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Was ist ein Spießer? Woran erkennt man den Spießer? Wie gewinnt man sich den Spießer?

Was heißt es, jemanden einen Spießer, Spießbürger oder Philister nennen?

Der Spießer ist im Gegensatze zum ritterlichen, begeisterungsfähigen, vorwärts führenden, freudigen, verantwortungslustigen Manne ein engherziger, feiger, griesgrämlicher, rechthaberischer, einseitiger Neider und Nörgler, der alles Hohe haßt und immer zum Rückzuge der Geister bläst. Ohne Stammtisch, Tageszeitung und Regenschirm ist er undenkbar. Die öffentliche Meinung ist sein Evangelium.

 

Wem es am Gefühl und Verständnis für Größe, Wagemut, Adel, Menschenwürde, Wahlverwandtschaft, Drang ins Unerforschte, Glauben an ein Schicksal fehlt, der ist unwiderruflich ein Spießer.

 

Der Ausdruck Philister, entstanden in Halle (an der Saale) um 1650, bezeichnet ursprünglich nichts weiter als den, der nicht Student oder nicht mehr Student ist.

Goethe sagt einmal:

Wer außer mir entband Euch aller Schranken Philisterhaft einklemmender Gedanken?

Bettina Brentano schreibt in einem ihrer Briefe von den Krallen des Philistertums. Den gleichen Ausdruck wendet Mutter Goethe einmal ein.

Heinrich Heine warnt:

Die Philister, die Beschränkten,
Diese geistig Eingeengten,
Darf man nie und nimmer necken.

Und Graf Platen meint, Deutschland sei die Heimat der Philisternatur mit dumpfiger Stubengelehrtheit.

Diese verächtlich gedachte Erweiterung und Veränderung des Begriffes herrscht erst seit etwa hundertfünfzig Jahren vor.

Nach Grimms großem Wörterbuche hat sich das Wort aus dem lateinischen Ballistarius (frei übersetzt, höhnisch: Scheibenschütze ) gebildet. Ein sehr wenig wahrscheinlicher Zusammenhang.

Die Bezeichnung Spießer ist beträchtlich älter; ursprünglich keineswegs verächtlich. Bekanntlich gab es in den Heeren des Mittelalters Ritter und Spießer. Die mit langen Spießen ausgerüsteten Massen – das Fußvolk, die Infanterie – wirkte durch feste Geschlossenheit und kräftigen Nachdruck. Die Ritter fochten aus dem Sattel. Ihren Reihen entstammen die Führer des Ganzen. Kriegsgeschichtlich wie bildlich: nie ist ein Spießer Führer.

 

Das Weltbild vor seinem inneren Auge immer weiter, immer höher, immer glänzender werden zu lassen, daran liegt keinem Philister. Ihm schaudert vor täglich neuen Kenntnissen und Erkenntnissen. In der Enge seiner kleinen Welt mit kurzbeinigen Wünschen und Lüsten fühlt er sich am wohlsten. Zwei Leben leben zu sollen, eines neben dem andern, eines über dem andern, das ist ihm undenkbar, unmöglich. Er wird mit dem einen, zu dem keine große Leidenschaft gehört, nicht fertig.

 

Kein Spießer wandert aus Passion empor zum Montsalvasch, und keiner steigt neugierig hinab ins Inferno.

 

Der Philister bleibt in der Horizontale; er haßt alles Höhere und verabscheut alles Tiefere.

Damit soll nicht gesagt sein, daß alle Spießbürger in derselben Schicht leben; aber jede Schicht sondert sich. Gottlob, denn was würde aus der Welt, wenn sich alle Philister zu einer Phalanx scharten? Die verstreuten kleinen Gruppen sind schon Hemmungen genug für den sowieso langsamen Vormarsch der Kultur.

 

Mit der Masse, dem Demos, dem Normalmenschen, hat der Spießer wenig zu tun. Er haßt die Majorität in demselben Maße wie der Individualist, sein Antipode, sie verachtet.

 

Wer sind die Antipoden des Spießers?

Die Einzelgänger, die Enthusiasten, die Frondeure von Geburt, die Rebellen aus Temperament, die Ketzer aller Art, die Vorläufer, die göttlichen Narren.

 

Das Hauptmerkmal des Spießbürgers, im einzelnen wie in der Gemeinde, ist seine bornierte Unfähigkeit, die großen Ideen der Führernaturen zu erfassen, anzuerkennen, zu fördern.

Diese oft heimtückische Unfähigkeit ist verbunden mit sklavischer Demut vor der öffentlichen Meinung, dem Diktat der sogenannten Autoritäten und der Dressur durch die Mode.

 

Nicht zu verwechseln mit dem sturen Spießer, dem Verzögerer jedes Fortschritts, dem Vereitler jeder enthusiastischen Tat eines Anderen, ist der Normalmensch, der seinen gesunden Verstand für sich und seinesgleichen zu handhaben versteht, ohne zu verkennen, daß er selber zum Führer nicht geboren ward. Die Kühnheit der Herrenmenschen macht ihm Freude, und er spendet vom Seinen, um ihrem Unternehmen Erfolg zu sichern.

 

Die britische Idee, die bei Gefahr der Nation über alle andern geistigen Ströme sofort siegt, ist der unausrottbare Glaube des einzelnen an die heilige Aufgabe der Gesamtheit: Britannia müsse die Königin der Menschheit sein und bleiben, und nur Eines erhalte und stärke das Eroberte: immer mehr erobern. ...

The conquerant Englishman!

 

Seine höllische Furcht vor den Anderen gesteht sich der Spießer nie und nimmer ein. Ihn zu überzeugen, daß er Sklave der öffentlichen Meinung, unfrei sogar vor sich selber und schwachköpfig ist, gelingt niemandem, und wäre er Sokrates, Voltaire und Schopenhauer in einer Person.

 

In seiner kleinen Geschichte des Spießers (erschienen in Paris gegen das Jahr 1840), die leider wenig zur Klärung der uns interessanten Fragen beiträgt, behauptet Henri Monnier, es gäbe keine Spießbürger unter fünfzig Jahren. Nur noch spärliches Haupthaar, ein stattlicher Bauch, behäbige Manieren, ein Ordensbändchen, ein Vereinsabzeichen, eine große Hornbrille, Vorliebe für den Bratenrock und derlei seien des Spießers Insignien. Das stimmt nicht. Es gibt schon in der Obertertia unverkennbare Spießer. Man findet sie in allen Lebensaltern, in allen Berufen, in allen Klassen der Gesellschaft.

Eines sei zugegeben. Um als ewiger Widersacher der Leichtlebigen unangenehm aufzufallen, muß der Spießer einige Macht innehaben. Gewisse unsrer Schulkameraden hatten dies nötige Übergewicht, wenn man in den Unterrichtspausen ihre Arbeiten abschrieb, weil wir selber zu Hause nichts gemacht hatten. Aus Not mußte man sich der Tyrannei dieser Spießer unterwerfen. Im späteren Laufe des Lebens besitzen diese gewisse Macht: die Verkehrsschutzleute, die Postschalterbeamten, die Galerie-Aufseher, die Paßamts-Löwen, die Wohnungsamts-Stadtrechtsräte, gewisse unfehlbare Schulmeister deiner Söhne, die Finanzamts-Spitzel, die Hauswirte, die Amtsrichter und die Nachtwächter. In jedem Berufe kommen hierzu noch etliche Spezialisten mit besonderen Befugnissen, die den Homme supérieur in seiner wahrhaftigen Freiheit heimtückisch beschränken. Der Spießer muß etwas zu sagen haben, und sei es noch so wenig, sei es auch nur scheinbar.

 

Die gräßlichsten Spießer findest du unter deiner lieben Verwandtschaft. Glückselig der Mann, der nur Wahlverwandte hat.

Ruhe vor deiner Sippe hast du nur, wenn du im Geruche stehst, arm, ohne Einfluß, unbegabt und etwas blöd zu sein. Dann tritt an die Stelle von Neid, Mißgunst und Scheelsucht eine Art ehrliches Mitleid. Man verteidigt dich sogar vor der bösen Welt. Wehe dir aber, wenn du Komödie gespielt hast und du gar kein dummes Luder bist!

 

Heinrich Heine: Was die Deutschen betrifft, so bedürfen sie weder der Freiheit noch der Gleichheit. Sie sind ein spekulatives Volk, Ideologen, Vor- und Nachdenker, Träumer, die nur in der Vergangenheit und in der Zukunft leben und keine Gegenwart haben. Engländer und Franzosen haben eine Gegenwart; bei ihnen hat jeder Tag seinen Kampf und Gegenkampf und seine Geschichte. Der Deutsche hat nichts, wofür er kämpfen sollte, und da er zu mutmaßen begann, daß es doch Dinge geben könne, deren Besitz wünschenswert wäre, so haben wohlweise seine Philosophen ihn gelehrt, an der Existenz solcher Dinge zu zweifeln. Es läßt sich nicht leugnen, daß auch die Deutschen die Freiheit lieben, aber anders als die andern Völker. Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine Braut. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine alte Großmutter.

 

In den sogenannten Ehrenämtern unter den Schöppen und Geschworenen, Friedensrichtern und bestellten Vormündern, Armenpflegern und ähnlichen angeblich Unbesoldeten wimmelt es von Spießern. Ehrenämter sind Anachronismen, denn alle diese Leute wissen sich zu entschädigen. Wir sind dem Amerikanismus längst ausgeliefert. Werden wir vor allem hierin Yankees! Bezahlen wir diese Ämter und verjagen wir die Heuchler!

 

Es muß immer und überall Retardimenta geben; sonst geht es in der Welt allzu mobil her. Mann von höherer Einsicht, wenn du einem Spießer begegnest, so ziehe deinen Hut und sage dir: Lieber Gott, wenn es diese Hemmschuhe nicht gäbe, so wären wir schon im Jahre 3000. Und wer weiß, wie mir es da erginge!

 

Es liegt im deutschen Wesen, daß sich der einzelne sein Weltbild selber malt. Die Eigenbrötelei ist dem Deutschen Glück und Unglück, Heil und Unheil, sein Stolz und seine Lächerlichkeit. Gleichwohl sind drei Viertel dieses einst eigenwilligen Volks der Massensuggestion verfallen, die es mit hundert Armen in den Sumpf der Gleichmacherei zerrt.

 

Goethe meint: Verglichen mit den französischen Rittern erscheinen mir die deutschen wie Götz v. Berlichingen, Georg v. Frundsberg und andere immer als Bürger und Philister.

 

Pirsche dich, wenn du vorwärts kommen mußt, an den Stammtisch dessen heran, der über dein Wohl und Wehe zu entscheiden hat. Ist er Vereinsbruder, so werde es schleunigst auch! Und die Partei, zu der er gehört, wird dich nicht verachten, wenn du deinen Beitritt erklärst.

 

Ob man Untergebener, Kollege, Kompagnon eines Spießers ist, unter tausend Umständen muß man sich eines Philisters Gunst und Gnade erwerben, um rascher alle Etappen zu seinem eigenen Ziele zu erreichen. Selbst Bonaparte hat zu gewisser Stunde kaltlächelnd den oder jenen gerade mächtigen Spießer umbuhlt.

 

Mir fällt eine Soldatengeschichte ein. Ein heiterer Weltmann erzählte sie uns am Biwaksfeuer:

Ich rühre ungern die verfluchten Karten an; der Teufel hat sie zum Verderben von uns Landsknechten erfunden. Gleichwohl habe ich als junger Dachs alle möglichen Spiele erlernt. Ein lebenskundiger Onkel von mir – er hat es ausgerechnet bis zum General-Inspekteur der Kriegsschulen gebracht – hatte mir immer gepredigt: Nur durch die Schwächen der Höheren kriecht oder fliegt man empor zur militärischen Höhe. Ich rate dir, teurer Neffe, wenn du Erfolg in unsrer Welt haben willst und kein Esel bist, so lerne Whist, Schafskopf, Skat, Ecarté, Poker, Schach, und wenn es sein muß, sogar das plebejische Kegeln. Durch gesellige Talente kommst du an die Exzellenzen und großen Damen heran. Selber brauchst du dies Vergnügen ja nicht ernst zu nehmen.

Kurzum, ich war als Leutnant zu jedem Jeu zu haben. Man pries im Regiment, im Divisionsstabe, im Oberkommando, wo ich auch war, meine geniale Universalität.

In der Tat, den Karten verdanke ich meinen ersten Erfolg, und das geschah folgendermaßen.

Vor zwölf Jahren war mein Batteriechef der dicke K***, gewaltiger Skatbruder, kein dummer Kerl, aber im Grunde ein Erz-Spießbürger; und das kam auch beim Spiel zum Vorschein. Er schwor auf gewisse Regeln und verlangte von jedem Partner, daß auch er auf Regeln eingeschworen war, so daß sich sozusagen System gegen System maß. Ich scherte mich nicht um die Regeln, kannte keine und die meines zu verehrenden Capitano am allerwenigsten. Vielleicht gerade dadurch hatte ich das unerwartete Glück, oft hohe Spiele zu gewinnen. Mein Chef, ein reicher Mann, dem das nichts ausmachte, zahlte ingrimmig.

In der Garnison spielte er nicht mit mir; nur mit ihm Ebenbürtigen. Aber in den Herbstübungen mußte ich jeden Abend daran glauben. Ich erinnere mich, eines Frühmorgens, nachdem ich am Abend unverschämtes Glück gehabt, schenkelte ich an der Queue der Batterie kreuzvergnügt mein Füchslein, auf dem Anmarsch zum Sammelplatze der Truppen. Gerade hatte ich mir vorgenommen, am Abend dem spielsüchtigen Capitano einfach auszurücken, um mich anderswo zu vergnügen, da kam von vorn der echo-artig durchgegebene Befehl: ich solle zum Capitano vorkommen.

Eine halbe Stunde lang, glatt bis zum Sammelplatze der Legionen, sprach der erhabene Chef mit mir alle Spiele vom vergangenen Abend, die ich seiner unfehlbaren Meinung nach jämmerlich gespielt und zum Aufschrei der logischen Menschheit gegen jedwede Regel gewonnen hatte, pedantisch, Stich um Stich, durch. Und zum Schlusse klagte er: Ich habe absolut nichts gegen Sie, wie Sie wissen. Wenn Sie Ihre lustigen Geschichten erzählen, liebe ich Sie sogar. Aber, nehmen Sie mir es nicht übel: Skat können Sie nicht! Unsere Herbstübungen dauern bis zum 17. September; heute haben wir den 7. Ich sage Ihnen: am siebenten Abend rührt mich bei Ihrer unerhörten Regellosigkeit der Schlag.

Was sollte ich erwidern? Ich machte meine untertänigste Miene und meinte schüchtern: Vielleicht findet sich ein andrer Partner. ...

Er unterbrach mich: Bilden Sie sich ja nicht ein, ich spielte mit Ihnen auch noch ein einzig Mal! Niemals. Eher mit dem Nachtwächter unsres Quartiers. Das schwöre ich Ihnen bei allen Propheten der heiligen Schrift samt den Apokryphen.

Insgeheim war ich glückselig; aber, ach, am Abend nach dem lukullischen Dorfdiner ereignete sich der schändlichste Eidbruch: ich ward wiederum zum Skat befehligt.

Frühmorgens am andern Tage auf dem Anmärsche abermals große Skat-Kritik und abends zweiter schändlicher Eidbruch.

Am dritten Abend greift der Gott der Schlachten ein. Zweimal schon hatte ich ein tolles Spiel gewonnen; der Kapitän gibt die Karten zum dritten Spiele, fuchsrot in seinem Gesicht. Da bringt die Ordonnanz den Tagesbefehl. Der Gefreite liest vor: Punkt 3: die Batterien haben umgehend unter Namensnennung telephonisch zu melden, ob sie einen unbedingt geeigneten Leutnant (keinen Reserve-pp.) stellen können. Muß Englisch parlieren. Ober-Kommando braucht Ordonnanzoffizier für Militär-Attaché.

Der Capitano, immer noch fuchsteufelswild, sagt kein Wort, stürmt ans Telephon und zeigt laut-vernehmlich zu Punkt 3 heutigen Tagesbefehls meinen Namen an.

Irgendein höherer Adjutant spricht hierauf. Ich höre meinen temperamentvollen Chef antworten: Aber natürlich! Spricht alle Sprachen, beim Skat sogar Hindostanisch ... Jawohl, garantiere ... Gut! Ich schicke ihn noch nachts ab.

Wie er die Karten weiter austeilt, fragt er mich: Verehrtester, wie stehts? Sie sind doch Englishman?

Offen gestanden, Herr Hauptmann – wage ich wahrheitsgemäß zu bekennen –, wie ich vorigen Herbst flüchtig in London war, hat mein Englisch knapp gelangt, einer holden Maid beizubringen, daß ich sie liebte.

Ganz Wurscht – ruft der Capitano –, ich habe Sie vorgeschlagen; Sie reiten Punkt zwölf heut nacht ab; und wenn der englische Colonel findet, er verstünde Sie nicht, so reden Sie mit ihm Hindostanisch. Ich erwarte von Ihrer Intelligenz lediglich das eine: daß die übrige Welt an Ihr Englisch glaubt.

Punkt zwölf setze ich mein Füchslein in Trab; um zwei Uhr finde ich den Colonel, einen Gentleman ohne Furcht und Tadel, beim Ecarté. Ich setze mich gleich hinzu. Das Übrige macht sich von selber. Wir verstehen uns herrlich. Ohne Englisch! Und acht Tage später sitzt das Victoria-Kreuz mir am Feldrock. Nur drei dieser vielbegehrten Dinger hatte er zu vergeben.

Wie ich mich am Manöverschlusse bei meinem Capitano zurückmelde, sagt er bloß: Skat ohne Regel, Orden ohne Regel.


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