug, daß du mich Unschuldige in den Kerker geworfen hast, willst du mich auch noch um meine Ehre und meine Seligkeit bringen? Doch sei versichert, daß ich bereit bin, lieber tausendmal zu sterben, als das Geringste wider meine Ehre zu begehen!«

Darauf bestach Golo die Amme, indem er ihr reichen Lohn versprach, wenn sie ihm helfe, die Neigung der Gräfin zu gewinnen. Sooft nun das Weib der Gefangenen Speise brachte, setzte sie ihr zu, sie solle dem Hofmeister doch wenigstens freundliche Worte geben, damit sie aus dem Gefängnis käme. Aber die standhafte Frau war entschlossen, lieber im Kerker Hungers zu sterben, als gegen ihr Gewissen zu handeln.

Als die Stunde der Geburt kam, war Genoveva ganz verlassen und mußte ihr Kind allein zur Welt bringen.

Nun bat sie inständig, daß man das arme Kind zur Taufe tragen möchte. Weil ihr aber auch das verweigert wurde, taufte sie es selbst und gab ihm den Namen »Schmerzenreich«. Darnach nahm sie es auf ihre Arme, drückte es an ihr Herz und sprach voll Tränen: »Ach, mein armes Kind, mein einziger Schatz! Mit Recht nenne ich dich Schmerzenreich; denn mit Schmerzen habe ich dich unter dem Herzen getragen und mit Schmerzen geboren. Aber mit noch größeren Schmerzen werde ich dich erziehen, mit unsäglichem Schmerz werde ich dich verhungern sehen; denn aus Mangel an Nahrung werde ich dich nicht stillen können. Armer Schmerzenreich, du unglückseliges Kind!«

Die Rückkehr des Grafen verzögerte sich noch länger, weil er vor Agion verletzt wurde. Golo aber schickte zwei Monate nach Genovevas Niederkunft einen Diener ab, der dem Grafen alles, was sich ereignet hatte, überbringen sollte. In dem Brief stand zu lesen:

»Mein allergnädigster Herr und Gebieter! Wenn ich nicht von Herzen fürchtete, Euch zu betrüben, so wollte ich Euer Gnaden eine Sache, die ich mit allem Eifer zu verheimlichen trachte, in diesem Brief offenbaren. Belieben Euer Gnaden von dem Boten, den ich sende, ausführlichen Bericht anzunehmen, seinen Erzählungen vollen Glauben zu schenken und mich durch denselben Diener Eure Befehle wissen zu lassen, wie ich mich in dieser schweren Sache weiter verhalten soll.«

Über die Mitteilung des Boten war der Graf so entrüstet, daß seine Wunden noch weniger heilten. Der Diener erzählte ihm ausführlich, was für verdächtige Gemeinschaft die Gräfin mit dem Koch die ganze Zeit über gehabt habe. Weil sie nun beide nicht voneinander hätten lassen wollen, habe sich der Hofmeister genötigt gesehen, sie voneinander zu trennen und in zwei getrennte Gefängnisse sperren zu lassen. Hier im Kerker habe die Gräfin einen Sohn geboren. Da fing der Graf zu rasen an, als ob er wahnsinnig wäre, und lästerte die Gräfin samt dem Koch Drago auf die schändlichste Weise. »Du elendes Weib«, rief er, »so schmählich hast du mich betrogen und stellst dich, als ob du eine Heilige wärst!« Mit solchen Worten machte sich sein Zorn Luft. Nachdem er sich lang besonnen, wie er das Verbrechen bestrafen solle, schickte er den Diener mit dem ausdrücklichen Befehl zurück, Golo solle die Gräfin einschließen, daß niemand mit ihr reden noch zu ihr kommen könne; den Koch aber solle er hinrichten lassen, wie er es für seine Missetat verdient habe.

Mit diesem ungerechten Urteil eilte der Bote nach Hause. Golo aber wußte ihm großen Dank, daß er seinen Auftrag so gut ausgerichtet habe. Damit die Hinrichtung Dragos kein Aufsehen verursache, ließ er dem armen, unschuldigen Koch Gift in seine Speise mengen und ihn, als er jämmerlich daran gestorben, in einer abgelegenen Grube verscharren.

Die Haft der armen Gräfin aber brauchte nicht verschärft zu werden, weil von Anfang an nur Golo und die falsche Amme Zutritt zu ihr hatten. Und doch war der Bösewicht mit dieser grausamen Behandlung noch nicht zufrieden; denn er fürchtete immer, seine List und Tücke könnten durch Genoveva an den Tag kommen. Dazu lief die Nachricht ein, daß Graf Siegfried bereits auf der Rückreise begriffen sei. Den schurkischen Golo überlief kalter Schweiß; er mußte sich besinnen, was in dieser erheuchelten Lage anzufangen sei. Deswegen setzte er sich eilends zu Pferd und ritt seinem Herrn entgegen; in Straßburg traf er mit ihm zusammen.

In dieser herrlichen Stadt wohnte eine alte Frau, die Golo seit vielen Jahren kannte. Zu ihr begab sich der Bösewicht, ehe er zu seinem Herrn ging, berichtete ihr genau den Hergang und verlangte, sie solle den Grafen davon überzeugen, die Gräfin habe sich wirklich vergangen. Dafür überreichte er ihr eine reiche Belohnung. Dann begab er sich zu des Grafen Quartier und erzählte, was seine Bosheit der Gräfin angedichtet hatte, und all das mit so wohlüberlegten Beweisen, daß der Graf allmählich glauben mußte, es habe sich wirklich so zugetragen. Golo unterließ auch nicht, hinzuzufügen, er habe den Koch ohne öffentlichen Prozeß hinrichten lassen, damit die Schande der Gräfin nicht ruchbar werde.

Als nun der falsche Anzeiger plötzlich bemerkte, daß seinem Herrn doch Zweifel aufstiegen, fügte er hinzu: »Gnädiger Herr, solltet Ihr etwa gegen meine Worte Mißtrauen hegen, so will ich Euch zu einer ehrwürdigen Frau führen, die wegen ihrer Gabe, verborgene Dinge zu offenbaren, berühmt ist.«

Der Graf ließ sich den Vorschlag gefallen und ging mit seinem Hofmeister zu der Wahrsagerin. Diese bat er, ihm vermöge ihrer Einsicht in die verborgenen Dinge zu erzählen, was vorgefallen sei.

Die Frau erwiderte mit erheuchelter Demut, sie selbst sei zwar keine Heilige; was ihr jedoch Gott offenbaren würde, wolle sie ihm gern berichten. Dann führte sie die beiden Männer in einen dunklen Keller, in dem ein grünes Licht brannte. Hier beschrieb die Alte mit einem Stab zwei Kreise auf dem Boden und stellte den Grafen in deren Mitte. Hierauf warf sie einen Spiegel in ein Geschirr voll Wasser und murmelte allerlei seltsame Worte. Auf ihr Geheiß blickte der Graf dann in das Wasser. Da glaubte er in dem Spiegel die Gestalten seiner Gemahlin und des Kochs Drago zu erkennen.

Zornentbrannt rief er seinem Hofmeister zu: »Golo, reite voran und laß das falsche Weib samt ihrem Kind eines schimpflichen Todes sterben! Ich will sie nicht mehr am Leben treffen, sobald ich ankomme!«

Wer war froher als der rachgierige Golo, als er diesen Befehl vernahm! Er stürmte auf seinem Roß nach Hause, besprach sich schnell mit der Amme und teilte ihr im Vertrauen das Bluturteil mit. Doch sollte sie keinen Menschen etwas davon wissen lassen, damit unter den Freunden der Gräfin und im Schloß kein Aufruhr entstünde.

Als Golo dies der Amme anvertraute, war niemand in der Stube als die kleine Enkelin dieser Frau, vor der sich beide wenig scheuten. Das kluge Mägdelein aber schlich sich sogleich nach dem Kerker, stellte sich vor das kleine Fenster, durch das der Gräfin Brot und Wasser hineingereicht wurde, und weinte so bitterlich, daß Genoveva es hörte und erschrocken an das Fenster trat. Sie fragte das Mädchen freundlich, warum es weine. Da antwortete das Kind: »Gnädige Frau, Golo hat von unserm Herrn den Befehl, Euch hinzurichten.« Die Gräfin dachte nicht an sich, sondern nur an ihren Säugling. »Und wie wird es meinem Kind gehen?« stammelte die besorgte Mutter. »Nicht besser als Euch!« erwiderte das Mädchen schluchzend.

Darüber erschrak die arme Gräfin so, daß sie kurz in Ohnmacht sank. Als sie wieder zu sich kam, bat sie das Mägdlein: »Mein liebes Kind, geh doch schnell in mein Zimmer und bringe mir Papier, Feder und Tinte! Für deine Mühe nimm dir von meinen Kleinodien, soviel du willst.«

Das Mädchen brachte das Verlangte, und nun schrieb Genoveva mit zitternder Hand:

Gnädiger Herr, geliebter Gemahl!

Da ich höre, daß ich auf Euren Befehl sterben soll, will ich mit diesen Zeilen noch freundlichen Abschied nehmen. Ich will gern sterben, wenn Ihr es befehlt, obgleich es mich bitter kränkt, daß Ihr mich, die Unschuldige, zum Tode verurteilt habt. Ich bezeuge vor Gott, vor dessen strengem Gericht ich morgen schon stehen werde, daß ich Euch mein Leben lang die Treue bewahrt habe. Mein Trost bleibt, daß dereinst der Tag kommen wird, an dem meine Unschuld und meiner Ankläger Lüge offenbar wird. Lebt wohl, gnädiger Herr! Ich verzeihe Euch von Herzen. Dies schreibe ich mit zitternden Händen und tränendem Auge; denn in meinem Herzen wohnt der Tod, der mich mit Schrecken erfüllt.

Eure bis in den Tod getreue und um der Treue willen zum Tode verdammte

Genoveva

Dieses Briefchen ließ sie von dem Mädchen heimlich in das Zimmer des Grafen legen und trug ihm auf, keinem Menschen ein Wort zu sagen. Die folgende Nacht verbrachte Genoveva im Gebet und befahl Gott ihre Seele.

Am andern Morgen berief Golo zwei von seinen treuesten Dienern und befahl ihnen, die Gräfin samt dem Kind in einen Wald hinauszuführen, sie dort zu töten und zum Zeichen des vollbrachten Befehls ihre erblichenen Augen mitzubringen. Die Diener führten Gräfin Genoveva in aller Stille mit sich fort. Sie aber folgte ihnen wie ein unschuldiges Lamm, dabei trug sie ihr kleines Söhnlein auf den Armen. Sanft drückte sie es an ihr Herz und flüsterte ihm zu: »Ach, mein liebstes Engelein, dürfte ich dich nur noch lange auf meinen Armen tragen! Nun aber mußt du sterben, obwohl du niemals eine Schuld begangen hast!« Die Diener hörten diese leisen Worte und hatten Mitleid mit beiden, so daß es ihnen schwer fiel, den Befehl ihres Herrn zu vollstrecken.

Nachdem sie einen geeigneten Ort im Wald erreicht hatten, teilten sie der Gräfin mit, sie hätten den Auftrag von Golo erhalten, beide hinzurichten; sie möge sich auf den Tod vorbereiten. Genoveva kniete demütig nieder und verrichtete ein Gebet. Inzwischen ergriffen die Diener das unschuldige Kind, zogen ihr Messer hervor und wollten dem Befehl nachkommen. Als die erschrockene Mutter dies sah, sprang sie auf, fiel den Dienern in die Arme und stammelte: »Haltet ein, haltet ein, liebe Leute, schont doch das unschuldige Blut, und wenn ihr das arme Kind töten wollt, so tötet mich vorher, damit ich nicht zweimal sterben muß!«

Die Diener wollten diese Bitte erfüllen und befahlen ihr, den Hals zum Todesstreich zu entblößen. Genoveva schauerte bei diesen Worten zusammen und sprach mit Tränen in den Augen: »Ich bin bereit zu sterben, aber glaubt mir, gute Männer, daß ihr euch schwer an mir versündigt; denn ich schwöre, daß ich unschuldig bin. Wenn ihr mich schont, so wird es Gott euch und euren Kindern vergelten; tötet ihr mich aber, so wird mein unschuldiges Blut über euch und eure Kinder kommen.«

Diese Worte rührten die Diener so sehr, daß sie es nicht über sich brachten, der Gräfin ein Leid anzutun. Sie erwiderten deshalb beide:

»Gnädige Frau, wenn Ihr uns versprechen wollt, niemals unter die Menschen zu gehen, sondern Euch in der Wildnis verborgen zu halten, so mögt Ihr in Gottes Namen gehen und Euer Leben behalten.«

Die Gräfin stand freudig auf, versprach den Dienern, was sie verlangten, und dankte ihnen von Herzen für die erwiesene Barmherzigkeit.

Die Diener stachen nun einem Windhund, der mit ihnen gelaufen war, die Augen aus und überbrachten sie ihrem Herrn als Beweis ihrer schändlichen Mordtat. Golo graute jedoch, die Augen der Frau zu sehen; er befahl daher abgewendet, sie sollten die Augen den Hunden vorwerfen.

Verlassen von allen Menschen, irrte Genoveva in dem wilden Wald umher und fand nirgends einen Ort, wo sie sich, vor einem Unwetter geschützt, aufhalten könnte, vielmehr mußte sie mit ihrem Kind unter einem Baum schlaflos und fröstelnd die kalte Nacht verbringen. Als der Morgen anbrach, stand sie auf und ging abermals den ganzen Tag im Wald umher, um eine geeignete Höhle zu finden. Aber es war wieder vergebens. Da sie zwei Tage nicht gegessen und getrunken hatte, war ihr Hunger und Durst so groß, daß sie rohe Wurzeln zu essen begann. Die zweite Nacht brachte sie wieder ohne Schlummer und voll Angst unter einem Baum zu. Endlich am dritten Tag fand sie tief in der Wildnis im Felsgestein eine Höhle und nahe dabei eine Quelle.

Diese Höhle richtete sie sich als Behausung ein. Sie machte sich ein Lager aus Baumzweigen und Laub und suchte sich von Tag zu Tag frische Wurzeln zur Nahrung. Weil sie aber ein so kümmerliches Leben führen mußte, ging ihr bald die Muttermilch aus, und ihr geliebtes Kind hatte keine Nahrung mehr. Das klägliche Wimmern des armen Geschöpfes ging der Mutter so zu Herzen, daß sie vor Leid zu sterben vermeinte. Sie legte das Kind verzweifelnd unter einen Baum und ging so weit weg, daß sie es nicht hören und sehen konnte. Dann kniete sie mit aufgehobenen Händen nieder und flehte den Himmel um Mitleid und Hilfe an. Kaum hatte die weinende Mutter ihr inbrünstiges Gebet beendet, da lief eine Hirschkuh auf sie zu, die sich wie ein zahmes Tier benahm und freundlich um sie herumstrich, als wollte sie sagen: »Siehe, mich hat Gott gesendet, dein Kind zu ernähren.« Froh eilte Genoveva zu ihrem Kind zurück, die Hirschkuh aber lief ihr nach und ließ das Kindlein so lange saugen, bis es satt war. Die Hirschkuh kam täglich zweimal, das Kind zu säugen. Dies war die einzige Nahrung, die das schuldlose Kind sieben Jahre lang von den Tieren empfing, während seine Mutter von Wurzeln und Kräutern leben mußte.

Im Sommer war zwar ihr Elend noch erträglich, im Winter aber quälte beide die Kälte. Nahrung war kaum aufzutreiben; wenn Genoveva trinken wollte, mußte sie das Eis so lang im Munde halten, bis es schmolz; wenn sie Wurzeln suchte, mußte sie den tiefen Schnee wegräumen und mühselig mit einem Holz in die gefrorene Erde graben; wollte sie sich erwärmen, so mußte sie die eiskalten Hände so lange zusammenschlagen und reiben, bis das erstarrte Blut wieder lebhafter kreiste. Und die langen Winternächte, die kein Ende nehmen wollten, mußte sie mit ihrem kleinen Knaben in der schwarzen Höhle verbringen. Doch waren alle Schmerzen gering gegen den Kummer, den ihr mütterliches Herz über das Elend ihres Kindes empfand. Als sie einst betend vor ihrer Höhle kniete, sah sie staunend ein Wunder. Ein Engel flog vom Himmel herab, ein hölzern Kreuz in seinen Händen, an dem der sterbende Heiland aus Elfenbein gebildet hing. Dieses Kruzifix reichte ihr der Engel und sprach: »Nimm dieses heilige Kreuz, Genoveva, das dein Erlöser dir zum Trost vom Himmel herabsendet. Vor ihm sollst du dein Gebet verrichten. Tröste dich mit diesem Kreuz; wenn dich Ungeduld überfällt, dann erinnere dich an die Geduld dessen, der an diesem Kreuz hängt.«

Als der Engel dies gesprochen, stellte er das Kreuz vor ihr nieder und verschwand, das Kreuz aber blieb stehen. Genoveva nahm es und stellte es in der Höhle auf. Im Sommer zierte sie es mit grünen Zweigen und lieblichen Waldblümelein, im Winter umschlang sie es mit Tannenreisern und immergrünem Wacholder.

Inzwischen wuchs ihr Sohn Schmerzenreich heran und lernte gehen und reden. Genoveva unterrichtete ihn, so gut sie es in der Einsamkeit konnte, und hatte viel Freude an dem aufgeweckten Kind, das alles leicht begriff, was die Mutter ihm sagte. Nur war es jammervoll, daß das arme Kind zuletzt fast ganz nackt umherlief; denn die Lappen, worin die Mutter es von Kindheit an gehüllt hatte, waren bereits zerrissen. Schließlich kam es so weit, daß Mutter und Kind sich mit Moos und Zweigen bedecken mußten. Da erbarmte sich Gott und sandte einen Wolf, der die Haut eines zerrissenen Schafes im Rachen trug und sie dicht vor dem Kind niederwarf. Die Mutter trocknete das Fell und hing es ihrem Schmerzenreich um.

Von dieser Zeit an begannen auch die wilden Tiere zutraulich gegen die Waldbewohner zu werden. Sie kamen täglich vor die Höhle und spielten mit dem Kind. Der Wolf, der das Schaffell gebracht hatte, ließ den Knaben auf seinem Rücken reiten, und oft saß der Kleine mitten unter den Hasen und anderem Wild, das um ihn herumlief. Die Vögel flogen ihm auf die Hand und auf das Haupt und erfreuten Mutter und Kind mit ihrem lieblichen Gesang. Wenn das Kind ausging, Kräuter für die Mutter zu suchen, liefen verschiedene Tiere mit ihm und zeigten ihm, mit den Füßen scharrend, wo die besten Kräuter waren. Niemals aber sagte die Mutter dem Knaben, aus welchem Geschlecht er sei, um nicht sein Leid noch zu vermehren oder die Lust in ihm zu erwecken, in die Welt zu ziehen.

Einmal fragte Schmerzenreich: »Mutter, du befahlst mir, oft zu beten: Vater unser! Sag mir doch, wer ist denn mein Vater?« – »Liebes Kind«, entgegnete die Mutter, »dein Vater ist Gott, der droben wohnt, wo Sonne und Mond scheinen.« Das Kind erwiderte: »Kennt mich denn mein Vater auch?« – »Freilich«, antwortete die Mutter, »kennt er dich und hat dich auch herzlich lieb.«

»Wie kommt es denn«, meinte das Kind, »daß er mir nichts Gutes tut und mir in unserer Not nicht hilft?« – »Lieber Sohn«, erklärte Genoveva, »wir sind auf der Erde in einem Jammertal und müssen vieles leiden; wenn wir aber in den Himmel kommen, werden wir alle Freude haben.«

Schmerzenreich forschte nun weiter: »Liebe Mutter, hat mein Vater noch mehr Söhne?« – »Ja freilich«, gab die Mutter zur Antwort. – Er aber warf ein: »Wo sind sie denn? Ich meinte, wir beide seien allein in der Welt.« Genoveva aber belehrte ihn: »Du bist in deinem Leben noch nie aus diesem Wald hinausgekommen, aber außerhalb des Waldes gibt es noch viele Wohnungen, wo Leute leben. Manche von ihnen tun Gutes, manche Böses; und die Böses tun, kommen in die Hölle, wo sie ewige Strafe leiden.«

Der Knabe wollte noch wissen: »Mutter, warum gehen wir nicht zu jenen Leuten? Was machen wir denn in diesem Wald allein?« – »Wir tun es«, erwiderte Genoveva, »damit wir um so gewisser in den Himmel kommen.« Solche Reden führte das kluge Kind oft mit seiner Mutter und lernte manches durch seine neugierigen Fragen.

Im siebenten Jahr ihres Einsiedlerlebens wurde die fromme Gräfin tödlich krank; denn Not und Mangel hatten ihren Leib so geschwächt, daß sie nur mehr ein Schatten zu sein schien. Ein heftiges Fieber wütete in ihren Adern, kraftlos siechte sie dahin. Verzweifelt warf sich der arme Schmerzenreich über seine Mutter und klagte: »Was fange ich an, geliebte Mutter, wenn du stirbst? In dieser Wildnis bin ich ganz allein, und in der Welt kenne ich keinen Menschen.«

Die todkranke Genoveva suchte nach einem Trost für ihr Kind. Darum sagte sie ihm, was sie bisher verschwiegen hatte. »Jammere nicht über meinen Tod und deine Verlassenheit!« stöhnte sie mühsam. »Du hast neben dem himmlischen Vater auch noch einen Vater auf Erden, der nicht weit von diesem Wald in der Stadt Trier wohnt. Zu dem gehe nach meinem Tod und erkläre ihm, daß du sein Kind bist. Er wird dich leicht erkennen, denn du siehst ihm ganz ähnlich.«

Nun erzählte sie stockend dem Knaben ihr ganzes Unglück, soweit er es erfahren durfte und fassen konnte. Dann wandte Genoveva sterbensmatt ihr Haupt auf die Seite und erwartete den Tod. Da war ihr, als träten zwei glänzende Engel in die Höhle, und einer beugte sich über ihr Lager, berührte sie und sprach: »Du sollst leben, Genoveva, das ist der Wille Gottes.« Die Kranke erwachte gestärkt und mit neuer Lebenskraft. Der kleine Schmerzenreich fuhr fort, seine Mutter zu pflegen, und sah mit seliger Freude, wie sie von Stunde zu Stunde neue Kräfte gewann und endlich völlig gesund wurde.

 

Als Graf Siegfried von Straßburg wieder in seinem Schloß zu Trier angekommen war, nahm er Golos Meldung, daß er Genoveva samt ihrem Kind in einem Wald heimlich habe töten lassen, ruhig entgegen. Aber schon nach wenigen Tagen begann ihn sein Gewissen zu drücken. Er dachte, es könnte seiner Gemahlin doch Unrecht geschehen sein, und sah ein, daß er zu voreilig gehandelt habe.

In der folgenden Nacht hatte er einen schweren Traum. Ihm war, als risse ein Drache seine geliebte Gemahlin mit sich, und niemand half ihm in dieser Not. Dieser Traum vermehrte seine Angst, und er erzählte ihn am andern Morgen Golo. Der aber gab ihm sogleich eine passende Deutung. »Herr«, meinte er, »der Drache ist der Koch, der hat die Gräfin ihrem rechtmäßigen Herrn entrissen.«

Um den Grafen zu zerstreuen, veranstaltete Golo in der Folge mancherlei Feste, von denen er glaubte, daß sie seinen Herrn aufheitern könnten. Aber dieser blieb still und gedrückt, die Wunden seines Herzens wollten nicht heilen; sie wurden immer größer und schmerzhafter.

Eines Tages fand der Graf unter andern Schriften den Brief, den Genoveva im Kerker geschrieben und den das kluge Kind in sein Zimmer getragen hatte. Er las die zittrigen Zeilen in höchster Spannung und zweifelte keinen Augenblick länger an der Unschuld seiner lieben Frau. Golo aber schalt er einen falschen Verräter und Mörder, und wenn er zugegen gewesen wäre, hätte er ihn auf der Stelle durchbohrt. Aber der Schurke hatte das Schloß für einige Tage verlassen, bis sich der Zorn seines Herrn gelegt hätte. Dann kam er wieder und wußte dem Grafen so zuzureden und den Brief der Gräfin so zu verdrehen, daß Graf Siegfried seinen Worten mehr als der Nachricht glaubte und den elenden Lügner wieder in Gnaden aufnahm. Aber die innerliche Ruhe des Grafen dauerte nicht lang. Die alten Zweifel kamen bald wieder und nagten stärker denn je an seinem schuldigen Gewissen. Es war ihm immer, als raunte ihm eine Stimme in die Ohren: »Du hast dein schuldloses Weib Genoveva gemordet, du hast das unschuldige Kind töten lassen, du hast den Tod des frommen Kochs auf dem Gewissen.«

Golo merkte, daß der Gemütszustand des Grafen immer bedenklicher wurde und glaubte sich bald nicht mehr sicher. In aller Stille verließ er das Land. Einige Zeit darauf fand man an einem entlegenen Ort den verscharrten Leichnam des Kochs. Von nun an nahmen die Zweifel des Grafen über den unverschuldeten Tod Dragos zu. Nach einigen Jahren wurde die Frau, die den Grafen in Straßburg durch ihre Vorspiegelungen betrogen hatte, als schändliche Betrügerin entlarvt und vom Gericht zum Feuertod verurteilt. Vor ihrem Tod bekannte sie auch diesen Betrug und erklärte, daß sowohl die Gräfin als auch der Koch unschuldig seien. Sie bat, dem Grafen zu berichten, daß sie auf Anstiften des Hofmeisters Golo jenes schändliche Ränkestück angestellt habe.

Dies wurde dem Grafen Siegfried gemeldet, und jetzt erkannte er klar, daß er von Golo betrogen worden sei und seine arme Gemahlin mit ihrem Kind unschuldig den Tod erlitten habe. Zorn, Mitleid, Reue, Verzweiflung zerwühlten sein Herz, und sein ganzes Trachten ging fortan dahin, den Verräter Golo zu finden. Zwei Jahre war dieser vom Hof weg, und der Graf wußte nicht, wie er den Betrüger fangen sollte. Da entschloß er sich endlich zu einer List. Er schrieb dem Bösewicht die freundlichsten Briefe, in denen er seine Tätigkeit am Hof zu Trier lobte und anerkannte, und lud ihn schließlich zu einer Jagd ein, an der viele vornehme Gäste teilnehmen sollten. Nun ging der schlaue Fuchs in die Falle und kam nach Trier. Der Graf hieß ihn willkommen und freute sich wirklich sehr über seine Ankunft, da er den Bösewicht in seiner Gewalt sah.

Sieben Jahre waren verflossen, die Genoveva in der Wildnis zugebracht hatte, und von aller Welt wurde sie für tot gehalten. Nun war das Jagdfest des Grafen gekommen, und Herr Siegfried nahm unter andern Gästen auch Golo mit sich auf die Jagd. Plötzlich gewahrt der Graf eine schöne Hirschkuh. Er setzt ihr durch Hecken und Gesträuch nach und verfolgt sie so lang, bis sich das Tier in eine Höhle rettet, die sich vor den Augen des Grafen zwischen Strauch und Gestein auftut. Er wirft einen Blick hinein und erblickt neben dem Wild eine in Felle gehüllte Gestalt. Erschrocken meint er, es sei ein Gespenst, schlägt ein Kreuz und ruft entsetzt: »Wer bist du?«

Genoveva erkannte den Grafen auf den ersten Blick und flüsterte mit zitternder Stimme: »Ich bin ein unglückliches Weib. Wollt Ihr, daß ich zu Euch hinauskomme, so werft mir ein Kleid zu.«

Der Graf zog den Mantel aus und warf ihn in die Höhle. Genoveva hüllte sich nun in das Tuch und trat aus der Höhle, die Hindin an ihrer Seite. Schmerzenreich war gerade nicht zugegen, sondern hinaus in den Wald gegangen, um Kräuter und Wurzeln zu suchen.

Der Graf wunderte sich über das abgezehrte Weib, das er vor sich sah, und fragte, wer sie sei. »Mein Herr«, antwortete Genoveva, »ich bin ein armes Weib, aus Brabant gebürtig. Aus Not bin ich hierher geflohen, denn man hat mich, die ich nichts verschuldet hatte, mit meinem armen Kind töten wollen.«

Der Graf zuckte zusammen, doch drang er weiter, wie dies zugegangen. Genoveva faßte Mut und erwiderte: »Ich war mit einem edlen Herrn vermählt; auf das verleumderische Zeugnis eines bösen Hofmeisters hin sollte ich samt meinem Kind getötet werden. Die Diener aber schenkten mir aus Erbarmen das Leben, und ich versprach ihnen, für immer in diesem Wald zu bleiben. Das geschah vor sieben Jahren.«

Siegfried zitterte am ganzen Leib, denn Genovevas Bild stieg vor ihm auf; aber in dieser abgezehrten Gestalt konnte er sie nicht erkennen. Darum fuhr er fort: »Liebe Frau, ich bitte Euch um Gottes willen, sagt mir Euren Namen und den Namen Eures Gemahls.« Da seufzte sie: »Mein Gatte hieß Siegfried, ich Armselige aber nenne mich Genoveva.«

Diese wenigen Worte erschütterten den Grafen so, daß er wie vom Schlag gerührt bewußtlos vom Pferd stürzte. Als er wieder zur Besinnung kam, richtete er sein Haupt empor und rief, noch zu Boden liegend: »Genoveva, ach, Genoveva, seid Ihr es?«

Sie erwiderte: »Lieber Herr Siegfried, ich bin die arme Genoveva!«

Dem Grafen rollten die Tränen über das Gesicht, und er konnte kein Wort hervorbringen. Endlich stammelte er: »O Gott! In solchem Elend muß ich Euch antreffen! Ich elender Bösewicht bin nicht wert, daß mich die Erde trage! Bin doch ich die einzige Ursache Eures ganzen Unglücks, da ich aus falschem Argwohn den Befehl gab, Euch zu töten. Verzeiht mir, geliebte Genoveva! Ich stehe nicht früher auf, bis ich Eure Verzeihung erlangt habe!«

Mit tränenüberströmtem Gesicht stammelte die Gräfin: »Faßt Euch, mein Herr Siegfried! Ich verzeihe Euch von Herzen, denn ich habe Euch schon von Anfang verziehen!« Darauf reichte sie dem Grafen die Hand und hob ihn von der Erde auf.

Nach einigen tiefen Seufzern forschte er weiter: »Wo ist denn das arme Kind, das Ihr im Kerker geboren habt? Ist es denn nicht mehr am Leben?« – »Freilich, es ist ein großes Wunder, daß es noch lebt«, erwiderte Genoveva, »ich allein hätte es nicht ernähren können, aber Gott hat mir diese Hirschkuh geschickt, und das treue Tier hat mein Kind zweimal des Tages gesäugt!«

Sie erzählte noch, als der kleine Schmerzenreich, mit seiner Schafhaut bekleidet, barfuß dahergelaufen kam, beide Hände voll wilder Wurzeln. Als er den Grafen bei seiner Mutter stehen sah, rief er erschrocken: »Mutter, was ist das für ein wilder Mensch, der bei dir steht? Ich fürchte mich vor ihm!«

Die Mutter beruhigte ihn: »Hab keine Angst, liebes Kind, der Mann tut dir nichts!«

Als nun das Kind näher trat, nahm es die Mutter bei der Hand und sagte: »Sieh, mein Sohn, das ist dein Vater; geh hin und küsse ihm die Hand!« Das Kind gehorchte. Der Graf aber nahm den Knaben auf seine Arme, drückte ihn an sein Herz und küßte ihn zärtlich.

Als der Graf seinen Sohn genug geherzt hatte, blies er in sein Horn und rief die Jäger und Knechte zusammen. Eilig kam einer nach dem anderen, und alle wunderten sich, als sie die verwahrloste Frau bei dem Herrn und das Kind auf seinen Armen sahen. Der Graf wandte sich an die Leute: »Kennt ihr diese Frau nicht?« Als es alle verneinten, setzte er hinzu: »Kennt ihr denn meine Gemahlin Genoveva nicht mehr?« Da staunten alle. Einer nach dem andern trat näher, begrüßte sie ehrerbietig, und alle freuten sich von Herzen, daß ihre Herrin noch lebte, die alle Schloßbewohner schon sieben Jahre lang als tot beweint hatten. Zwei von ihnen ritten eilig nach Hause und kamen mit einer Sänfte und Gewändern zurück, um die Gräfin zu schmücken und heimzutragen.

Unter allen, die auf den Jagdruf des Grafen herbeikamen, war Golo der letzte, als ahnte er, daß ihm nichts Gutes bevorstehe. Der Graf hatte ihm zwei Diener entgegengeschickt mit dem Befehl, er solle sich beeilen, es sei ein seltsames Wild gefangen worden.

Als er nun herantrat, fragte Graf Siegfried: »Golo, kennst du diese Frau?« Golo schrak zusammen, doch sagte er: »Nein, ich kenne sie nicht.« Da fuhr der Graf fort: »Du ruchlosester Bösewicht, der unter der Sonne lebt, kennst du Genoveva nicht, die du verleumdet hast und unschuldig in den Tod treiben wolltest? Du Mörder, welche Qualen soll ich ersinnen, um dich gebührend zu bestrafen?« Golo warf sich zu Boden und bat um Gnade. Der ergrimmte Graf aber befahl, ihn zu binden und als den größten Übeltäter gefangen abzuführen.

Hierauf nahm Siegfried seine Gemahlin bei der Hand, ein Ritter trug den jungen Grafen nach. Muntere Vöglein flogen über Genovevas Haupt, als wollten sie zeigen, wie ungern sie die Frau und das Kind von sich ließen. Die Hirschkuh folgte der Gräfin wie ein Lämmlein nach und wollte keinen Schritt von ihr weichen. Und dann bewegte sich der Zug dem Schloß zu.

Hier war das große Wunder schon bekannt geworden; jeder wollte die Wiedergefundene sehen, Freunde und Gäste kamen scharenweise auf das Schloß. Feste begannen und dauerten die ganze Woche lang, Mahl folgte auf Mahl. Aber Genoveva konnte keine Speise genießen und den Freudenwein nicht kosten; aus Wurzeln und Kräutern mußte man ihr das Mahl bereiten, das sie allein vertragen konnte.

Als die Feste vorüber waren, wurde über Golo Gericht gehalten. Der Graf ließ ihn aus seinem Gefängnis holen und sämtlichen Gästen vorführen. Alle forderten den grausamsten Tod des teuflischen Bösewichts. Da warf sich dieser Genoveva zu Füßen und flehte um Gnade. Und die edle Frau bat ihren Gemahl inständig, dem armen Sünder zu verzeihen. Der Graf hätte ihr zwar diese Bitte bewilligt, aber alle andern wollten von Gnade nichts wissen. So wurde der Verbrecher abgeführt und erlitt, was er verschuldet hatte. Auch die übrigen, die es mit Golo gehalten, wurden mit dem Schwert gerichtet. Alle dagegen, die der Gräfin treu geblieben waren oder ihr einen Dienst erwiesen hatten, wurden reich belohnt, darunter auch das Mägdlein, das der Gräfin Feder und Tinte in das Gefängnis gebracht, sowie die Diener, die ihr das Leben geschenkt hatten.

Drei Monate hatte Genoveva mit ihrem Gemahl verlebt, da sah sie eines Tages eine herrliche Erscheinung. Inmitten einer Schar heiliger Frauen nahte sich ihr die Mutter Gottes. Jede von den Frauen reichte der Gräfin eine himmlische Blume, die Himmelskönigin aber hielt eine mit köstlichen Edelsteinen besetzte Krone in der Hand und sprach: »Geliebte Tochter, empfange diese Krone! Du hast sie erworben durch die Dornenkrone, die du in der Wildnis getragen hast. Nun wird die Ewigkeit deiner Freuden beginnen!« Mit diesen Worten setzte sie ihr die Krone auf das Haupt und fuhr mit ihrer Begleitung wieder zum Himmel.

Bald darauf überfiel die fromme Gräfin ein Fieber, das sie aufs Krankenbett warf. Und gegen diese Krankheit fruchtete kein Mittel, so daß Siegfried und sein Sohn Schmerzenreich bald in tiefes Leid versanken.

Die Gräfin ließ alle Schloßbewohner zu sich rufen, gab allen ihren Segen und tröstete ihren geliebten Schmerzenreich, den sie ungern allein zurückließ. Endlich entfloh ihr frommer Geist dem schwachen Leib und ging ein in das ewige Leben.

Siegfried und sein Sohn verharrten in stummer Trauer, alle Diener und Frauen im Schloß jammerten. Die Hirschkuh, die der Gräfin aus der Wildnis in das Schloß gefolgt war, ging mit gesenktem Haupt hinter dem Leichenzug her und klagte so laut, daß es die Menschen erbarmte. Nach dem Begräbnis legte sich die Hirschkuh auf das Grab und wich nicht mehr, bis sie verendete.

Mit Genoveva war dem Grafen alle Lust und Freude genommen. Oft ritt er zu der Höhle hinaus, in der Genoveva gelebt hatte. Wenn er dann vor dem Kruzifix auf den Knien lag, sprach er zu sich selbst: »Dies ist die Höhle, in der sich so viele Seufzer dem Mund meiner unschuldigen Gemahlin entrangen; hier hat sie fremde Sünden abgebüßt, warum solltest du an dieser Stelle nicht deine eigene Schuld büßen?« Er faßte den Vorsatz, in jener Höhle ein Einsiedlerleben zu führen. Sogleich kehrte er nach Trier zurück und bat den Bischof Hidulf um die Erlaubnis, eine Kapelle an dem Ort zu erbauen.

Als dann ein schönes Kirchlein in der Wildnis stand, wurde der Leichnam der frommen Genoveva dorthin gebracht, damit sie da ruhe, wo sie so lange ein hartes Leben geführt hatte. Und obgleich der Leichnam in einem marmornen Sarg lag, den kaum sechs Stiere hätten fortbewegen können, zogen ihn zwei Pferde so leicht, als ob es gar keine Last wäre. Wo der Trauerwagen vorüberkam, neigten sich die Hecken des Waldes, als schwankten sie vom Winde bewegt; ja, selbst die höchsten Bäume bogen ihre Äste tief zu Boden. So wurde der Leichnam der heiligen Frau beigesetzt und das himmlische Kreuz darüber errichtet. Dann berief der Graf seinen Bruder und sprach in Gegenwart seines Sohnes: »Lieber Bruder, ich habe mich entschlossen, die Welt zu verlassen und an dem Ort, wo meine Gemahlin gelebt hat, zu leben und zu sterben; deshalb setze ich Euch zum Vormund meines Sohnes Schmerzenreich ein. Ich bin überzeugt, auch er wird Euch Gehorsam und Ehrerbietung erweisen, wie ein Kind seinem Vater schuldig ist.«

Hierauf wandte er sich zu seinem Sohn: »Du hast es gehört, liebstes Kind, daß ich die Welt verlassen will und dir meine ganze Grafschaft übergebe. Dein Oheim soll hinfort dein Vater sein.«

Da antwortete Schmerzenreich: »Lieber Vater, wo Ihr leben wollt, will ich auch leben, wo Ihr sterben wollt, will ich auch sterben.« Alle wunderten sich über die Sprache des Knaben. Der Graf riet ihm weinend ab: »Mein lieber Sohn, das strenge Leben dort wird dir schwerfallen, dein zarter Leib wird es nicht aushalten!«

»Ach, besser als Ihr, mein Vater«, entgegnete der junge Schmerzenreich, »habe ich doch sieben Jahre lang die Probe bestanden!«

So überließ Schmerzenreich die Grafschaft seinem Oheim. Vater und Sohn nahmen Abschied von der Verwandtschaft und zogen in die rauhe Wildnis, um dort Gott bis an ihr Ende zu dienen. Sobald der kleine Schmerzenreich in der Wildnis ankam, erkannten ihn seine alten Gespielen, die wilden Tiere, wieder; sie kamen in großer Menge herbei und freuten sich über seine Ankunft. Vater und Sohn verbrachten ihr ferneres Leben im Andenken an die fromme Genoveva in der Einsamkeit und sind dort auch im Herrn entschlafen.


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