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Wie der Schnee schmolz.


1.

Es war neun Uhr am Abende eines kühlen und heiteren Augusttages. Der letzte Omnibus kam rasselnd und klappernd vor das Thor des ersten Hotels, in dem schlesischen Städtchen Schmiedeberg vorgefahren. Die Passagiere stiegen heraus und ganze Lawinen von Gepäck wurden heruntergestürzt, um von den Hausknechten mit einer wahrhaft dämonischen Wuth in den Hausflur geschleudert zu werden. Ein ganzes Glockenspiel von Klingeln ließ sich vernehmen; aus den Gaststuben aber drängte sich eine Schaar neugieriger Gäste, um die Neuangekommenen der üblichen Ocular-Inspection zu überwerfen.

Der Wirth allein blieb mit unerschütterlichem Phlegma an seinem Bureau im Eßsaal gelehnt stehen: er dachte der Lösung des ihm kürzlich oft vorkommenden Problems nach, wie er ein halb Dutzend Gäste unterbringen sollte, nachdem er den letzten Winkel seines Hauses schon am Morgen dieses Tages hergegeben.

Meine Herren, sagte er mit einer verzweifelnden Bestimmtheit, ich will Ihnen Unterkunft gewähren und das trefflichste Souper – aber Zimmer – das ist mir nicht möglich!

Ein allgemeiner Sturm von Reclamationen erhob sich.

Meine Herren, entgegnete der Wirth, fest wie ein wogenumdrängter Fels – Alles, nur keine Zimmer. Das ganze Haus ist bis auf den letzten Winkel besetzt. Das halbe Warmbrunn ist hier, um die Tour auf die Schneekoppe zu machen. Zimmer habe ich keine.

Die Debatte war damit nicht beendigt, aber endlich mußte sie sich beruhigen. Einige der Gäste versuchten anderswo in dem Städtchen ein Unterkommen zu finden. Die Anderen ergaben sich in die Aussicht, die Nacht auf der Streu in einem der Gastzimmer zuzubringen.

Von den neugierig zuschauenden, bereits einquartierten Gästen hatte sich eine aus mehreren Damen bestehende Gruppe an das Ende des Flurs zurückgezogen und begann jetzt hier die Treppe nach oben hinaufzusteigen.

Ein leeres Kämmerchen gibt es aber doch noch, sagte eine der jungen Damen; es liegt neben meinem Zimmer und ich weiß, daß es unbesetzt ist.

Es ist das einzige im Hause und dazu ein Domestikenzimmer, erwiderte eine andere. Es ist für den neuen Bedienten der Frau von Dallwitz, der diesen Abend kommen sollte, bestimmt.

Für wen?

Für meiner Tante Dallwitz Bedienten, fiel eine zweite junge Dame ein; das ist richtig.

Die Gruppe war oben am Ende der Treppe angekommen und lös'te sich hier auf, um in den respectiven Gemächern zu verschwinden.

Wenige Minuten später trat ein Fußwanderer in das Hotel. Er schien nicht fremd hier, und in der That ging ihm der Wirth einen Schritt entgegen und reichte ihm die Hand.

Ah, Herr Fleischer, wie geht es Ihnen? Sie haben sich lange hier nicht sehen lassen!

Deshalb bin ich einmal wieder da, jagte der neue Ankömmling. – Ich wurde auf dem Wege hierher des Fahrens in dem Omnibus überdrüssig; darum bin ich ausgestiegen und die letzte halbe Stunde zu Fuß gegangen. Kann ich das Zimmer, das ich das letzte Mal hatte, bekommen – Nummer siebzehn, mein' ich?

Nummer siebzehn? wiederholte der Wirth nachdenklich.

Ja siebzehn, am Ende des Ganges.

Nein, mein lieber Herr Fleischer, Nummer siebzehn kann ich Ihnen nicht geben.

Achtzehn denn, oder neunzehn?

Beide sind besetzt, seufzte der Wirth.

Nun dann irgend eine Stube mit derselben Aussicht.

Es ist nichts nach der Seite hin disponibel.

Dann in Gottes Namen, was Sie haben.

Lieber Herr, seufzte abermals der Wirth, die Wahrheit zu gestehen, ich kann Sie gar nicht unterbringen!

Alles besetzt?

Alles!

Der Fremde lächelte und sagte:

Alter Freund, Sie sind gar nicht solch' ein entsetzlicher Grobian, wie Sie die Leute glauben machen möchten. Besinnen sie sich nur, Sie finden schon noch irgend ein Eckchen, ich weiß das. Kommen Sie nur herauf.

Der Wirth fuhr mit der Hand über die Stirn. Nun, ein Eckchen ist allerdings noch da, es ist bestimmt für den Bedienten einer Frau von Dallwitz. Der Bursche ist aber weder mit dem Omnibus gekommen – noch, so viel ich sehe, mit Ihnen zu Fuß?

Mit mir nicht. Uebrigens werde ich diese Dame kennen lernen und nöthigenfalls Sie schon entschuldigen.

Nun, so nehmen Sie die Kammer in Gottes Namen. Aber nur für diese Nacht – morgen muß ich wieder darüber verfügen können.

In Gottes Namen, versetzte der Fremde – morgen geh' ich die Schneekoppe hinauf!


2.

Die Frau von Dallwitz reis'te nie ohne zwei Domestiken, eine Jungfer und einen Bedienten, so wie sie sich auch nie in eine Expedition irgend einer Art einließ, ohne ihr eigenes silbernes Couvert bei sich zu führen. Es wäre ihr höchst anstandswidrig vorgekommen, ohne solches Gefolge und solche Ausrüstung sich in die fremde Welt zu wagen: in die Welt, die im Stande gewesen wäre, ihr zuzumuthen, Löffel von Neusilber an ihre Lippen zu bringen!

Ihr Gatte, der Baron Caspar von Dallwitz, reis'te gar nicht. Dafür lieh sein hoffnungsvoller Sprosse, August, der Mutter und der Schwester auf allen ihren Ausflügen Schutz seines sechzehnjährigen Arms. Er trieb die Aufmerksamkeit so weit, auch eine Cousine, Fräulein von Marwigk in diesen Schutz mit einzubegreifen, und machte ihr außerdem den Hof – aber ein wenig schüchtern, denn Fräulein von Marwigk verstand es, die Leute im Respect zu halten.

Der junge Baron August war eines etwas hitzigen Temperaments. In Warmbrunn, wo die Familie sich befand, hatte er allerlei Zwistigkeiten mit den Bedienten bekommen. Das Dienergemüth ließ sich viel gefallen, aber nicht Alles. Am Ende gerieth es in Rebellion. Baron August gab sich nun Excessen hin, so daß endlich nichts Anderes übrig blieb, als den Diener zu entlassen. Frau von Dallwitz sah sich genöthigt, an ihren secundären Gatten zu schreiben, ihr ein anderes dienstbares Individuum von daheim zu senden. Dies daheim lag so, daß der Weg von dort über Schmiedeberg gen Warmbrunn führte. Frau von Dallwitz schrieb also, der Mensch solle an einem bestimmten Tage in Schmiedeberg ankommen und sich mit einem Beglaubigungsbrief ihres Gemahls ihr dort vorstellen, weil sie eine Partie auf die Schneekoppe für diesen Tag anberaumt hatte.

Frau von Dallwitz hatte sich an dem festgesetzten Tage denn auch, von ihrer Cousine begleitet, zu der bestimmten Partie aufgemacht. Aber an das Ziel derselben, auf die Schneekoppe, sollte sie nicht gelangen. Sie war nämlich in Schmiedeberg in einen heftigen Streit mit dem Wirth gerathen, den sie eines gränzenlosen Mangels an Zuvorkommenheit und Respect beschuldigte. Weil er ihr keine Zimmer, wie sie ihr convenirten, geben wollte, hatte sie den Staub Schmiedebergs von ihren Füßen geschüttelt und war mit den Ihrigen bereits am Morgen wieder nach Warmbrunn zurückgekehrt. Nur Fräulein von Marwigk war bei einer Gesellschaft von Bekannten in Schmiedeberg geblieben, um mit diesen am andern Tage die Bergfahrt zu unternehmen. Sie war demgemäß beauftragt, die Meldung des erwarteten Dieners entgegen zu nehmen und ihm zu sagen, daß er nach Warmbrunn zu geben habe.


3.

Fräulein von Marwigk und ihre Bekannten saßen am andern Morgen beim Frühstück im großen Gastzimmer.

Der Bediente Ihrer Tante ist angekommen, Julie, sagte eine der jungen Damen.

In der That?

Ja; ich hörte ihn diesen Morgen im Zimmer neben mir Opernmelodien singen und sah ihn, als ich heraustrat, wie er den Kellner zankte, daß seine Stiefel nicht blank genug seien.

Gott steh uns bei! das ist ja ein vollkommener Stutzer.

Der Stutzer trat eben in den Saal, legte sich unmittelbar neben die Gesellschaft und vertiefte sich in Herschel's Telegraph, der auf dem Tische lag. Dann winkte er sehr gebieterisch einem Kellner und bestellte sein Frühstück.

Fräulein Marwigk und ihre Gesellschaft fanden die ganze Haltung des jungen Mannes für einen Bedienten höchst komisch. Sie konnten kaum ihre Heiterkeit unterdrücken – namentlich als der Stutzer fand, daß seine Serviette nicht recht rein sei. Mittlerweile schielte er seitwärts nach ihnen hinüber und sein Auge blieb eine Weile auf Fräulein von Marwigk ruhen, die während dessen ihre Aufmerksamkeit in hohem Grabe in Anspruch genommen zeigte von der Aussicht, die das nächste Fenster bot. Dabei kam ihr jedoch der Gedanke, daß ihre Freundin sich wohl irren müsse. Der junge Mann sah doch nicht recht wie ein Domestique aus. Sie mußte sich darüber vergewissern.

Der Fremde schien diesem Wunsche entgegenkommen zu wollen. Nach dem Frühstück trat er an sie heran.

Darf ich fragen, ob ich die Ehre habe, mit Fräulein von Marwigk zu reden?

Ja, ich bin Julie Marwigk.

Ich hörte, Frau von Dallwitz sei gestern hier gewesen –

In der That?

Ich möchte wissen, wo ich dieselbe jetzt finde – ich habe ein Billet an sie zu übergeben.

Er war also der Erwartete, es war gar kein Zweifel mehr!

Sie hat Sie erwartet, bemerkte Fräulein Julie.

In der That?

Folgen Sie ihr nur nach Warmbrunn. Sie ist unmittelbar nach Warmbrunn zurückgekehrt.

Er machte eine Verbeugung.

Das Billet können Sie mir geben.

Es ist an Frau von Dallwitz adressirt, ich möchte es ihr selbst überreichen.

Julie von Marwigk beendete das Gespräch mit einem kalten Kopfnicken und wandte dem Fremden den Rücken.

Entschuldigen Sie, Fräulein von Marwigk, sagte der junge Mann – ich höre, Sie beabsichtigen die Bergtour zu machen – ich will ebenfalls noch hinauf, bevor ich nach Warmbrunn gehe – wenn ich dabei Ihnen zu Diensten sein kann, so befehlen Sie … ich heiße Fleischer …

Fräulein Julie kam es wieder sehr wunderlich vor, daß der Bediente ihrer Tante, Namens Fleischer, Lustpartien auf die Schneekoppe machte, … aber sie antwortete nur desto kälter und eisiger: Ich danke Ihnen, und ließ ihn stehen.

Ziemlich hochnäsig! sagte sich der junge Mann, warf den Kopf in den Nacken und ging mit ungewöhnlich festem und lautem Schritt aus dem Saal hinaus.

Der ist noch ein größerer Windbeutel, als der vorige, sagte Fräulein von Marwigk, obwohl er schlimm genug war: und dann amüsirte sie ihre Freundinnen mit einem humoristisch gehaltenen Bericht über die kleine Unterredung.

Nachdem der neue Bediente eine Weile den Stoff zu den heitern Bemerkungen der jungen Mädchen dargeboten hatte, wandte sich das Gespräch wichtigeren Dingen zu.

Es wird Zeit, daß wir an unsre Bergreise denken! sagte die Eine.

Es hängen schaurig dunkle Wolken über der Schneekoppe, fiel eine Andere ein.

O, die werden gegen Mittag sich verzogen haben, bemerkte die Dritte.

Dann wird es aber zu spät, um zurückkommen zu können …

Das wird es jedenfalls. Wir bleiben oben, auf dem Gipfel, bringen die Nacht im Wirthshause zu und sehen morgen den Sonnenaufgang –

Man ließ jetzt die Führer herbeikommen, um mit ihnen zu berathschlagen. Sie riethen, ein wenig zu warten, bis man sicherer sein könne, welche Wendung das Wetter nehmen werde. Nach vielem Berathschlagen wurde endlich beschlossen, die Reise anzutreten. Die Zurüstungen wurden jetzt getroffen. Aber es wurde Mittag, bis die sämmtlichen Damen sich in Bereitschaft gesetzt hatten.


4.

Die Pferde sind fertig! hatten die Führer ein halbes Dutzend Mal melden lassen, bis endlich im Hofe vier oder fünf junge Damen in langen, schleppenden, für eine Bergreise höchst zweckmäßigen Crinolinroben erschienen. Ein paar junge Männer schlossen sich ihnen an.

Der junge Herr Fleischer saß, seine Cigarre rauchend, auf einer Bank vor dem Hause. Er winkte einen der Führer herbei.

Wollen Sie in der That heute noch mit dieser Damen-Gesellschaft die Partie unternehmen? fragte er.

Das Wetter wird hoffentlich gut bleiben, antwortete der Mann, und sie haben es sich einmal vorgesetzt – die Herrschaften wollen's darauf ankommen lassen.

Fleischer erhob sich und näherte sich höflich Fräulein von Marwigk.

Mein gnädiges Fräulein, sagte er, ich will mir nicht herausnehmen, Ihnen einen Rath zu geben; aber ich bitte um die Erlaubniß, Ihnen zu bemerken, daß ich diese Berge von früher her sehr genau kenne, und daß, wenn Sie wirklich heute noch hinauf wollen, Sie mehr warme Kleidungsstücke mitnehmen müssen. Nach der ersten Stunde werden Sie fortwährenden Regen, bis Sie oben sind, haben und obendrein eine ganz empfindliche Kälte.

Die junge Dame wandte sich zu einem der Herren, die zur Gesellschaft gehörten und fragte:

Ist das wahr?

Wir wollen einmal den Führer fragen, lautete die Antwort.

Fleischer wandte sich beleidigt ab und ging ohne ein Wort weiter zu verlieren, zu seinem Platz zurück.

Der Führer räumte ein, daß es eben kühl werden könne, aber er leugnete die Wahrscheinlichkeit des Regnens. Dies überzeugte die jugendliche Gesellschaft von der Ueberflüssigkeit der Warnung, und so brach die Cavalcade auf, mit leichten Herzen und leichtem Gepäck.

Eine halbe Stunde später glättete Fleischer die verdrießlichen Falten seiner Stirn, bezahlte seine Rechnung und ließ sich ein Pferd bringen, um ebenfalls den Weg auf den Berg hinauf anzutreten. Er mußte diesen Weg sehr gut kennen; ohne eines Führers und einer Weisung zu bedürfen, schlug er sogleich den kürzesten Reitweg, der emporführte, ein.

Nachdem er eine gute Weile ziemlich rasch geritten, erblickte er an einer Stelle, die einen Ueberblick über ihm gewährte, die Gesellschaft des Fräuleins, wie sie etwa eine Viertelstunde höher in einer Schlangenlinie mit wehenden Schleiern und hellen Gewändern sich emporarbeitete.

In wenig mehr als einer Stunde hatte er einen Marodeur überholt.

Dies war Niemand anders als Fräulein Julie von Marwigk. Sie wandte sich und erblickte ihn.

Seine Erscheinung war ihr fatal, und dann zürnte sie sich selber über das Mißvergnügen, welches sie dabei empfand. Was war an diesem Menschen, das sie unangenehm berührte? Ihr erster Impuls war, rascher vorwärts zu reiten; aber ein wenig Nachdenken sagte ihr, daß ihre Würde am besten gewahrt bleibe durch ein vollständiges Uebersehen und Ignoriren seiner Nähe.

Fleischer seinerseits überlegte bei sich etwas ganz Anderes. Er hatte nämlich sogleich bemerkt, daß die Sattelgurten unter der jungen Dame entweder unverantwortlich lose und nachlässig geschnallt waren, oder ganz außerordentlich nachgegeben hatten. Es fragte sich, sollte er es ihr sagen oder nicht? Sie hatte ihn zweimal ziemlich grob abgewiesen, sollte er es darauf ankommen lassen, ein drittes Mal mit seinen Bemerkungen zurückgewiesen zu werden? Wenn einer der Führer in der Nähe gewesen wäre, so hätte er ihn auffordern können, die Sache in Ordnung zu bringen. Aber die beiden Führer waren mit den Rest der ganzen Gesellschaft vorauf, hinter den Windungen des Bergwegs verschwunden.

Nach einer guten Weile triumphirte die Gutmüthigkeit in ihm. Er ritt an das junge Mädchen heran und sagte:

Ich darf Ihnen nicht verschweigen – der Ton seiner Stimme suchte eine außerordentliche Gleichgültigkeit auszudrücken, so, als ob er sie nie früher gesehen hätte, und die Sache selbst auch kaum einer Erwähnung verdiene – daß Ihr Sattel nicht fest sitzt und daß Sie in Gefahr sind, herunter zu fallen. Wenn Sie wünschen, will ich ihn festschnallen, oder auch den Führer zu erreichen suchen, und ihn Ihnen entgegenschicken.

Es kann so bleiben, antwortete sie lakonisch und mit eisiger Kälte.

Fleischer machte eine leichte Verbeugung mit dem Kopfe und fühlte sich gereizter als je vorher. Er eilte vorwärts. Er brachte seinen kleinen Berggaul in eine Gangart, welche über Alles hinausging, was sonst seinen festen und sichern Beinen zugemuthet wurde. Er ließ auch nicht ab, ihn anzutreiben, bis er Fräulein Marwigk ganz aus dem Gesichte verloren hatte. So kam er den andern Mitgliedern der Gesellschaft nahe. Zugleich fühlte er Regen niederfallen.

Was Fräulein Julie anging, so fühlte sie sich herausgefordert durch eine Zudringlichkeit, die, mochte sie einen Grund haben, welchen sie wollte, ihr höchst auffallend schien und die sie sich vornahm, gründlich zurückzuweisen, wenn sich dieselbe noch einmal zeigen sollte.

Die Luft, welche in der letzten halben Stunde schwer, feucht und nebelig geworden, begann jetzt außerordentlich kalt zu werden. Eisige Windstöße kamen von den Höhen her den Reisenden entgegen und dicke Wolken sammelten sich auf ihren Häuptern. Wogende Nebel senkten sich immer tiefer und hüllten die Emporsteigenden in ihre feuchten Falten. Fleischer schlug den Kragen seines Rockes in die Höhe und zog seine dicke wollene Reisedecke dicht um sich.

Als er den Gipfel einer steilen Höhe erreicht hatte, blies ihm ein wahrer Sturm entgegen. Regen und Schlossen trafen vermischt sein Gesicht, während die Stöße des Windes ihm um's Ohr pfiffen und seine Kleider flattern machten. Es war eine allerdings nicht just unerträgliche, aber doch in hohem Grade unbehagliche Lage. Er hatte an derselben Stelle schon Aehnliches erlebt; so pfiff er denn eine sorglose Herausforderung dem Winde entgegen, wischte sich von Zeit zu Zeit die Augen und ritt vorwärts.

Dann bemächtigte sich seiner wieder ein Anfall seiner Gutmüthigkeit. Es war nur zu wahrscheinlich, daß das junge Mädchen, welches er hinter sich zurückgelassen hatte, sich in einer schlimmen Situation befand. Ihrer ganz absonderlichen hoffährtigen Unfreundlichkeit zum Trotze wollte er noch einmal ihr wenigstens den Schutz anbieten, welchen seine wollene Decke ihr gewähren konnte. Er hielt deshalb sein Pferd an.

Er wartete so lange, ohne sie herankommen zu sehen, daß er in eine gewisse unbestimmte Unruhe gerieth und anfing, wieder hinab zu reiten. Wenn sie sich nicht bald blicken ließ, so mußte er annehmen, daß der Sturm sie erschreckt habe und daß sie umgekehrt sei. Aber er war nur eine kurze Strecke abwärts gekommen, als er sie plötzlich erblickte und zwar zu Fuß, sich mit Schwierigkeit über dem Felsgeschiebe, welches den Pfad bildete, vorwärts arbeitend und aussehend so blaß wie der Tod.

Was Fleischer ihr vorausgesagt, war in der That eingetroffen. Sie hatte, als sie die Region des Sturms erreicht, plötzlich ihr Pferd heftig angetrieben, um schneller weiter zu kommen; das Thier war ein paar Schritte vorwärts gesprungen, der Sattel dabei aus dem Gleichgewicht gekommen und an der einen Seite herabgeglitten, und so hatte sie sich erschrocken zwischen den Füßen des Pferdes liegend wiedergefunden. Das letztere hatte die gute Gelegenheit wahrgenommen, und nachdem es sich tüchtig geschüttelt, eine rasche Wendung gemacht, um sich von der weiteren Kletterpartie zu dispensiren und in einem gemüthlichen Trott die Rückreise zu seinem Stall anzutreten.

Fräulein von Marwigk, ein wenig verletzt, doch noch mehr erschrocken und bestürzt, stand einen Augenblick da, ohne zu wissen, was sie beginnen sollte; dann nahm sie ihren Muth und ihre Röcke zusammen und schritt kecklich vorwärts. Es war aber eine höchst anstrengende Arbeit und ihre Entschlossenheit nahm mit jedem Schritte ab. Sie war im Begriff ganz den Muth zu verlieren und sich einer gelinden Verzweiflung hinzugeben, als Fleischer, ihr entgegenkommend, vor ihr auftauchte. Jetzt wurde die Maus auf einmal wieder ein Löwe.

Der junge Mann bemerkte ihre Blässe und besorgt stieg er ab, und näherte sich ihr. Etwas verlegen und verwirrt dabei hatte er die Zügel seines Rosses losgelassen; der kleine Gaul riß sich ihm mit einer Kopfbewegung aus der Hand und sich frei fühlend schlug auch er sofort den Heimweg von diesen unwirthlichen Höhen dahin, woher er gekommen ein. Fleischer, der die üblen Folgen dieses Zwischenfalls augenblicklich überschaute, rannte eine Strecke hinter ihm her. Aber da vier Beine rascher vom Fleck bringen als zwei, so war die kleine Jagd nutzlos und der junge Mann stand bald davon ab und kehrte mit einem einigermaßen erschrockenen Gesichte zurück.

Sie hatten Recht … es ist sehr fatal, war die etwas ärgerlich ausgesprochene Bemerkung, womit er empfangen wurde.

Der Wind kam in diesem Augenblick mit einem heftigeren Stoß und Rauschen herab, als je vorher, und Fleischer mußte laut rufen, um verstanden zu werden, als er antwortete.

Sehr fatal … ich freue mich, daß ich zurückgekommen bin. Es bleibt jetzt nur eins übrig; Sie müssen sich gefallen lassen, von mir geführt zu werden. Nehmen Sie diese Decke um, die Sie nöthiger haben, als ich und ich will Ihnen den Weg zurück zeigen.

Fräulein Juliens hübsche Augen glänzten eigenthümlich auf.

Nein, sagte sie kurz angebunden – es ist so kalt nicht – behalten Sie Ihren Shawl!

Im selben Augenblick zeigten ihre zitternden Lippen, wie sehr sie die Wahrheit sprach.

Es fällt mir nicht ein, zurückzugehen, sagte sie hinzu. Ich will hinauf!

Fräulein von Marwigk, das ist reine Unvernunft! Es ist unmöglich. Der Sturm ist jetzt schon schlimm genug, wie Sie sehen. Es wird aber viel schlimmer werden, wenn Sie höher kommen. Ich könnte es nicht verantworten, wenn ich zuließe, daß Sie weiter gehen.

Ihr bisher blasses Gesicht röthete sich plötzlich, als sie erwiederte:

Ich werde vorwärts gehen. Meine Bekannten werden doch endlich wegen meines Zurückbleibens beunruhigt werden und mir jemand entgegensenden. Aber, gehen Sie mit mir, für den Fall eines Unfalls,

Jetzt war an Fleischer die Reihe gekommen, ärgerlich zu werden.

Es thut mir leid, bei Ihnen auf eine so merkwürdige Hartnäckigkeit gegen meinen Rath zu stoßen. Aber in Gottes Namen. Es soll mich nicht abhalten, Sie zu begleiten, weil ich weiß, Sie kennen die Gefahr nicht, in die Sie sich eigensinnig stürzen, und die wahrhaft schrecklich ist. Also, wenn Sie dabei bleiben, so werde ich Sie nicht verlassen. Aber ich warne Sie vor den Folgen Ihrer Thorheit.

Fräulein Julie hielt ihre Lippen fest geschlossen und begann, ohne zu antworten, weiter zu steigen. Fleischer blieb an ihrer Seite. Fünf Minuten lang stapften und arbeiteten sie sich vorwärts. Die Schlossen schlugen ihnen in's Gesicht und drangen wie Nadeln in die Wangen. Der Regen durchdrang ihre Kleider und machte sie schwerer und schwerer. Die Winde umbraus'ten sie wilder als vorher. Ihre Füße versagten ihnen auf dem schlüpfrigen Felsengeschiebe den Dienst.

Fleischer blieb plötzlich stehen.

Es ist reiner Wahnsinn, sagte er; der Weg ist schrecklich und meine Augen sind vollständig geblendet. Wäre ich ganz allein, so würde ich nicht wagen, weiter zu schreiten. Sie, Fräulein, können nicht hoffen, auch nur zehn Minuten lang noch vorwärts zu kommen.

Es scheint, sagte sie, am ganzen Körper vor Kälte zitternd, daß Sie Angst haben!

Ja, entgegnete er rasch und scharf, ich habe Angst, ein Weib sterben sehen zu müssen, ohne ihr helfen zu können. Ich habe Angst, wenn ich ein Leben ruchlos in Gefahr setzen und fortwerfen sehe!

Zum erstenmal wandte sie sich und sah ihn voll an. Sein Auge begegnete fest und ruhig dem ihren; und in demselben Augenblick fühlte sie ihre Zuversicht schwinden und ward unentschlossen.

Ich überlasse es Ihnen, sagte sie halblaut – ich glaube, Sie haben Recht.

Nun wohl, erwiederte er ruhig, so kehren wir um.

Sie stiegen niederwärts. Aber nach wenigen Schritten blieb er stehen, und blickte aufgeregt um sich her. Dann machte er wieder ein paar Schritte, um dann abermals stehen zu bleiben. Darauf ließ er das junge Mädchen allein, um eine kleine Strecke nach rechts und dann nach links zu gehen, immer wie suchend und forschend.

Fräulein von Marwigk, sagte er endlich, zum höchsten Erschrecken der Dame, es ist jetzt ganz einerlei, wer von uns beiden der Führer ist. Ich finde mich nicht zurecht, wir haben den Weg verloren!

Bei diesen Worten wurde sie von dem ganzen Gefühl ihrer gefährlichen Lage überwältigt.

O mein Gott! was ist dann zu thun, was ist zu thun? rief sie aus – sind wir denn hoffnungslos verloren?

Hoffnungslos nicht, versetzte er; unsere Lage ist aber schlimm genug und wir dürfen hier nicht müssig stehen bleiben. Wir müssen versuchen, den Weg wieder zu finden, dürfen uns aber vor allen Dingen nicht trennen. Unsere Stimmen können in der kleinsten Entfernung nicht mehr vernommen werden, und in diesem Sturm und Wetter reichen die Augen nicht viel weiter als die Stimmen. Aber, fuhr er fort, da er in ihrem ganzen Wesen eine gränzenlose Entmuthigung gewahrte, lassen Sie darum nicht den Muth fahren nehmen Sie ihn zusammen, Sie haben wahrhaftig Alles nöthig, was Sie davon besitzen!

Ihre bessere Natur zeigte sich jetzt.

Ich bin nicht feige, sagte sie, und was mich betrifft, so kann ich auch die Folgen meiner Unbesonnenheit über mich ergehen lassen. Aber ich bin Schuld daran, daß auch Sie in Gefahr sind und vielleicht an Ihrem Untergange … und das würde ich mir nicht verzeihen …

Ich habe Ihnen bisher Unrecht gethan, antwortete der junge Mann edelmüthig, und ich danke Ihnen, daß Sie mein Vorurtheil zerstören. Aber reden Sie jetzt nicht von Tod. Es steht mit uns so schlimm doch noch nicht!

Obwohl er kühn und zuversichtlich dies aussprach, war er doch nicht im Stande, sich selber seine Sorge und Angst zu verhehlen. Der Sturm wuchs, er selbst war erstarrt von Kälte, und das Tageslicht war bereits in Dämmerung geschwunden. Zusammen irrten sie umher, um den Weg zu entdecken. Aber ganz fruchtlos. Die Dunkelheit wuchs dabei zusehends.

Ich kann mich nicht länger aufrecht halten, sagte Julie endlich. Wir haben nichts mehr zu hoffen – sagen Sie mir die Wahrheit!

Wir können den Weg nicht finden, versetzte er; aber es ist uns noch eine Aussicht geblieben. Kommen Sie hierhin, mir nach.

Dabei führte er sie sorgsam einen steilen, von zertrümmerten Felsmassen gebildeten Abhang hinunter. Ohne eine Frage an ihn zu richten, ohne einen Augenblick zu zögern, folgte sie ihm.

Das heißt, ohne ihn zu fragen; sich selbst aber hatte sie längst begonnen, unruhige Fragen zu stellen.

War dieser Mann denn wirklich, wofür sie ihn gehalten hatte?

Sein Wesen, seine Sprache, sein rücksichtsvolles Benehmen gegen sie war nicht das eines Bedienten. Es war nicht möglich!

Und doch hatte er ja das Einführungsschreiben an ihre Tante bei sich. Sie konnte sich nicht enthalten, noch einmal darauf zurückzukommen.

Ist das Billet, von dem Sie sprachen, Ihnen vom Herrn von Dallwitz gegeben? fragte sie.

Welches Billet? fragte Fleischer verwundert über diese plötzliche Frage.

Das für meine Tante!

Ja wohl, von Herrn von Dallwitz, entgegnete er, noch immer erstaunt über solch' eine Frage in solch' einer Situation.

Die Antwort war überzeugend! Und doch war es schwer sich überzeugen zu lassen!

Am Fuße des Abhangs blieb Fleischer stehen und suchte sich zu orientiren.

Was haben Sie vor? fragte das junge Mädchen.

Merken Sie nicht, daß der Sturm uns hier mit geringerer Stärke trifft? Hier hinunter finden wir einen theilweisen Schutz. Der Wind kommt von Links her. Wir müssen uns nach Rechts halten. Ich hoffe, wenn wir um die Ecke dieser Felspartie sind, werden wir eine erträgliche Stelle finden. Auf irgend eine Weise müssen wir uns dann einzurichten suchen, um aushalten zu können.

Aber wie wird das möglich sein?

Nun, ich werde den geschütztesten Fleck suchen. Vielleicht entdecken wir eine Felsspalte, oben, dem Gipfel näher, gibt es viele, aber auch hier in dieser Gegend mögen dergleichen sein, worin wir uns bergen können. Mit meinem Shawl und meinem Ueberrock, wenn es nöthig sein sollte, wird es Ihnen möglich sein, die Nacht hindurch auszuhalten.

Die ganze Nacht hindurch?! sagte Fräulein von Marwigk, als ob sie daran noch gar nicht gedacht hätte … Sie scherzen wohl?

Der junge Mann dachte nicht mit Unrecht, daß für zimperliche Anwandlungen der Augenblick nicht geeignet sei. Deshalb sagte er kalt und ruhig:

Gehen wir weiter – verlieren wir die Zeit nicht.

Hören Sie, fiel Julie ein, deren frühere capriciöse Sprödigkeit zurückgekehrt schien, diesen Vorschlag kann ich nicht annehmen. Es wird Ihnen die Andeutung genügen, daß ich weiß, wer Sie sind. Ich kenne Ihre Stellung und Sie werden sie nicht vergessen.

Fräulein von Marwigk, erwiederte Fleischer, Sie werden nicht daran denken, daß ich in diesem Augenblick mich mit Ihnen in Erörterungen über irgend etwas einlasse. Wenn Sie mich kennen, so werden Sie wahrscheinlich auch wissen, daß, wo ich alle meine Kräfte aufbiete, um Ihr und mein Leben zu retten, ich zu weiteren und anderen Gedanken keine Lust habe. Wir schweben Beide viel zu nahe am Rande des Todes, um überdelicat zu sein.

Der Stich zuckte bei derselben. Sie fühlte, daß sie ihn hervorgerufen und daß sie ihn verdient hatte.

Deshalb antwortete sie nur: Sie mögen Recht haben, und beschloß innerlich all' das Widerstreben aufzugeben, welches nur ihre Schwachheit offenbarte.

Nachdem sie langsam und mühselig noch zehn Minuten lang sich weiter geschleppt hatten, hielten sie an, um Athem zu schöpfen.

Es ist schlimmer hier, wir sind in einem vollständigen Orkan! sagte sie tief erschöpft.

Und doch muß es besser werden. Diese plötzliche furchtbare Gewalt des Windes beweis't, daß wir einer scharfen Ecke der Felsenwand nahe gekommen sind.

In der That war es so; noch einige Minuten und sie standen geschützt und getröstet unter einer überragenden Klippe, hinter einem Vorsprung, an dem, zwei Ellen von ihnen, der Sturm mit wahrer Wuth vorüberbraus'te, ohne sie erfassen zu können.

Es war unterdeß so dunkel geworden, daß die nächsten Gegenstände nur noch in Umrissen sichtbar waren. Fleischer stöberte eine Weile umher und entdeckte so einen Winkel, wo vier oder fünf Felsenstücke, die lose übereinander lagen, noch einen Schutz mehr gaben. Hierhin führte er Julie, die erschöpft aufathmend, sich niedersetzte. Er zog eine kleine Jagdflasche, die mit Rum gefüllt war, hervor und forderte sie auf, davon zu nehmen.

Trinken Sie so viel davon, wie Sie nur immer können, sagte er; dann, wenn Sie Ihre Hände und Füße von der Kälte steif werden fühlen, gießen Sie etwas auf dieselben, ohne die Handschuhe oder Stiefelchen zu entfernen. Und dann trinken Sie wieder so wie vorher.

Julie kam jetzt erst so viel zur Besinnung, um das äußerst Unangenehme ihrer Lage ganz einzusehen. Sie zitterte am ganzen Leibe vor Kälte. Fleischer bemerkte dies und hüllte nun seinen großen Shawl um sie, ohne sie erst zu fragen, und Julie ließ es schweigend geschehen.

Glauben Sie, daß sie nach mir schicken und suchen werden?

Wer? Ihre Freunde?

Ja. Ihre Sorglosigkeit ist abscheulich und unverantwortlich. Sie denken nur an sich selbst!

Sie haben höchst wahrscheinlich heruntergeschickt – aber wir sind ja vom Wege abgekommen!

Sie hätten früher sich nach mir umsehen sollen, fiel das Fräulein ein; es ist empörend, daß meine Freunde mich meinem Schicksal überlassen haben, und daß ich gerettet worden bin durch einen Bed… Begegnenden, den der Zufall daherführte.

Läuft es nicht auf Eins hinaus, wenn Sie nur gerettet sind?

O nein, durchaus nicht. Ich versichere Sie, daß ich es nicht vergessen werde. Für jemanden wie Sie, ist es eine edle Handlung, und das werde ich stets behaupten.

Den Namen verdient es durchaus nicht, fiel Fleischer ein. – Fühlen sie sich in einer erträglichen Lage jetzt?

O ganz erträglich! versetzte Julie – und fügte dann etwas schüchtern hinzu:

Fühlen Sie sich wohl?

O doch, entgegnete er. Ich habe meinen warmen Rock und Alles; mir ist ganz behaglich zu Muthe.

Ich fragte darum, fuhr das Fräulein fort, weil ich nicht wünsche, Sie Ihres Shawls zu berauben, wenn Sie ihn nöthig haben.

O durchaus nicht, antwortete er. Und dann nach einer Pause sagte er:

Können Sie schlafen, Fräulein von Marwigk!

Schlafen? nein … ich möchte um die Welt nicht schlafen – d. h. ich könnte es nicht. Ich habe kein Verlangen darnach.

Die Anstalten dazu, entgegnete Fleischer, sind in der That nicht besonders einladend; die Kissen sind von Granit und der Regen liefert die Betttücher. Die Natur gibt wohl eine Herberge, aber sie ist selten ein verbindlicher Wirth, der es einem bequem zu machen sucht. Unser Wirth unten in Schmiedeberg ist dagegen noch ein wahrer Engel …

Fräulein vor Marwigk war noch nicht in einer Stimmung, um sich einer Conversation mit ihrem Retter hinzugeben. Sie schwieg. Nach wenigen Minuten Verlauf war sie trotz aller Entschlüsse, um die Welt nicht dem Schlafe sich hinzugeben, in einen ruhigen festen Schlummer gesunken.


5.

Etwa gegen fünf Uhr Morgens bewegte das Fräulein sich, streckte die Hand aus, stieß damit gegen eine Felskante und erwachte, einen leisen Schrei ausstoßend.

Den Oberkörper erhebend, schaute sie wie noch halb ohne Bewußtsein um sich, und kam dann zur Erkenntniß ihrer Umgebung, ihrer Lage und ihres Erlebnisses. Zuerst bemerkte sie zu ihrer Freude, daß im fernen Osten strahlend die Sonne stand. Dann ging sie dazu über, ihre Kleider glatt zu streichen und zu ihrer Ueberraschung entdeckte sie, daß ein schwarzer Rock über ihre Füße und Arme ausgebreitet lag. Wie kam er dahin? von dem Shawl, der sie umhüllte, wußte sie es – aber der wärmende Rock – auch den hatte also dieses edelmüthigen Mannes Sorgfalt ihr überlassen! Was sollte sie darüber bemerken, mit welchen Worten in passender Weise ihm danken?

Es war eine seltsame Ueberlegung! Er hatte ihr das Leben gerettet, und sie dachte darüber nach, wie sie ihn in dem rechten und sich geziemenden Maße, ohne sich etwas zu vergeben, danken dürfe! Die Art, wie sie erzogen worden war, hatte ihr Eines beigebracht, das Herz gab ihr das Andre ein. Sie sprang endlich auf und sah sich nach ihrem Begleiter um.

Er stand in einiger Entfernung von ihr, offenbar versunken in den Anblick der weiten Fernsicht, die vor ihm lag. Sobald er sie wach erblickte, kam er heran.

Ich habe keine Ausdrücke, Ihnen meinen Dank zu sagen, begann sie mit einer tiefen inneren Bewegung. Es wäre auch überflüssig, Ihnen zu danken, denn Alles, was ich sagen könnte, würde sehr schwach und matt lauten in Vergleich zu dem, was ich fühlen muß!

Fleischer blickte ein wenig verlegen umher, als ob er eine Beschämung empfinde, die sich steigern müsse, wenn er ihrem Blicke begegne. Er vermied auch auf dieses Gesprächsthema einzugehen und sagte nur:

Ich hoffe, Sie haben sich ausgeruht?

Das habe ich.

Haben Sie von der Kälte gelitten?

Nein, – dafür haben Sie ja Sorge getragen. Nehmen Sie Ihren Rock zurück. Sie thaten Unrecht, ihn auszuziehen.

O, meinen Rock … ich habe ihn so gut entbehren können …

Sie blickte ihn mit einer gerührten Freundlichkeit an.

Und wie haben Sie geschlafen? fragte sie.

Ich? Um die Wahrheit zu gestehen, ich habe es gar nicht versucht.

Sie haben gar nicht geschlafen?

Nein … denn ich dachte, es könnte sein, daß man nach Ihnen suche und ich wollte wach bleiben, um aufzuhorchen, ob nicht vielleicht gerufen würde. Es war nöthig, um unserer Beider willen …

O, ich verstehe Sie …

Sind Sie im Stande, sich jetzt gleich auf den Weg abwärts zu machen?

Können Sie den Weg finden?

Der ist glücklicher Weise schon gefunden. Ich habe mich diesen Morgen gleich an's Suchen gegeben und ihn denn auch glücklich entdeckt.

Gott sei gelobt! Dann lassen Sie uns sofort aufbrechen!

Sie machten sich auf den Weg. Der junge Mann blieb gleich darnach wieder stehen und nahm einen Ballen Schnee auf, den er einige Schritte seitwärts gefunden, in seinem Taschentuch mitgebracht und hier niedergelegt hatte.

Ich dachte, es würde Sie interessiren, sagte er, zu sehen, durch welche Art von Sturm Sie gestern Abend sich weitergearbeitet haben. Daß so etwas in August vom Himmel hinunterfällt, ist ein wenig ungewöhnlich, wenn gleich es hier im Gebirge öfter vorkommt. Ich will versuchen, es mit nach unten zu nehmen, obwohl es im Schmelzen begriffen ist.

In der That, sagte sie, der Schnee ist im Schmelzen begriffen.

Sie gingen nun lange neben einander, wenig redend. Als sie aus dem Felsengewirre heraus und auf ebenen betretenen Boden gekommen, sagte der junge Mann:

Es ist wärmer hier. Sie haben den dicken Shawl jetzt nicht mehr nöthig. Geben Sie ihn mir.

Wenn er angenehm und eine Wohlthat ist, geben Sie ihn mir, und wenn er lästig wird, beschweren Sie sich damit, entgegnete sie; nein, nein, das geht nicht!

Aber Fleischer bestand darauf – und sie mußte nachgeben.

Wir sind nicht weit mehr von unserem Ziele, sagte er nach einer geraumen Weile; glücklicher Weise ist es noch früh – Sie werden nicht mit so vielen Fragen belästigt werden, wenn wir ankommen.

Er öffnete dann das Tuch mit dem Schnee.

Der Schnee ist fort, sagte er sehen Sie, er ist ganz geschmolzen.

In der That – er ist geschmolzen, versetzte sie mit einem Ernst, der ihm im Augenblicke nicht ganz erklärlich war.


6.

Sie waren glücklich im Hotel des Städtchens, von dem sie ausgegangen, wieder angekommen. Es war noch sehr stille und leer auf dem Flur und in dem Gastzimmer des Hauses, und sie traten ein, ohne einem dienstbaren Geist zu begegnen. Fleischer führte Fräulein von Marwigk zu einem Sopha und sagte:

Ruhen Sie sich hier aus, bis ich einen Kellner herbeihole, der Sie zu Ihrem Zimmer zurückführt.

Als er sich jedoch zum Gehen wendete, wurde sein Gesicht von plötzlicher Blässe überzogen, ein Fieberfrost schüttelte ihn und er sank, unfähig einen Schritt weiter zu machen, auf einen Stuhl.

Was ist Ihnen – Gott im Himmel, was fehlt Ihnen, rief das Fräulein aufspringend aus.

Nur ein wenig Frösteln, sagte er, nur eine kleine Anwandlung von Erschöpfung, aber nichts von Bedeutung – und dabei zeigte sein verunglückender Versuch, sich zu erheben, nach welchem er besinnungslos zurückfiel, wie wenig bedeutend in der That diese Anwandlung war.

Das junge Mädchen zog heftig die Klingel und ein paar Kellner kamen herbei; Julie ließ sich frisches Wasser bringen und spritzte es ihm in's Gesicht. Er kam wieder zu sich und das Fräulein fragte nun den eben hereintretenden Wirth:

Welche Zimmer haben Sie frei?

Sehr wenig.

Aber das, welches ich hatte, doch.

Das allerdings

So lassen Sie den Herrn dahin führen. Bieten Sie Alles zu seiner Pflege auf. Und senden Sie nach einem Arzt, auf's schleunigste nach einem Arzt …

Fleischer wurde fortgeführt. Julie aber war in solcher Aufregung, daß sie Alles dessen, was sie selber bedurfte, vergaß und am Fenster des Gastzimmers stehend die Erscheinung des Arztes abwartete. Er kam endlich, ein behäbiger und Zutrauen einflößender alter Herr.

Wenden Sie Ihre ganze Sorge dem Kranken zu, sagte ihm das Fräulein. Er hat mir das Leben gerettet, indem er seines in Gefahr setzte. Während der verflossenen Nacht, in dem heftigen Sturm, hat er sich aller Ueberkleider beraubt, um mich damit vor dem Unwetter und der Kälte zu bewahren. Er ist sehr unwohl, doch nicht so unwohl, daß Ihre Kunst ihn nicht bald wieder herstellen kann, hoffe ich …

Der Doctor hörte diese Worte mit einem sehr freundlichen Gesichte und einem gewissen, wie verständnisvollen Lächeln an und beruhigte Julie mit allen möglichen Zusicherungen; dann ging er hinauf zu dem Kranken.

Julie fühlte jetzt zum ersten Male seit ihrer Ankunft, wie übel ihr selber zu Muthe und wie feucht ihre Kleider waren. Sie fühlte ein Frösteln durch ihren ganzen Körper rieseln. Zum Glück erschien eine kleine Gesellschaft von einlogirten Damen, die zum Frühstück in das Gastzimmer herunterkamen und die Julie von Warmbrunn her kannte. Man umringte sie und nachdem sie sehr flüchtig und skizzenhaft ihr Abenteuer angedeutet, bot ihr eine derselben ihr Zimmer an. Ihre zurückgelassenen Sachen wurden dahin geschafft und nach einer halben Stunde tauchte Fräulein von Marwigk frisch gekleidet und nur noch ein wenig angegriffen aussehend wieder in dem Gastzimmer auf. Sie suchte den Doctor und fand ihn noch anwesend.

Es geht ihm wohl genug, sagte der Arzt – ein wenig erschöpft und hin, aber nicht besorglich. Ein paar Tage Ruhe werden ihn wieder herstellen.

Welche Last nehmen Sie mir vom Herzen!

Vielleicht, fuhr der Doctor fort, würde es ihm nicht schaden, wenn Sie selbst auf einen Augenblick zu ihm gingen, um nach ihm zu sehen!

Ich … nein, das kann ich nicht …

Nun, so muß er ein paar Tage warten, bis er Sie wieder sieht.

Sagte er denn, hub Julie nach einer Pause wieder an, daß er es wünsche, mich zu sehen?

Nein, er sagte es nicht; aber er schien zu glauben, Sie hätten mehr gelitten, als er, und forderte mich auf, nach Ihnen mehr zu sehen, als nach ihm. Ich dachte, es würde ihm eine Herzenserleichterung sein, wenn er sich mit eigenen Augen überzeugte, wie wohl Sie sich befinden.

Wenn Sie sagen, daß es zu seiner Wiederherstellung nöthig sei, daß er mich sehe, dann ist es etwas Anderes … dann wäre es Unrecht von mir, wenn ich mich weigerte. Kommen Sie, ich will mit Ihnen gehen.

Der Doctor lächelte wie ein Schalk und führte sie hinauf.

Hier kommt ein Besuch für Sie, mein Herr Patient, sagte er, in das Zimmer des jungen Mannes tretend.

Ah, – Fräulein von Masrwigk – das ist in der That sehr gütig von Ihnen.

Seine Stimme war fest genug, aber seine Hand, die auf der Decke lag, zitterte in einer Weise, welche er nicht zu beherrschen vermochte. Es war offenbar, daß seine Kräfte eine furchtbare Erschütterung gelitten.

Ist es wirklich nicht gefährlich? flüsterte Julie dem Doctor zu.

Nicht im Mindesten, nicht im Mindesten! versetzte der alte Herr und dabei verließ er das Zimmer.

Julie Marwigk erschrak darüber. Aber sie fühlte sich nicht versucht, ihm sogleich zu folgen: sie konnte doch nicht wieder gehen, ohne einige Worte zu sagen!

Was kann ich für Sie thun, hub sie an … es gibt nichts, was ich Ihnen, wenn Sie es wünschen sollten, nicht zu verschaffen mich bemühen würde. Es ist mir ein großer Kummer, Sie so zu sehen!

Ich habe durchaus keine Wünsche, antwortete er … ich danke Ihnen von Herzen – aber vielleicht sind Sie so gütig, einen Blick auf dieses Billet zu werfen – ich hoffe, Sie vergeben mir jetzt das offene Geständniß, daß ich gestern abschlug, es Ihnen auszuhändigen, weil Sie mich etwas hoffährtig dazu aufforderten. Da wir nun aber mit einander bekannt geworden sind, ohne die Vermittelung der Frau von Dallwitz dabei bedurft zu haben, so bitte ich Sie, es jetzt zu lesen.

Er zeigte auf der Tisch, wo das Billet lag. Mit einer Bewegung nahm Julie Masrwigk es auf und las folgende Worte:

»Meine theuere Marie!

Der Ueberbringer dieser Zeilen ist Herr Fleischer Eltisberg, der Sohn eines der bedeutendsten und reichsten Industriellen im S…schen. Er kehrt eben von Reisen zurück und brachte mir Grüße von seinem Vater, mit dem ich in langer Geschäftsverbindung stehe. Er verlangt das Billet zur Einführung bei Euch, namentlich will er Julien vorgestellt sein, da er mit ihrem Bruder auf seiner Reise zusammengetroffen und befreundet mit ihm geworden ist. Er wird Euch eine sehr angenehme Bekanntschaft sein.

Deine Angaben über Deinen Aufenthalt und den Tag Deiner baldigen Rückkehr sind so unbestimmt, daß ich vorgezogen habe, den Bedienten gar nicht abzuschicken, sondern ihn hier halte.

Mit herzlichsten Grüßen Dein getreuer

Caspar von Dallwig.«

Nachdem sie etwa fünf Mal diese Zeilen überflogen, nahm Fräulein Julie von Masrwigk ihren Muth so weit zusammen, um aufzublicken. Da sie aber dabei dem Auge des jungen Mannes begegnete, begann sie sofort wieder das eben unterbrochene Studium dieses wie es schien so schwer zu enträthselnden Billets.

Interessirt es Sie so? fragte er.

Herr Fleischer, antwortete sie, ich sehe, ich bin nicht die erste in unserer Familie, die Ihnen auf's Tiefste verpflichtet ist. Mein Bruder hat mir von Ihnen geschrieben und von den großen Gefälligkeiten, welche Sie ihm erwiesen haben. Ich habe schon von Ihnen gehört …

Ah, mein gnädiges Fräulein reden wir nicht davon – es ist so unbedeutend …

Aber warum ließen Sie mich im Zweifel darüber – warum sagten Sie mir es nicht …?

Habe ich meinen Namen Ihnen nicht genannt?

Wie konnt ich daran denken – Ihr Name ist ein so verbreiteter – hören Sie, Herr Fleischer, es hat ein großes Mißverständniß zwischen uns gewaltet – so peinlich es sein mag, will ich mir doch die Buße auferlegen, es offen zu gestehen – ich hoffe, Sie werden dann mein unverzeihliches Betragen ein wenig entschuldigt finden …

Aber ich bitte Sie, mein Fräulein …

Nein, Sie sollen mich anhören – und dann fuhr sie fort und legte ihm das ganze Qui pro quo offen.

Er schien kein übermäßig großes Gewicht darauf zu legen – desto lebhafter aber rief sie am Ende ihrer Mittheilung aus:

Daß ich Sie als einen Bedienten behandeln konnte, ich – fügte sie mit hochrothen Wangen hinzu – die Ihnen mein ganzes Leben hindurch von diesem Tage an zu dienen schuldig wäre!


7.

Am Nachmittage kamen die Freunde und Freundinnen Juliens in größter Sorge um sie von ihrer Bergreise zurück. Als sie sie wohl und gesund vor sich sahen, brachen einige der jungen Damen in Thränen aus und ein paar waren nahe daran, hysterische Anfälle zu bekommen. Fräulein von Marwigk nahm sie ziemlich kühl auf und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß diese außerordentliche Theilnahme ihr erfreulicher gewesen wäre, wenn sie sich am vorigen Tage gezeigt und bethätigt hätte. Sie erklärte zugleich, daß sie sie nicht länger belästigen wolle, da sie ihrer Tante geschrieben habe, herüberzukommen und sie dieselbe baldigst erwarte. Auf diese Mittheilung folgten einige wahrhaft erschütternde kleine Abschiedsscenen, vermischt mit rührenden Versöhnungen und Ausdrücken ungemessener Bewunderung des Herrn Fleischer-Eltisberg.

Am nächsten Tage tauchte das Gestirn der gnädigen Frau von Dallwitz leuchtend über Schmiedeberg auf. Sie war voll Dankbarkeit für die edelmüthige Rettung ihrer theuern Nichte. Aber sie fand, nachdem Julie ihr Alles genau erzählt, es doch von dem Herrn Fleischer ein wenig unverantwortlich, daß er zuerst die Rolle eines Bedienten gespielt, um sich incognito einzuführen. Sie fand, daß dies eine unwürdige Mystification sei. Julie hatte sehr viel zu thun, ihr klar zu machen, daß das Incognito nicht seine, sondern lediglich ihre Schuld gewesen war. Worauf die alte Dame dann laut erklärte, daß sich dann allerdings Herr Fleischer mit vielem Tact und Anstandsgefühl benommen habe, obwohl bei Allem dem doch immer ein höchst anstößiger Umstand in der Geschichte blieb. Daß ihre Nichte eine Nacht auf einem Berge zusammen mit einem Fremden zugebracht hatte, – wenn auch mit einem, der sich so musterhaft betragen, wie Herr Fleischer – war etwas, über das sie sich nicht zu beruhigen wußte.

Nun vielleicht – sagte das junge Mädchen, indem sie tief erröthete – vielleicht, Tante – und sie flüsterte das Andere ihr in's Ohr.

O wenn das sein sollte, entgegnete Frau von Dallwitz lebhaft, so hat es nichts zu sagen, dann bin ich beruhigt. –



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