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Bild

Wer vermöchte diese Stadt mit Worten gebührend zu schildern? Durch die Jahrhunderte erklingen die rühmenden Berichte großer Europäer. Sie preisen die stolze Gebärde der Hügelstadt, sagen von ihren Domen, ihren Burgen, von den vielhundert Kuppeln und Türmen, die sie überschwingen. Sie wissen von der Verwunschenheit zerfallender Quartiere, vom Raunen uralter Gärten und vom Zauberton der nächtlichen Moldau. Und immer wieder beim Anblick dieser Stadt erinnern sie an Rom. Ja wahrlich: als ein anderes Rom, als das des Nordens, muß man diese Kaiserstadt grüßen. Mit solchem Gruß nimmt man auch alle Schilderung schon wieder zurück, muß eingestehen, daß hier gleich wie in der Tiberstadt nach allem Lob und allen Worten die Wirklichkeit selbst doch nur viel mächtiger aufsteht, aller begrifflichen Nachformung höhnt. Daß hier wie dort ein Lebendiges steht in seinem Reichtum und in seinem Wechsel. Ein Schicksal, das nur gleichnisweise in Bau und Mauern seinen Ausdruck schuf.

Dies Schicksalhafte rührt uns an, das hier im Stein sich prägte und nach Gesetzen eines eigenen Lebens sich entwickeln mußte zur Gestalt. Wie aber packen wir diese Gestalt! Sie hütet ihr Geheimnis wie alles Lebendige. Und glauben wir heute ihr Stichwort zu halten, so wirft sie uns morgen ein anderes hin und leugnet das Gestern. Das treibt nicht nur aus der historisch bedingten Vielgründigkeit ihrer Erscheinung –; es wurzelt in ihrem Wesen. Das wandelt sich unter der Stimmung des Betrachters. Hier ward nicht einmalige Form, die uns zwingt –; wie überall, wo lateinischer Geist die Zeiten bannt. Hier ist der Kampf zwischen Form und Unform noch nicht ausgetragen. Was als Gestalt uns entgegentritt, es ist nur augenblickliche Schwebe im ewigen Auf und Nieder dieses Kampfes. Wir leben ihn mit, wo wir betrachten. Werden selbst zur Formung aufgerufen.

Da ragt der Hradschin gegen den Strom. Gerade wo dieser zum großen Bogen ausholt, stößt der Berg vor, treibt große Bewegung ins Bild. Der Kampf beginnt: aus der Waagrechten des Stromlaufs steigen die Hänge, dichte Bebauung staffelt sie hinauf. Doch von der langen Flucht der Burgtrakte oben werden sie wieder zur Waagrechten geebnet, zu großer Entsprechung zum Stromlauf unten. Das aber staut nur den Höhendrang des Gesamtbilds: mit gesteigerter Wucht stößt er hinter der Burgwand empor im trotzigen Koloß des Veitsturms, dem wenige Schritte ostwärts die hellen Türme von St. Georg Echo geben. Architektonische Kraft ist hier wunderbar gesammelt. Die Kleinseite unten mit Kuppeln und Türmen und der Dächervielfalt schafft das Fundament, die Hradschinstadt mit Palästen und Klöstern deckt ihr den Rücken, den die Moldauhänge umzirken.

Jetzt aber beginnt die hier gesammelte Spannung zu wirken: sie treibt hinüber über den Strom. Die steinerne Brücke Karls IV. wirkt wie Verleiblichung dieser rückschlagenden Spannung: in kraftvollen Bögen greift sie hinüber zur Altstadtseite, verankert sich mit festem Brückenturm am Uferrand, staut sich im Block der Bürgerstadt, in ihren Türmen, in der ragenden Kirche am Teyn. Ein heroisches Gegenüber: die breit aufsteigende, königlich gefügte Burgsilhouette über dem Strom, die so viel Licht auffängt mit ihrer Breitseite gegen Süden –;, der dunkle Block der Altstadt ihr gegenüber, vom Strom und dem Ringsystem der einstigen Gräben fest umgürtet. Das schafft ein architektonisches Widerspiel von Klang und Gegenklang, dem man fast erschrocken lauscht. Das reißt herüber, hinüber –; droht zu zerreißen. Bis ins 19. Jahrhundert war die Karlsbrücke die einzige Kette, die beide Gewichte band. Die Heiligen auf der Brücke stehen wie im Sturm, ihre Gewänder wehen.

Aber der architektonische Schwung, der im Hradschin anhebt, wird von der Altstadt nicht restlos aufgesogen. Er treibt über sie hinaus in die breiteren Gelände der Neustadt, wo weite Plätze ihn mildern, ihn in die verschiedenen Richtungen verstreuen und auslaufen lassen an den Hügeln, die dort das Weichbild säumen. Türme und hohe Kirchenbauten spannen auch hier noch das Bild.

Dies ist das Kraftfeld, in dem diese große Stadtschöpfung sich begibt. Man muß es plastisch herauslesen aus dem Gelände, muß spüren, wie die umzirkenden Hügel die Mulde bilden, in der Architektur sich sammeln kann, in der sie zusammengeschmolzen wird mit dem Strom. Man muß begreifen, wie innerhalb dieses begrenzten Wirkungskreises die architektonischen Gewichte sich gegenseitig ausspielen mußten nach dauernden, sinnvollen Gesetzen. Hier war kein Platz für Willkür. Die Generationen fügten sich dem vorgegebenen Gebot. Und indem sie sich fügten, schufen sie die künstlerische Gestalt, die uns ergreift.

In dieser das Stadtbild begründenden Figur spielt nun unterm Hin und Her des Schauens und Wanderns der Wechsel des Lebendigen.

Gehen wir von der Karlsbrücke stromabwärts und wenden uns zurück, so fallen die Horizontalen: als einzige Senkrechte steigt der Hradschin auf. Die langen Trakte der Burg saugt die Fluchtlinie auf, die Kleinseite liegt hinter dem Burgberg verborgen. Der stößt mit seiner Kante uns entgegen, seinen Vorsprung betont der Schwarze Turm. Darüber St. Georg, darüber der Veitsdom. (Der Domausbau im Westen, der den heutigen Gesamtbau so matt macht, ist von hier aus dem Blick entzogen. Wir sehen den steil aufgehenden Leib des Chors, ihm zu Seiten den Turm.) Aufbau der Gotik, lotrecht auf dem in die Tiefe stoßenden Stromlauf.

Solch andere Sicht verändert das ganze Stadtbild von hier aus. Diese Aufgipfelung des Hradschin steht nicht mehr im Gegensatz zum Block der Altstadt –; eine gleichgerichtete Beziehung entsteht: Hradschin als Krönung des Altstadtmassivs. Jetzt bindet der Strom. Und wir spüren, wie die betonte Senkrechte des Hradschin nun auch die Senkrechtmotive der Altstadt belebt und steigert, wie von hier aus der Turmrhythmus ganz anders aus dem Häusermassiv stößt als von der Brücke aus. Man denkt an alte Stiche, welche den Stadtkörper des mittelalterlichen Prag –; fast noch der begrifflichen Vorstellung folgend –; in die Vielheit der Türme zersplittern.

Aber auch dieser Eindruck wird wieder aufgehoben, sobald wir stromaufwärts wandern, unter der Burg vorüber, dem Wyschehrad zu. Von dort aus scheint die Altstadt untertänig dem Hradschin entgegenzudrängen. Der breite Burghügel nimmt den Stadtdrang an. Der Strom, an den sich die Altstadt nun anschmiegt, festigt das Bild.

Wieder anders rhythmet sich das Ganze, wenn wir es von den Moldauhöhen des Westufers aus betrachten, vom Laurenziberg (Petøín). Wir stehen höher als der Hradschin: die Waagrechten der Burgtrakte schmiegen sich fast sanft an die Mulde der Kleinseite, aus der nur St. Niklas als starker Einzelklang herauftönt, suchen weiter über die Moldau hinüber und verlaufen sich im reichen Formgetriebe der Stadt.

So legen wir auf solchen Wanderungen Sicht über Sicht und spüren in ihrem Übereinander, wie zuletzt doch wieder der erste beherrschende Eindruck durchstößt: Hradschin gegen Altstadt –; er, der das Stadtbild schuf, der es dauernd durchstählt.

Über ihm als Grundton baut sich dann der Dreiklang auf, zu dem die Sondertöne der Städte zusammengehen: Kleinseite mit Hradschinstadt, Altstadt und Neustadt. Man spürt noch heute, daß sie durch Jahrhunderte als selbständige Gemeinwesen sich entwickelt haben. Eine jede wahrt ihren eigenen Charakter. Auf der Kleinseite unter dem Hradschin mischen sich zwischen die Bürgerhäuser stolze Adelssitze, die der Nachkrieg im Barockzeitalter hier aufgeführt hat: Paläste der Czernin und Nostiz, der Lobkowitz und Thun, der Schönborn und Fürstenberg und der andern. Sie sind geladen mit Leben und Traum, voll Pracht und düsterer Sage. In seinen Mauern brütet der Waldsteingarten, friedliche Insel hinter des Friedländers prächtigem Palast, seinem Lauernest in den unentschiedenen Jahren. Von den Höhen fallen Barockgärten nieder mit Terrassen und Loggien und stolzen Treppenläufen bis hin an die Straßen. Klosterkirchen liegen wie im Traum unter alten Bäumen, Laubengänge kränzen den Ring, in dessen Mitte St. Niklas mit seiner hohen Kuppel Raum schöpft.

Wie anders drüben über dem Strom: die Altstadt. Hier treibt anderer Rhythmus. Es wimmelt von Gäßchen, Durchgängen, Winkeln, von alten Höfen mit geigespielenden Musikanten, von kleinen Buden und Kramläden unter den Lauben, von der Menge geschäftigen Volks. In der Mitte weitgezirkt der große Platz, mit Rathaus und Teynkirche einander gegenüber –; ein stolzer Raum. Ganz nahe das Viertel, wo einst das Ghetto stand. Nur die alte Synagoge und weniges andere blieb vor der Niederreißung dieses pittoresken Spuks bewahrt; fremd steht sie zwischen protzigen neuen Häusern. Prunkvolle Kirchen wieder; Barock in mittelalterlichem Gehäuse. Und armseligstes Winkelwerk daneben. Weiter stromabwärts das Petersviertel, erste Ansiedlung der Deutschen, denen die Herzöge hier nach ihrem Recht zu leben gestattet hatten. Im gotischen Umbau der Peterskirche steckt noch der Kern eines romanischen Kirchleins. Hier tobte ein grotesker Kampf zwischen Alt und Neu: neben halbverfallenen Spelunken schossen modernste Geschäftshäuser empor, am Kai nebenan erstanden Universitäts- und Ministerienbauten.

Um diesen Kern die Neustadt des 14. Jahrhunderts. Hier sollten die lauten Gewerbe hausen –; hier hausen sie auch heute wieder. Hier ist die Moderne eingezogen ins alte Stadtbild. Dieses lebt noch in großen Plätzen, geregelten Straßensystemen, in Pfarrkirchen der Gotik und einigen Klöstern, in vielen Bürgerhäusern aus der Barock- und Empirezeit, die teils schon im Abbruch stehen. Hier stößt heutiges Leben mit voller Wucht ins alte vor. Das wehrt sich noch mit manchem Turm und mancher Kuppel. Vom höchsten weitesten Punkt aus grüßt noch der alte Karlshof, hinüber über das schwingende Stadtgelände, hinauf zum Hradschin, zum Hüter der Jahrhunderte. So schlingt diese Kaisergründung das Band zurück zum Stadtkern. Immer wieder und von überall her kehrt man zu ihm zurück.

Oft aber ist er den Blicken ganz entschwunden. Dunstmassen sammeln sich im Kessel zwischen den Hügeln. Dunstschleier weben die Hügel und den vorstoßenden Hradschin ein. Dann läuft die Sicht, die Brücke, der Raumdrang der Altstadt wie ins Leere. Dumpf lagert die Kleinseite dann am Strom und ihr Brückenturm steht wie verwaist, des größeren Halts von oben beraubt. Dann ist es, als ob der Pulsschlag dieses Stadtgebildes auf Momente aussetze, als ob das Ganze zerfallen müsse. Gebannt liegt der Strom. Die Altstadt duckt sich tief. Doch ob der Beherrscher der Sichten auch im Dunst ganz verhüllt ist, man spürt ihn doch, wie unsichtbares Drängen. Er pocht im Blut dieser Stadt. Im Gegendrang der Altstadt erkennt man, wo der Riese sich verborgen hält. Und plötzlich reißt ein Lichtstrahl ihn wieder ins große Blickfeld.

Ja, dieses Lichterspiel über dem alten Gestein! Wenn in Frühlings- oder in Herbsttagen die Wolken ziehen, dann geschieht's, daß beschattete Türme in der Altstadt dunkel drohend über helleuchtenden Plätzen ragen, daß drüben am Strom die ganze Burgfront weiß steht vor dem gewittrig dräuenden Dom. Dann raunt ein Auf und Nieder der Lichter über die Stadt hin wie Wellenschlag, und alle Architekturformen beginnen wieder aufzuschmelzen in Musik. In ihrer innersten Bewegtheit taumelt die Stadt. Zwischen Düsterkeit und plötzlichem Leuchten oszilliert dann der Prager Stein, dieser grauwitternde Stein, der so viel Farbmächtigkeit in sich birgt. Am längsten hält der vom Weißen Berg seine Helligkeit: feinporig gleißt er im Sonnenlicht. St. Georg verdankt ihm sein Leuchten. Im Veitsdom dunkelt der derber gekörnte von Schlan und von Brandeis, kräftiger als der Plehner Kalk, für die gotische Konstruktion notwendig. Breit und warm steht der Stein dagegen, den der Barock aus den Brüchen von Žehrovice unweit Kladno sich holte. Ein sinnlich warmes Goldgelb strahlt er aus. Kraftvoll treibt er die Form heraus. Darum liebte ihn der Barock für seinen starken Ausdruck. Jetzt bringen die Bahnen Steine aus der Slowakei: kühl, ausdruckslos schärfen sie die Fassaden einer falschen Moderne. Da steht der sachliche Beton noch aufrichtiger gegen das Alte: der gemachte gegen den gewachsenen Stein.

Die Lichter spielen hin über sie alle, schaffen aus Gegensätzen die große Fuge der Farben. Die Prager Atmosphäre überzieht sie mit dunkler Patina. Oft bricht diese Farbmächtigkeit auf im Abendleuchten. Dann erst erklingt der Gesang dieser Stadt in seinem großen Ineinander von Farbe und Form.

 

siehe Bildunterschrift siehe Bildunterschrift

I
Schicksal


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