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I. Theil.
Das Mißverständniß

* * *

1.

Es würde nicht Recht sein, lieber Leser, Dir eine Geschichte, wie sie auf den folgenden Blättern enthalten ist, zu erzählen, wenn es sich darin um reine Gebilde der Fiction handelte. Menschen, um deren Macht die Einrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft keine hemmenden Schranken zogen, haben sich zu allen Zeiten ihren Leidenschaften in einer Weise hingegeben, daß es wahrlich nicht nöthig ist, ihnen auch noch Handlungen anzudichten, die sie nicht begangen haben. Was wir erzählen, beruht auf wirklichen Thatsachen, so unglaublich sie Dir auch vorkommen mögen – Gott sei Dank, daß dem so ist, daß dem Geschlechte von heute Vieles als unglaublich und ganz unmöglich erscheint, was doch leider den Generationen vor uns nur zu sehr als im Bereiche der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit liegend erscheinen mußte; den Generationen jener Zeit wenigstens, als das unter tausend großen und kleinen Landherrn stehende Vaterland noch viel schutzloser und mehr der Willkühr Preis gegeben war, als in den rohesten Zeiten des Mittelalters. Im Mittelalter hatte doch wenigstens der kräftige Mann, der Bürger, der einen Spieß und eine feste Eisenschiene für seinen Arm bezahlen konnte, die Erlaubniß, sich mit diesem Arm zu schützen; und die Fürsten dachten noch nicht an jenes erst später von ihnen ausgebildete System der Ausbeutung ihrer Unterthanen, wonach sie die letzteren, wie der König von Dahomey sein » black cattle« einfangen ließen und als Waffensclaven nach einem bestimmten Tarif für den Kopf an die Republik Venedig, an die hochmögenden Herren General-Staaten oder an die Engländer abließen. Es war das die »deutsche Freiheit« – der Fürsten nämlich, für die man im dreißigjährigen Kriege sein Blut vergossen und um derentwillen man die Kaisermacht gebrochen.

Unter einem jener Fürsten, die den viel beklagten Industrialismus des neunzehnten Jahrhunderts auf so geniale Weise schon im achtzehnten überholten und, was die Zeit angeht, etwa in der Mitte des letztgenannten Jahrhunderts … aber zuerst wollte ich Dir ja, mein verehrter Leser, sagen, daß ich diese Geschichte nicht aus der Luft greife, sondern daß ein wahrheitliebender Mann sie mir mitgetheilt hat, mit der Versicherung, sie sei wörtlich so in handschriftlichen Aufzeichnungen der Hauptperson unseres Drama's zu lesen, nebst noch vielen höchst merkwürdigen und drastischen Dingen ähnlicher und verwandter Art.

Und nun kann ich beginnen:

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts also, an einem warmen Frühsommertage, lag ein junger Mensch, zu Tode ermattet, und wie abgehetzt, mit zerrissenen Kleidern im Graben neben einer Heerstraße – unter einer Gruppe von Linden, die an der Seite des Grabens auf einem kleinen Weideanger standen und ihren Schatten bis über die staubigen Fahrgeleise des Weges warfen. Auf dem Gesichte des jungen Menschen lag eine tiefe Niedergeschlagenheit und diese Niedergeschlagenheit schien ihn stumpf zu machen gegen Alles um ihn her; denn er sah, oft schmerzlich tief aufathmend, starr vor sich hin und bemerkte nicht, wie die seltenen Wanderer, die des Weges zogen, verwunderte Blicke auf ihn warfen, und, wenn sie zehn Schritte an ihm vorüber waren, stehen blieben, und sich zurückwandten, um nach dem seltsamen Menschen zu schauen, der seinem Aeußeren nach ehrlicher und anständiger Leute Kind zu sein schien und doch so zerfetzt und mitleidswürdig aussah; er bemerkte auch nicht, wie die Sonne westwärts weiter rückte, und der Schatten der Linden leise linkshin immer weiter und endlich über ihn fort glitt.

Nun, als die Sonnenstrahlen sein Gesicht trafen, blickte er empor, aber nur, um der Sonne den Rücken zuzuwenden und, den Kopf auf den Arm gestützt, weiter auf den Boden zu starren. Endlich traf etwas sein Ohr, was ihn aus seinem dumpfen Brüten erweckte, und dies war ein freundliches, von einer volltönenden Männerstimme gesprochenes Wort:

»Grüß Gott, Camerad, was ist's denn mit Euch?«

Der Gruß kam von einem wohlgekleideten, behäbig aussehenden Manne, der auf einem leichten, hellgrün angestrichenen und von einem starken Pferde gezogenen Wägelchen saß – der junge Mensch hatte nichts davon bemerkt, wie das Fuhrwerk von der nächsten Höhe heruntergerollt gekommen und wie der Mann darin, als er ihm zur Seite war, die Zügel angehalten und sich eine Weile mit anscheinender Theilnahme den trübseligen, wegemüden Burschen in Graben betrachtet hatte.

Auch jetzt erhob er bloß den Kopf, ohne auf des Mannes theilnehmende Frage eine Antwort zu geben.

»Was ist's denn mit Euch, Camerad, daß ihr hier liegt und so verzweifelt wie von Gott verlassen d'reinschaut?« fuhr nichts desto weniger der Fremde fort.

»Geht's Euch an?« versetzte kaum vernehmlich und den Kopf zur Seite wendend der junge Mann.

»Darum eben frag' ich,« entgegnete der Mann auf dem Wägelchen. – »Kann ja sein, daß mich's angeht. Eines Christenmenschen Unglück oder Noth geht mich immer dann an, wenn's so ist, daß ich ihm zu helfen vermag! … sonst freilich nicht!«

Der junge Mensch sah dem Andern jetzt voll und gerad in's Gesicht und nach einer Pause versetzte er:

»Helfen könnt ihr mir nicht, das kann Niemand – ich bin von den Seelenverkäufern, den Werbern eingefangen worden und bin ihnen diesen Morgen entwischt; aber ich darf nicht zurück nach Hause, und weiß nun nicht wohin in der weiten Welt, weder vorwärts noch rückwärts … wo ich mich sehen lasse, werden des Herzogs Steckenreiter mich schon wieder einfangen … und lieber als von ihnen mich mißhandeln, schlagen, wie ein Thier binden lassen, will ich in den Tod gehen …«

»Woher seid Ihr denn und wie heißt Ihr?« fragte der Mann im Wagen mit offenbarer Theilnahme.

»Ich heiße Brandlecht und habe in der Reichsstadt U. auf den Chirurgus studirt; jetzt war ich in meiner Eltern Haus in Lendingen und wollte mich nach einer Stelle umschauen.«

»Ihr heißt Brandlecht und seid ein Chirurgus und seid aus Lendingen daheim?« erwiederte der Andere nach sinnend. »Ja, ja,« fuhr er nach einer Pause fort, »es ist ein übel Ding um Eure Lage. Sie werden Euch schon wieder einfangen, 's richtig!« – Und dann, wieder nach einer Pause sagte er: »Aber da im Graben könnt Ihr doch nicht liegen bleiben … wollt Ihr mit aufsteigen, so will ich Euch wenigstens für die Nacht unter Dach und Fach bringen?«

»Was hilft's mir, ob ich hier oder anderwärts verkomme und verschmachte …«

»Nun, steigt immerhin mit auf – wir sprechen dann unterwegs davon, was wohl noch zu thun sein könnte für Euch – ich hab' nicht die Zeit, hier auf der Straße zu halten, ich muß vor Abend daheim sein! Also, steig auf, Mann!«

Der junge Mann erhob sich jetzt in der That und folgte der Einladung des gutmüthigen Fremden; dieser trieb, sobald jener neben ihm Platz genommen, sein Pferd zu einem hurtigen Trabe an.

»Also Chirurgus?« hub er noch einmal an … »und aus Lendingen daheim und anständiger Leute Kind?«

»Mein Vater hatte eine große Gerberei dort,« – bemerkte der junge Mann – »er ist aber todt.«

Der Andere schien nicht darauf zu achten, sondern redete mehr wie für sich und sinnend weiter.

»Und nun sind die Werber hinter Euch der … und Ihr wißt nicht, in welches Loch schlüpfen – vor den Bösewichtern – nun, hier auf meinen Wagen seid Ihr schon sicher vor Ihnen und in meinem Haus – da seid Ihr auch sicher, so viel ist gewiß – Ihr mögt Euch da dreist in die Thüre stellen und Ihnen die Tagzeit zum Gruße bieten, wenn sie daher kommen – glaubt's mir, es rührt Euch keiner an von ihnen!«

In Eurem Hause wär ich sicher – wie ist das?« jagte der junge Mann aufhorchend.

»So ist's – in meinem Haus – seid Ihr sicher – und habt Ihr keinen anderen Schlupfwinkel in der Welt – nun, so bleibt eben in Gottes Namen in diesem. Ihr sollt eine gute gemächliche Kammer, einen guten Lohn und bürgerliche Kost haben vollauf.«

»Und welches Geschäft habt Ihr denn, wozu ich Euch helfen und beistehen könnte, daß Ihr mir das bietet?«

»Ich will Euch nicht bereden,« sagte der Mann, ohne auf diese Frage zu antworten, »Gott behüte mich, daß ich aus Eurer Noth Vortheil ziehe – ich kann Euch brauchen, es ist wahr, und ihr sollet Euch über mich nicht zu beklagen haben. Ein paar tüchtige starke Arme habt Ihr – und wenn Ihr die Courage habt, die allzeit dazu gehört, wenn ein Mann sich redlich durch die Welt schlagen will, so hättet Ihr Alles, was nöthig ist. Daß Ihr ein Chirurgus seid, kommt uns dann noch ganz absonderlich gut zu paß – aber ich will Euch nicht zureden, junger Mann, der Himmel bewahre mich, es ist eine gar ernsthafte und schwere, gar bedenkliche Sache!«

Der junge Mann sah jetzt betroffen seinen Nachbar auf der schmalen grünen Holzbank an – der Mann wurde immer seltsamer mit seinen wunderlichen, wie aus Selbstgesprächen und aus Anreden an seinen Begleiter gemischten Worten.

»Was ist eine ernsthafte, bedenkliche Sache? Euer Gehülfe zu werden? Welches Gewerbe habt Ihr denn und wer seid Ihr?« fragte der Flüchtling deshalb jetzt entschiedener geradezu.

»Ja seht,« sagte der Andere, »oder,« unterbrach er sich wieder, »Ihr könnt's auch ohne viel Redens begreifen, was meine Handthierung ist.«

Damit wandte er sich über die Lehne seiner Wagenbank zurück, beugte sich nieder und hob ein Laken auf, welches da hinten auf dem Boden des Wagens lag.

Wie er das graue Linnentuch zurückschlug, nahm der junge Mann einen Gegenstand wahr, der ihn, von einem plötzlichen Grauen überrieselt, zurückfahren ließ.

Es war ein breites, nicht zu langes, in einer dunklen Lederscheide steckendes Schwert, das unter dem verhüllenden Linnen lag.

Entsetzt sah der Flüchtling seinen Begleiter an, und unwillkürlich war er von ihm fortgerückt.

»Ihr seid – ein Scharfrichter?!«

»Ich bin Bäumle, der Scharfrichter von Harzheim,« sagte der Mann ruhig, fast freundlich lächelnd.

Der Flüchtling neben ihm unterdrückte einen Ausruf, der auf seinen Lippen lag – er begnügte sich damit, stumm seinen Gefährten von der Seite zu betrachten.

»Ihr meint, ich hätte Euch das früher sagen können, bevor ich Euch auf mein Wägelchen lockte und Euch nun, wenn Ihr so neben mir gesehen werdet, für immer unehrlich machte,« fuhr der Scharfrichter fort. »Das ist nun wohl richtig – zum Glücke hat uns jedoch noch Niemand gesehen, der Euch kennt, und die Gefahr, daß es geschehe, ist auch nicht eben übermäßig groß – bis nach Lendingen über den Bergen da drüben ist's weit. Doch wenn Ihr wollt, könnt Ihr ja nun wieder hinunter springen – will auch anhalten, falls es Euch beliebt!

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Fahrt zu,« sagte er ingrimmig. »Ich kümmere mich heu verdammt wenig darum, ob die Menschen mich für ehrlich oder unehrlich halten – ich bin sicher neben Euch, und das ist mir genug; fahrt mich, wohin Ihr wollt!«

»Nun, nur nach Harzheim will ich Euch fahren. Und dort mögt Ihr überlegen, was ich Euch gesagt habe.«

»Da braucht's keiner Ueberlegung,« versetzte der junge Mann, »daraus wird nichts werden. Ich habe Lust genug, die Bösewichter, die mir solch' Leid's angethan haben, zu erwürgen und Ihren Herzog, der sie hinter ruhige unschuldige Leute hetzt, seht, den möchte ich –«

»Sagt nicht mehr als Ihr verantworten könnt, Camerad – ich bin des Herzogs Diener und esse sein Brod,« fiel fast wie erschrocken der Scharfrichter ein.

»Aber,« fuhr der junge Mann fort, »arme Teufel, denen des Herzogs Richter mit gelahrten lateinischen Brocken, von denen ich nichts verstehe und ein ehrlicher Christenmensch nichts capirt, das Leben abgesprochen haben, solche arme Sünder, die vielleicht noch ehrlicher von Haus aus sind, als wir alle zwei Beide, und nur durch Unglück oder durch die Einrichtungen dieser schuftigen Welt in's Unglück gestürzt – solchen armen Teufeln mit kaltem Blut den Strick um den Hals schlingen oder gar –«

»Ihr müßt's eben nicht so ansehen,« unterbrach ihn Bäumle achselzuckend. »Man muß eben denken, daß es Gottes Weltordnung und Gesetz so ist, und so war, seitdem die Welt steht. Es kann einmal nicht anders sein, und wenn sich Niemand dazu fände, so könnte Gottes Gesetz und Gerechtigkeit und eine ordentliche Obrigkeit nicht bestehen. Es ist ein schweres Ding, da habt Ihr Recht. Aber darum ist auch ein großes Verdienst dabei, denn wenn sich nicht Leute fänden, die's über sich nähmen, so wäre der Schrecken und das gute Exempel dahin, und die Missethäter würden die Ehrlichen vermolestiren, daß kein Aushalten mehr wäre auf Erden. Und so beruhen Zucht und Sitte und friedliches Auskommen der Menschen mit einander und die ganze christliche Ordnung am End' doch nur auf Unser einem!«

In dem jungen Manne schien diese Auffassung des Henkerthums als am letzten Ende des Grundsteins des ganzen gesellschaftlichen Gebäudes keine wesentliche Aenderung seiner Gefühle hervorzurufen; er sah schweigend und mit gerunzelter Stirn vor sich nieder – nach einer Weil sagte er mit einem Zuge bitteren Spottes um die kräftig ausgebildeten rothen Lippen:

»Nach Eurem Sinn sind also zwei Leute die wichtigsten in jedwedem Lande, so zu sagen die zwei Pole, die das Ganze zusammenhalten und um die es sich dreht: der Pol oben, das ist der Herzog, und der Pol unten, das ist der Scharfrichter. Der Eine regiert und der Andere sorgt dafür, daß sein Regieren Gehorsam findet.«

»Freilich,« antwortete bedachtsam Meister Bäumle; »und wenn die Leute dessen mehr Einsicht hätten, so wäre der Scharfrichter nicht ›unehrlich,‹ wie sie's nennen, sondern –«

»Er stände hoch in Ehren und käm' gleich nach dem Herzog,« fiel Brandlecht ein; »nun, ich hab mir's sagen lassen, daß es Fürsten gegeben hat, die ihn immer dicht neben sich hatten, und wo das Scharfrichterthum so etwas wie das Unterfutter der Fürstlichkeit war.«

»Wohl,« brach Meister Bäumle von diesem Gegenstand ab – »das mag schon gewesen sein. Aber bedenkt Euch die Sache; guter Rath kommt über Nacht; beschlaft's Euch einmal; eine gute Ruhestatt sollt Ihr auf den Abend bei mir finden, wenn Ihr's annehmen wollt im Haus des Henkers!«

»Ich danke Euch, Meister, für die Menschenfreundlichkeit, die Ihr mir beweis't; auch nehm' ich ein Nachtlager gern an: ich kümmere mich, wie gesagt, heute verzweifelt wenig darum, wenn ich Schutz und Sicherheit habe, in was für einem Hause ich's finde!«

Meister Bäumle fuhr hurtig zu, und ehe es dämmerte, sah man die Dächer und Giebel von Harzheim, einer in einem Thalgrunde freundlich und friedlich daliegenden kleinen Stadt vor sich. Bäumle fuhr aber nicht in die Stadt hinein, sondern noch bevor er das mächtige alte Thor mit seinen gothischen Thürmchen und Mauerzacken erreicht hatte, lenkte er rechts ab in einen Hohlweg, der sich zwischen den Mauern der Gärten und Baumhöfe, welche den Ort umgaben, leise ansteigend in die Höhe zog.

Wohl zehn Minuten mochte er so gefahren sein, als sich links ein hübsches, blankes, kleines Haus, aus Bruchsteinen aufgeführt und mit großen Schieferplatten gedeckt, zeigte, um welches ein hölzerner Balkon umherlief, dessen Geländer von Weinreben dicht übersponnen war, und an dem mehrere große Käfige mit Amseln und Singvögeln darin befestigt waren. Staugebäude und Wagenschoppen lagen rückwärts; vor dem Hause befand sich ein kleiner Garten mit Sonnenblumen und Phlox und Malven darin; sie rankten an der Holztreppe empor, die auf den Söller führte. Dichtwipfelige Obstbäume umgaben ,eine hinter dem Hause ansteigende Hügelwand bedeckend, das Ganze, das wie eine Stätte tiefsten ländlichen Friedens aussah.

»Das ist mein Haus!« sagte Meister Bäumle.

Eine Frau in reiferem Alter trat auf den Söller; sie winkte mit der Hand den Ankommenden freundlich zu, dann rief sie etwas in's Haus hinein, und im nächsten Augenblick erschien eine flinke hübsche Dirne, welche die Treppe hinab dem Meister Bäumle entgegen eilte, und, als sie den jungen Mann neben ihm gewahrte, mit einer raschen Bewegung noch auf der Stiege den aufgeschürzten Rock niederstrich. Dann kam sie heran und hielt das Pferd, während Bäumle und Brandlecht abstiegen.

»Wie geht's, Alles munter daheim?« fragte der Scharfrichter, dem jungen Mädchen mit seiner breiten Hand über den glatten blonden Scheitel fahrend.

»Wir sind alle wohlauf, Vater,« versetzte sie erröthend und begann das Pferd auszuspannen.

Meister Bäumle führte seinen Gast nun in sein Haus, wo die ältliche Frau, die ihrem Manne schweigend die Hand gab und ein eigenthümlich stilles und sanftes Wesen hatte, die Stubenthür vor ihnen öffnete.

Brandlecht sah sich mit einiger Ueberraschung in diesem Hause um. Es sah gerade so aus, als hätte man sich darin auf den Empfang eines Gastes vorbereitet, so gescheuert und geputzt und blank war alles. Er hatte ein solches Haus, klein und eng, und gebaut ganz wie das eines gewöhnlichen Ackerbauers, und dabei doch so hübsch gehalten, so schmuck und reinlich wie das eines Patriziers in der Reichsstadt U» wo er sein Gewerbe erlernt, noch gar nicht gesehen.

An den Wänden der Wohnstube hingen Bilder, die sanfte Schäferscenen darstellten, in der Ecke hing eine alte werthvolle Geige; in zierlich geschnitzten Bauern über den Thüren zwitscherten gelbe Kanarienvögel, und das junge Mädchen brachte, als es nach einer Weile eintrat, einen Blumenstrauß mit, den es in eine Glasvase auf die geschweifte Commode unter dem Spiegel stellte. Die Schwarzwälder Uhr ticktackte dazu so friedlich, die Vögel, nachdem sie die Eintretenden beäugelt hatten, begannen wieder so harmlos zu zwitschern, die Dämmerung warf allgemach ihre stillen Schatten so leise in den Raum – es konnte in der That in der ganzen Welt nichts geben, was mehr aussah wie ein Asyl des Friedens.

Meister Bäumle sandte seine stille Frau in die Küche, um eine Herzstärkung für den jungen Mann herbeizuschaffen, dem in der That danach verlangte, denn er hatte heute noch keinen Bissen genossen. Dann ging der Meister, um seine Hauskleider anzulegen und als er zurückkam und seinen Gast gedankenvoll am Fenster sitzen und in die Dämmerung hinausblicken sah, fragte er:

»Nun, junger Freund, wie gefällt's Euch hier – meint Ihr es aushalten zu können unter solch einem Dach?«

»Euer Haus ist sauber und hübsch genug, Meister Bäumle.«

»Ja seht, das hält meine gute Alte so im Stand, und wenn's so sauber und blank gescheuert ist, wie ein Pfarrhaus, wann der Herr Decan zur Inspection anlangt, so muß Euch das nicht Wunder nehmen; denn unser Haus, das ist unsre Welt nun einmal, eine hübsche Hufe Landes gehört noch dazu, Obstgärten, Ackerland und auch ein gut Stück Wiesland; und da müssen wir schon dazu thun, daß Alles in sauberem Stand gehalten wird und daß Ordnung und Frieden und Eintracht drin ist, denn drüber hinaus, da ist für unser Eins nichts zu holen und wenn ich nicht müßte, käm' mein Fuß auch nimmer über meine Gränzsteine hinaus, wie Ihr Euch das vorstellen mögt, und wär' mir schon Recht, daß für die Leute just um meine Schnat herum die Schau wie ein starkes Waidnetz oder Jagdgarn gestellt ist, so daß keiner hineinkommt!«

»Aber leider müßt Ihr von Zeit zu Zeit hinaus!« warf Brandlecht mit einer gewissen Bitterkeit ein.

»Leider,« versetzte Meister Bäumle ruhig und ergeben. »Es ist das mal nicht anders. Unser Herrgott, wenn er einem ein Glück gibt, will immer seinen ordentlichen Preis dafür – Ihr müßt ihm Eure Heuer zahlen für jedwedes Endchen Wohlsein, was Ihr von ihm erlangt. Umsonst ist nichts! Es ist bei den Höchsten und Mächtigsten nicht anders wie bei den Armen, der Eine zahlt seinen Reichthum mit seinem Gewissen, der Andere seine Würden mit seiner Herzensmeinung – und ich, nun ich zahle mein Bischen häusliches Glück und Frieden mit Blut!«

»Ihr seid ein Philosoph, Meister Bäumle.«

»Das will sagen?«

»Ein Weltweiser, ein Denker.«

»Nun, 's wird unser Einem schon angethan, und es ist kein Wunder, daß er nachdenkt!«

Die Frau kam mit dem Abendimbiß, während das junge Mädchen mit weißem Linnen den Tisch deckte. Den Blumenstrauß stellte sie darauf. Dann, ehe man sich setzte, wurde gebetet. Anna Marie, so nannte Bäumle seine Tochter, betete vor – etwas stockend und mit leiser Stimme, sie hatte offenbar die Verlegenheit noch nicht überwunden, in welche das Erscheinen des jungen Mannes sie versetzt.

Bei Tische erst erzählte der Scharfrichter den Seinen, wie er Brandlecht gefunden und von dem Schicksal des Gastes. Dieser nahm dann das Wort und erzählte ausführlicher sein Erlebniß, dann auch von seinen Eltern und von seinem Leben. Die Frau hörte still und ruhig zu, als wenn sie durch nichts in der Unglücksgeschichte des jungen Mannes überrascht werde. Anna Marie horchte offenbar mit großer Spannung und innerer Bewegung; Brandlecht sah, so oft er zu ihr hinüberblickte, daß ihre Augen groß auf ihm ruhten – sie schlug sie dann auch nicht nieder, obwohl sie leis erröthete.

Der Abend verging, Meister Bäumle war müde und Brandlecht, als er sah, daß dem Meister die Augen zufielen, verlangte nach seiner Schlafstelle geführt zu werden, obwohl er fühlte, daß die Stunde der Ruhe für ihn noch nicht gekommen, daß sie ihm die ganze Nacht vielleicht nicht kommen werde. Die Frau des Scharfrichters erhob sich von dem Spinnrad, das Anne Marie ihr gleich nach dem Vesperbrod gebracht hatte, zündete eine Messinglampe an und führte den Gast eine schmale Stiege empor in ein Giebelzimmerchen, das so klein und sauber war wie eine Schiffscabine. Für die Nachtruhe des jungen Mannes war Alles vorbereitet – Anne Marie schien da gewaltet zu haben, denn auch Blumen standen auf dem Waschtisch. Die Frau wünschte Brandlecht eine gute Nacht, er reichte ihr seine Hand, als er dankte; sie schien es nicht zu sehen, daß er sie ausstreckte und nahm sie nicht.

Brandlecht legte sich in das offen stehende Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Es war sehr sternenhell, und über die Wipfel der Gartenbäume fort sah er die Thore und Thürme der Stadt Harzheim sich am Nachthimmel abzeichnen, auch Lichter aus dem schlummernd daliegenden Thale durch das Buschwerk und die Hecken schimmern.

Durch des jungen Menschen Hirn aber zog, während er so hinabblickte, wenig von den friedlichen Gedanken, die ein solches stilles Nachtbild in ruhebedürftigen Menschen heraufruft – er fühlte sich wie in einem Strome aufregender und ängstlicher Empfindungen. Bilder voll des entsetzlichsten und qualvollsten Contrastes drängten sich um ihn. Sein Unglück, die Bangigkeit, in demselben elendiglich zu Grunde zu gehen – diese anscheinend so friedliche Zufluchtsstätte, die sich ihm bot, diese ehrlichen Scharfrichtersleute mit ihren frommen Lebensgewohnheiten und ihrem glücklichen Ergebensein in ihr Schicksal, – diese Anne Marie, mit ihren großen, sprechenden Augen, die so theilnahmvoll auf ihm geruht hatten – und wenn er sich dem Allen gefangen gab, dann die grausigen Bilder von Galgen und Hochgericht, von schon durch Angst halbtodten Menschen, von hoch aufspritzendem Blut … es war entsetzlich und um so entsetzlicher, als der junge Mann sich bereits halb gefangen fühlte inmitten dieser Bilder voll Schrecken und Graus. Sie hoben sich rund um ihn her, wie einen magischen Kreis um ihn ziehend, aus dem keine Flucht mehr war!


2.

In der That, wohin sollte er fliehen? – Das fragte er sich am andern, dem zweiten und dritten Tage. War er nicht auch schon jetzt selber unehrlich, nachdem er eine, zwei, drei Nächte unter dem schützenden Dache des Scharfrichters von Harzheim zugebracht hatte? Und wußte nicht Meister Bäumle über die Sache zu reden, daß Alles eine ganz andere Wendung und ein Ansehen bekam, daß es gar nicht so schwer war, sich darein zu schicken? Und Anne Marie, sah ihn die mit ihren unschuldigen Augen nicht an, als wäre in der Welt weiter kein sanftes, gutes, liebreiches Herz, als in der Wohnung eines herzoglichen Scharfrichters des Oberamts T. und der Pflegschaft Hohengingen?

Der junge Mann war eben durch sein Schicksal in einen Bann geführt, der ihn mit festen Banden fesselte, und – er ließ sich dann fesseln von diesen Banden – er blieb und blieb, bis endlich der Tag kam, wo der Scharfrichter entboten wurde, zu thun, was eines Amtes.

Der Meister Bäumle bestieg in der Morgenfrühe sein Wägelchen, und Brandlecht stieg mit ihm ein, um seinen Gehilfen zu machen – es war zu spät, um jetzt noch zu sagen: Nein. Er stieg mit ihm ein und fuhr mit ihm durch die frische Morgenluft, durch die sonnige Gegend, durch die hellen, mit den reifen Saaten prangenden Felder; er fuhr mit ihm schweigend, die Augen starr auf die flatternde Mähne des Rößleins heftend, das Herz krampfhaft zusammengezogen.

Vor ihm stand das ganze abscheuliche Schauspiel, dem er entgegenging, in dem er die widerwärtigste Rolle übernehmen sollte, das Schaffot, der wüste Menschenhaufen umher, der Karren mit dem armen Sünder, dem man langsam durch die Menge Bahn brach, der schwarze Mann neben dem armen Sünder, der ihm ein Crucifix vorhielt und ihm immerwährend zuredete – Theodor Brandlecht war es dabei zu Muth, als sei er, den der Scharfrichter so daher fuhr, dem Schaffot zu, der arme Sünder, als schleppe man ihn zum Hochgericht – auch neben ihm raunte immerwährend eine Stimme wie von einem schwarzen Mann, einem Dämon, der sein Herz mit Bitterkeit und Galle füllte gegen die Welt, die Menschen, das Schicksal. –

»So weit also ist's mit Dir gekommen,« sagte der Dämon, »so weit haben die Teufel mit Dir ihr Spiel treiben dürfen, daß Du nun Schinderknecht bist, ein Mensch, der zum Lohn für sein grausiges Thun von jedem ehrlichen Christenmenschen geflohen und verachtet wird, den man anspuckt, wenn er zu seines Gleichen sich setzen will – ein Schinderknecht – nach dem Willen Gottes, der kein Erbarmen kennt und die Menschenherzen zertritt – und durch die Soldknechte unseres gnädigsten Herzoge, der's ihm nachmacht und auch auf Menschenherzen tritt, wo er's kann. Nun zertrete Du auch, wo Du's kannst, was scheert Dich solch ein armer Sünder, der dazu noch ein Hallunk, ein ausbündiger Schuft ist; ein Narr, der Erbarmen mit ihm hätt', und hat doch nichts im Himmel und auf Erden Erbarmen gehabt mit Dir selber.«

So raunte die Stimme neben Theodor Brandlecht, während des Scharfrichters Wägelchen hastig weiter rollte und jenseits einer Höhe schon die Kirchthurmspitze des Städtleins auftauchte, wo heute auf dem Anger neben den alten Stadtmauern »justificirt« werden sollte.

Als sie auf der Höhe angekommen waren und die Stadt vor ihnen lag und auch rechtshin der Anger, wo schon das Volk sich umhertrieb, wohin von den benachbarten Höhen herab und durch die Thalgründe das Bauernvolk wanderte in hellen Haufen, da zog Meister Bäumle aus der Wagentasche eine große, umwundene Flasche hervor, that einen tüchtigen Schluck daraus und reichte sie seinem Gehülfen.

»Trinkt, Brandlecht – es geht nichts über einen guten Trunk, Freund, wenn's Einem flau zu Muthe werden will; der Teufel, der in jedes Menschen Herz sitzt, ist ein Söffer, und wenn Ihr was eingießt, er macht schon, daß er Alles allein bekommt, und der gute Geist, der in Euch ist, nichts; und hat er dann so ein Nösel von dem feurigen Zeug in sich eingesogen, dann ist er gleich obenauf und Meister, und der gute Geist verkriecht sich, und der Mensch wird capabel zu jedem Ding – ich, rath's Euch, Brandlecht, trinkt – trinkt immer zu – dann geht's!« –

Und – es ging!

Wie es gegangen – Theodor Brandlecht wußte es selber kaum; aber als sie am Abend heimkamen, und als die Frau des Scharfrichters ihren Eheherrn mit sorglicher Miene halblaut fragte, wie es gegangen, da sagte Meister Bäumle:

»Es ist ein wack'rer Bursche, und ich hab' mich nicht verseh'n in ihm. Es ist ein schwer Stück für einen Menschen, der nicht wie unser eins schon den Großvater hat dabei handthieren sehn, und vom Vater dazu ist aufgezogen worden – ein schwer Stück ist's schon. Aber wenn ein rechter Wille und ein Kern im Menschen steckt, da bricht er Eisen, und mit einem ›Du mußt‹ läuft er die Wand hinan.«

»Verlor er den Kopf nicht?« fragte die Frau leise, über die Schulter blickend nach der Anne Marie, die mit großen, feuchten Augen horchend still im Hintergrunde stand.

Meister Bäumle schüttelte den Kopf.

»Er nicht – nur der Andere!« sagte er lächelnd; »er war fast so weiß im Gesichte wie der Andere, aber hier –« Bäumle wies mit dem Finger auf seine tiefe Falte zwischen den Brauen – »hier stand's geschrieben schon eine halbe Stunde vorher, daß er den Kopf nicht verlieren würde.«

»Nun, Gott sei Lob!« sagte die Frau, »ich hatte viel Angst um ihn.«

Anne Marie seufzte tief auf und verschwand lautlos. Sie ging, um für die Heimgekehrten das Abendmahl zu bereiten – hatte sie dabei an Theodor gedacht, so war ihre Mühe umsonst, er kam den Abend nicht von seiner Kammer herunter, und Meister Bäumle verbot der Frau, die zu ihm hinaufgehen wollte, ihn zu drängen.

Das war das erste Mal – das erste Mal, wo Theodor Brandlecht dem Meister als Gehülfe bei seiner schweren Arbeit gedient; es kamen dann solcher Tage mehr, und endlich kamen auch solche, wo der Gehilfe nicht mehr des Meisters bedurfte, wo er selbst den Schlag zu führen verstand und – ihn führte!

Bis dahin freilich waren doch Jahre vergangen, Jahre, die um das einsame Scharfrichterhaus flüchtig dahingeschwunden, eintönig und still, und doch mancherlei Veränderung im Großen und Kleinen hervorgebracht hatten. Auf dem Schieferdach des Hauses hatten sie die Platten mit dichterem Moos übergrünt, in Meister Bäumle's dichtes Kraushaar noch viel mehr Weiß und Grau gemischt und – des Scharfrichters Töchterlein, die Anne Marie, in die Arme des Henkersknechts gelegt – sie war sein Weib geworden und hatte ihm Kinder geboren.

Wie freilich hätte das auch anders kommen können, wenn zwei junge Leute sich täglich sehen, unter einem Dache mit einander verkehren und in der ganzen Welt niemand Anderes zum Umgang, nichts Anderes, was ihre Gedanken beschäftigen könnte, haben, als einander. Der Hofcavalier, der mit der Hofdame halbe Tage lang allein zusammen im Vorzimmer sitzen und sich langweilen muß, verliebt sich in sie und heirathet sie endlich, und der Henkersknecht, der mit der Meister Tochter in der einsamen Scharfrichterei, von allen Menschen gemieden wohnt, wie sollte er es anders machen können?

Von allen Menschen gemieden, sagen wir – das war Meister Bäumle freilich doch nicht so ganz, und bald war es auch Theodor nicht. Denn erstens hatte Meister Bäumle einen gar warmen zuthunlichen Freund, der sich nichts um Volksvorurtheile kümmerte und ihm derb auf die Achsel schlug, wenn er ihn besuchte, und auch mit ihm trank, und Leben und Lärm in die stille Scharfrichterei brachte, wenn er kam – ein mittelgroßer, wohlgenährter Mensch mit einem Paar großer vorliegender Augen, breitem Kinn und dicken, sinnlichen Lippen; dabei mit einer verwogenen Art sich auszudrücken und bei dem, was er daherschwätzte, sich weder um geistliche noch weltliche Obrigkeit kümmernd.

Nur Schade, daß Bäumle's Freund nur alle Paar Jahre sich einmal blicken ließ und so viel anderweitig beschäftigt war – er war nämlich der Herzog. Der gnädigste Landesherr hatte seinen Meister Bäumle in besondere Affection genommen und besuchte ihn und trank von seinem Wein, so oft er auf Reisen oder, um der Jagd wegen in's Oberamt T. kam; er hatte auch seinem Freunde zur Belohnung für treue Dienste und, zu einer »Ergötzlichkeit,« die Pflegschaft Hohengingen, d. h. das Recht, Allen denen, die auf der Staatsfestung Hohengingen saßen und justificirt werden sollten, den Kopf abzuschlagen, verliehen. – Meister Bäumle stand sich, ein Jahr in's andre gerechnet, wohl um 100 Gulden besser dadurch.

Und eben um dieser Arbeit willen, die da auf der Veste Hohengingen zu verrichten war, und wobei der Meister ab und zu einen flüchtigen Einblick in eine gar verwunderliche und unheimliche Geschichte gewann, deren letzter Act in den Gewölben und Keuchen der herzoglichen Staatsfestung spielte – eben deswegen war zwischen dem Landesherrn und seinem executeur des hautes oeuvres, seinem Hocharbeiter, nach und nach so etwas wie eine Intimität, eine gewisse Freundschaft entstanden – nicht zwar so warm wie die zwischen David und Jonathan Siehe Bibel, 1 Samuel 20. – Anm.d.Hrsg., aber doch so aufrichtig wie die zwischen Ludwig XI. und seinem Tristan Tristan l'Hermite, der Generalprofoß Ludwig XI., König von Frankreich von 1461 bis 1483, der jenen als »Gevatter« titulierte. – Anm.d.Hrsg.. –

Und dann ferner war Meister Bäumle ein weit und breit gesuchter Mann, weil er ein ausbündig gescheuter und erfahrener Thierarzt war, und Theodor Brandlecht, der ja Chirurgie studirt hatte, dem er alle seine Geheimmittel und Kenntnisse mittheilte, war es bald auch.

Es war merkwürdig, mit welchem Interesse der junge Scharfrichter sich dieser Beschäftigung zuwandte, mit welcher sanften Behutsamkeit er die Wunde irgend eines armen von einem Eber blessirten Jagdhundes untersuchte, mit welcher ausharrenden Geduld er neben dem fieberkranken, stöhnenden Roß eines armen Bäuerleins stand und den Puls beobachtete und den rechten Moment zu Aderlaß und Mixtur wahrnahm.

Es schien, in dem Maße, wie ihm die Menschen fremder wurden und er kälter und abgewandter gegen sie und verhärteter gegen ihre Leiden, und je mehr es ihm gelang, in eiserner Entschlossenheit den armen Teufeln, die ihm das Gesetz zu Füßen warf, den Gewaltstreich zu geben, der sie in die andre Welt schleuderte – es schien, desto mehr wende sich sein Herz der armen hülflosen Creatur zu, deren Kräfte und unterwürfigen Willen die Menschen ausbeuten, und sie daneben mißhandeln, – just wie sie's im Grunde mit ihm machten, der dafür, daß er seine Arme willfährig zu dem herlieh, was die Gewalt gebieterisch und mit allen Zwangsmitteln ausgerüstet von ihm verlangte, verachtet, gehaßt und verabscheut wurde. –


3.

Die Jahre flohen dahin, Meister Bäumle ward zu seinen Vätern versammelt, seine Frau saß alt und schwach jetzt im Großvaterstuhl und hielt auf ihren Knien die Enkel, die Anne Marie ihrem Manne geboren; und wenn Frau Themis ein Opfer forderte, dann hieß es nicht mehr, Meister Bäumle, sondern Meister Brandlecht soll kommen!

Meister Brandlecht kam denn auch gehorsam dem Ruf; sicher und ruhig that er seine schwere Pflicht – aber hatte er sein Werk verrichtet, dann war er jedesmal wie von einer schweren Unruhe erfaßt; er schien auf glühenden Kohlen zu stehen, bis nur der Gerichtsschreiber ihm sein Zeugniß über die gut und zur Zufriedenheit der Schöffen geleistete Arbeit ausgestellt hatte, und dann eilte er heim, als ob böse Geister hinter ihm her wären und ihn verfolgten, so lange bis er sich wieder bei Weib und Kind befand.

Eines Tages aber wurde eines der Kinder krank. Es war ein Mädchen von acht Jahren, ein hübsches blauäugiges und blondhaariges kleines Abbild der Anne Marie, nur von Geburt an immer zart und schwächlich, und vielleicht gerade deshalb vor allen andern der Liebling und das Herzblatt des Vaters. Der Zustand des Kindes verschlimmerte sich rasch – es wimmerte wegen seiner unerträglichen Kopfschmerzen und sein Puls nahm in erschreckender Weise zu – es schien, daß eine Gehirnentzündung das arme Wesen den Eltern rauben wolle. Theodor Brandlecht wenigstens glaubte es und saß, die Todesangst im Herzen, an seinem Bettchen, ohne zu weichen, den Tag, den Abend hindurch und so tief es auch Nacht wurde. Er hatte um Mitternacht die schluchzende Mutter fortgesandt, damit sie sich ausruhe, und nun saß er allein da, und lauschte auf die heißen Athemzüge des Kindes und auf das Ticktack der Schwarzwälder Uhr und das Rauschen des Nachtwindes, der die Weinreben gegen die hölzerne Gallerie des Häuschens schlug.

Da schlug draußen der Hofhund, den er heute Abend vergessen hatte von der Kette zu lösen, an und dann hörte er etwas wie Hufschläge und endlich auch Stimmen, und dann wurde heftig an Brandlecht's Hausthüre gepocht.

Er ging zu öffnen, und fand draußen auf dem Söller zwei Männer stehen; so viel er in der sternhellen Nacht sehen konnte, war unten vor dem Hause noch ein dritter, der die Pferde hielt, auf denen sie gekommen. Sie waren in Mänteln, darunter in Uniform; als sie eingetreten waren und der Schein der Lampe auf sie fiel, erkannte Brandlecht Reiter von der Besatzung von Hohengingen in ihnen.

»Noch auf, Meister Brandlecht?« sagte der Eine, »wir fürchteten, Ihr würdet uns länger pochen lassen.«

»Mein Kind ist krank! Was wollt Ihr?« versetzte Brandlecht.

»Nun, 's ist desto besser,« fiel der Andere ein, »so brauchen wir nicht zu warten. Nehmt Euren Mantel und Euer Handwerkzeug – 's gibt zu thun für Euch.«

»Jetzt, in der Nacht soll ich fort?«

»Macht voran; der Commandant von Hohengingen braucht Euch!«

»Seid Ihr nicht gescheut – ich soll von meinen kranken Kinde fort?«

»Was geht uns Euer Kind an –'s ist befohlen so, Meister Brandlecht – also sperrt Euch nicht!«

»Befohlen oder nicht befohlen – ich gehe nicht! Macht, daß Ihr heimkommt!«

»Ei, sieh' Einer den Meister Brandlecht an!« rief jetzt der Erste der Reiter aus. »Der sperrt sich! Meister, ich rath' Euch gut, gebt Euch drein und seid nicht halsstarrig. Es ist nach der Veste Hohengingen, wohin wir Euch liefern sollen, und mit dem Dienst da auf der Beste oben, das wißt Ihr, versteht unser Herzog keinen Spaß!«

»Und just weil's nach Hohengingen ist,« versetzte Meister Brandlecht zornig, »geh' ich nicht. Ich habe einen Eckel an dem, was mir da aufgeladen wird – heimlich, als müßt's das Licht scheu'n – und – und – ich thu's einmal nicht!«

»Fahr' Dir der Teufel in's Genick, Henkersknecht!« fluchte der Erste der Reiter; »willst Du uns unglücklich machen, wenn wir heimkommen mit einem schönen Gruß an den Herrn Commandanten, und der Meister Brandlecht ließe absagen, er könnte nicht kommen! – Du mußt, in Glimpf oder Schimpf, in Güte oder Gewalt!«

Die Stimmen der Männer hatten sich erhitzt und hatten Anne Marie aus ihrem leisen Schlaf geweckt; sie kam heruntergeeilt und suchte, nachdem sie gehört, wovon die Rede, ihren Mann zu beschwichtigen.

»Er wird abgesetzt und in's Loch gesteckt, der Meister Brandlecht, wenn er nicht kommt,« sagte der erste Reiter.

»Ach was,« fiel der Zweite ein, »wir sind unser Drei und werden seiner schon Herr werden. Wir binden ihn und werfen ihn wie einen Mehlsack über's Pferd!«

Theodor Brandlecht richtete sich bei dieser Drohung hoch auf, verschlang die Arme auf der Brust und sah die beiden Reiter mit einem Blick zornigster Verachtung an. Bevor jedoch diese eine feindliche Bewegung, die sie doch auch wohl erst länger überlegt hätten, machten, warf Anne Marie sich dazwischen, und es gelang ihr den starrköpfigen Mann zum Nachgeben zu bewegen, damit er sich und seine Kinder nicht unglücklich mache.

»Nun, in Gottes Namen,« sagte er endlich mit schwer gepreßter Brust, »aber Du wirst sehen, wenn ich das Annele verlasse, so stirbt es!«

Er ging noch einmal an das Bett des Kindes, drückte einen Kuß auf seine heißbrennende Stirn, und wandte sich dann, um Mantel und Richtschwert zu holen und sich zu rüsten zu der Reise und endlich den Reitern zu folgen.

Brandlecht mußte nämlich den Weg nach Hohengingen zu Fuß an der Seite der Reiter machen; sein Pferd war ihm vor drei Wochen gefallen und er hatte noch kein neues sich beschaffen können. Doch stieg abwechselnd ein der drei Reiter von dem seinen, um den Meister reiten zu lassen, denn der Weg nach Hohengingen war schlecht und war weit.

Der Morgen war längst da, als sie am Fuße der steilen Höhe ankamen, auf deren Gipfel Burg Hohengingen lag: mit grauen Mauern, hohen Dächern und Giebeln, über denen die noch höheren viereckigen und runden Thürme emporstiegen. Der düstere, unheimliche Bau, diese graue, harte Steinwelt hatte sich da inmitten einer Schöpfung von Reiz und Schönheit, einer aus Berg und Thal und Wäldern und Weingärten und einzelnen Gehöften gebildeten lachenden Landschaft hingestellt wie ein dunkles memento mori, wie ein böses Zwing-Uri Eine jener habsburgischen Burgen, mittels derer die Schweiz unterdrückt wurde (siehe Friedrich Schillers Drama »Wilhelm Tell«). – Anm.d.Hrsg., wie ein Despotenthron inmitten einer friedlichen Menschengesellschaft, die ohne ihn zufrieden und glücklich wäre. Die Raben flatterten im Morgenlicht d'rum herum, wie um ein Hochgericht.

Zwischen grauen Mauern schlängelte sich der steile Weg empor; zwischen grauen Thurmmauern rasselte die Zugbürde nieder; zwischen grauen Mauern eines engen Hofes mußte Meister Brandlecht warten, bis der Schließer gerufen war, der ihm eine Kammer öffnen sollte, wo der Meister sein Absteigequartier hatte, wenn es für ihn zu thun gab auf Hohengingen; und zwischen den grauen Mauern dieser Kammer konnte er mißmuthig eine Stunde lang und länger auf und abgehen, bis der Commandant aufgestanden war und er zu diesem gerufen wurde, um seine näheren Anweisungen zu empfangen.

Es war ein wohlgenährter Herr, der Commandant, ein alter Stabsofficier mit einem vollwangigen rothen Gesicht, mit einer pockennarbigen breiten Nase und dicken, wulstigen Lippen, die mürrisch niederhingen. Man sah ihm an, er hatte ein gutes Leben da oben auf Hohengingen, und doch schien das Leben ihm eine langweilige, verdrießliche Sache. Was er sprach, das bellte er wie eine Dogge in kurzen, unwirschen Sätzen aus, als ob es ihn verdrieße, daß man um jede, zu diesem langweiligen Dasein gehörende Sache noch viele Worte machen müsse.

»Seid Ihr's, Brandlecht?« sagte er, den Meister mit einem kurzen Kopfknicken grüßend. »Es ist gut. Diesmal ist's Nummer Fünfzehn! – Habt Ihr gefrühstückt?«

»Noch nicht, Herr Oberstwachtmeister – es hat Weile damit. Wer ist Nummer Fünfzehn?«

»Was geht's uns an? Die Ordre liegt da, wenn Ihr sie sehen wollt!«

Er deutete auf einen Tisch, auf dem Papiere und Briefschaften lagen. Brandlecht nahm einen großen Brief mit einem Cabinetssiegel daran, der oben lag. Er las:

»Demnach Se. hochfürstliche Durchlaucht, unser gnädigster Herzog unter heutigem Dato nunmehro das gegen den unter Nummer Fünfzehn auf höchstdero Vestung Hohengingen bestrickten Inculpaten erflossene Urtheil und Todessentenz hochfürstlichen Hofgerichts vom 12. November v. J. zu bestätigen geruht, als ergeht an Ihn, Commandanten obbesagter Vestung, der gnädigste Befehl Seiner Durchlaucht, denselben Angesichts dieses vom Leben zum Tode bringen und nach Vorschrift der Landesgesetze auch ebenfalls Seiner speciellen Instructionen allsogleich justificiren zu lassen.

Nach Seiner hochfürstlichen Durchlaucht gnädigstem Special-Mandat.«

 

Darunter stand der Namenszug eines Geheimen-Cabinets-Beamten.

»Weiter sind keine Acten über Nummer Fünfzehn vorhanden?« fragte Brandlecht, nachdem er das Blatt gelesen.

»Was wollt Ihr mehr? Geht frühstücken,« versetzte der Commandant lakonisch.

»Ist nichts weiter dabei zu befehlen?«

»Nichts. Alles wie gewöhnlich. Um vier Uhr heut' Nachmittag. Im hinteren Hof. Ruht Euch bis dahin von Eurer Reise aus. Laßt Euch nichts abgehen!« versetzte der Officier.

»Ich werde zu ihm gehen dürfen, daß ich seinen Pardon bekomme?

»Das dürft Ihr. Um zehn Uhr. Behüt Euch Gott, Brandlecht!«

Das war die ganze Unterredung, die Brandlecht mit dem Commandanten hatte, und nach der er in seine Kammer zurückging durch die Gänge und Höfe, wo Diener, Schließer und die Soldaten von der Besatzung, die ihm begegneten, scheuen Blickes vor ihm auswichen und dann stehen blieben, um ihm nachzusehen. Meister Brandlecht war das gewöhnt, und es kümmerte ihn nicht mehr und hätte ihm nicht den Appetit an dem Imbiß genommen, den er in seiner Kammer jetzt aufgetragen fand, wenn es nicht die folternde Angst um sein krankes Kind gewesen wäre, was ihm die Kehle zuschnürte.

Als es zehn Uhr schlug, verließ er sein Quartier und wandte sich an den Unterofficier der Wache, und verlangte zu dem Gefangenen Nummer Fünfzehn geführt zu werden. Ein Feldwebel begleitete ihn, zuerst in einen der hinteren Höfe der Festung; durch eine Art Poterne ging es dann, und von da in ein geräumiges, durch ein vergittertes Fenster ziemlich erleuchtetes, gewölbtes Gemach. Auf den Steinplatten, womit der Raum belegt war, stand ein Schragen von braunem Eichenholz und auf demselben waren Speisen und gefüllte Flaschen aufgestellt; auch irdene Pfeifen und Tabak fehlten nicht.

Es war – die Henkersmahlzeit!

Brandlecht schritt auf den Mann zu, der im Hintergrunde dieses Raumes stand, die Arme auf der Brust verschlungen, die Stirn an die kleinen runden Scheiben des Fensters gelehnt, hinausblickend auf die weite Landschaft, auf die Gotteswelt draußen, das schöne, lachende Stück Erde, das man von diesem Fenster aus übersah und an dem des Gefangenen Auge heute zum letzten Male sich weiden sollte.

Es war ein kräftig gebauter Mann, der sich dem Scharfrichter zuwandte, als dieser ihm näher trat; Brandlecht blickte in ein Gesicht, mit offenen gewinnenden Zügen; es war wohl ursprünglich nur von der Sonne und Luft stark gebräunt, jetzt hatte es eine fahlbraune, bleiche Farbe, wie die eines Leberkranken; auch war es wohl nur der Einfluß der Haft und dessen, was in ihm vorgehen mußte seit der Stunde, worin man ihm sein Schicksal angekündigt hatte, was ihn etwa fünfzig Jahre alt erscheinen ließ; er konnte weit jünger sein, vielleicht nicht vierzig!

»Ihr seid der Scharfrichter?« sagte er mit einem Tone, der ruhig war, und doch verrieth, daß der Anblick des Mannes, der langsamen Schritte auf ihn zu trat, etwas Erschütterndes für ihn hatte, was ihm schwer wurde niederzukämpfen. –

Brandlecht kannte diese Frage: Ihr seid der Scharfrichter? Wie oft war sie nicht in den verschiedensten Tönen vor ihm ausgesprochen worden, wenn er zu den Unglücklichen kam, die er nach dem alten Brauch um ihre Vergebung ansprechen wollte! Wie oft hörte er den ganzen Charakter des Mannes daraus, der die wenigen Worte sprach – mit erzwungener Lustigkeit, als ob der Scharfrichter nur ein verkleideter Scharfrichter auf einer Maskerade und eine lächerliche Gestalt sei, oder mit barscher Unbekümmertheit – leis, mit bebender angstbleicher, den Dienst versagender Lippe, oder mit einem Aufschrei des Entsetzens! –

Der Mann vor ihm sprach die Frage anders aus: er sprach sie mit einer Fassung und Ruhe, die den geängsteten Aufschlag des Herzens niederdrückte und ihn niederdrückte mit Hülfe einer großen geistigen Kraft oder eines ruhigen Gewissens und starken Gottvertrauens.

»Ich bin der Scharfrichter,« versetzte halblaut Brandlecht. »Wozu ich komme, könnt Ihr Euch denken. Ich thue es nicht blos, weil es also der Brauch ist, sondern weil – nun, weil mein Herz mich dazu drängt.«

»Euer Herz?« sagte der Mann, und um seine Lippe, unter dem schwarzen dichten Haar des üppig gewellten Bartes, der sein Kinn bedeckte, zuckte eine Bewegung wie ein bitteres Lächeln.

»Ich vergebe Euch die Frage,« versetzte Brandlecht. »Es mag sein, daß ich etwas gesagt habe, was einem Manne meines Gewerbes nicht ansteht. Ich wollte nur ausdrücken, daß mir daran gelegen ist, Eure Verzeihung zu erhalten. Darum gebt mir sie und gebt mir, wenn Ihr diese Hand eines Mannes, der wohl ›unehrlich,‹ aber darum doch ein redlicher Mann ist, nicht fürchtet, die Eure darauf!«

Der Gefangene streckte dem Scharfrichter langsam und wie widerstrebend die Rechte hin. Er blickte dabei fragend und offen in das Gesicht des Meisters – in dem Tone, womit Brandlecht gesprochen, schien etwa zu liegen, was ihn betroffen gemacht hatte.

»Weshalb sollte ich das nicht – die Berührung mit Euch ist ja doch nun einmal mein Schicksal, Meister Hämmerlein, und ein redlicher Mann scheint Ihr zu sein. Weshalb solltet Ihr's auch nicht – daß Ihr ein Handwerk habt, das man verabscheut – es ist wohl so wenig Eure Schuld, als es meine ist, daß Ihr's an mir ausüben müßt!«

»Meine Schuld? Nun, wie man's nehmen will. Von Vater auf Sohn überkommen ist's bei mir nicht, wie Ihr wohl denkt, und wie's so meistens der Fall – aber doch –«

»Kommt her,« sagte der Gefangene, ihn durch eine plötzliche rasche Bewegung unterbrechend und sich dem Schragen mit den Speisen zuwendend, wo er zwei große Gläser mit Wein füllte; »kommt her, trinkt eines mit mir; es wird uns Beiden gut thun, und dabei erzählt mir, wie Ihr geworden, was Ihr seid; wenn ich von eines redlichen Mannes dunklem Schicksal zu hören bekomme, so wird's mir ein Trost über mein eigenes sein.«

Er zog einen Bretterstuhl herbei und setzte sich.

Brandlecht nahm das Glas, das der Andere ihm zuschob, und setzte sich ihm gegenüber. Als er dem Gefangenen willfahrt und ihm in kurzen Worten seine Geschichte erzählt hatte, sagte dieser:

»So seid ihr dazu gekommen, ein Meister Hämmerlein zu werden! Nun, es hat Jeder eben den Strick um den Hals, an dem er durch dies elende Leben geschleift wird, und da hilft kein Sperren dawider. Wollt Ihr nun auch hören, wie mir die Schlinge um den Hals gekommen ist, die sich nun dank Euch bald ganz zuziehen wird?«

»Wenn Ihr's mir erzählen wollt, so will ich's Euch danken,« versetzte Brandlecht.

»Trinkt erst,« sagte der Gefangene und füllte wieder die Gläser. »Es ist eine Geschichte, die hinter eine Flasche guten schweren Weines gehört, damit sie einem ohne Widerstreben eingeht.«


4.

Der Gefangene erzählte:

»Ich heiße Franz Hancke und bin eines Forstmannes Sohn. Es war ein redlicher alter Mann, der auf seine Herkunft von wohlhabenden und hochangesehenen Bürgern der Reichsstadt U. etwas hielt, und dem es das Herz gebrochen hätte, wenn er hätte ahnen können, was seines ältesten Sohnes Ende sein sollte. Zwei Brüder von mir haben gute Bedienungen bei der Reichsstadt; ich hatte des Vaters Försterstelle in den städtischen Waldungen und ein gutes Auskommen. Einsam freilich war's da im Walde, bis zum nächsten Dorf eine Stunde. Aber von meiner Försterei nicht halb so weit lag ein altes verkommenes Herrenhaus, ein Edelsitz mit einem griesgrämigen Baron, zwei langen, müssigen Burschen von Junkern und fünf Fräuleins darin, die sich nach einem Freier sehnten, ohne daß einer kam. Denn die Wirthschaft da oben in dem morschen alten Schloß war nicht so, daß es die jungen Adelsherren, die auf Freiersfüßen gingen, anlockte; es war viel Streit und Hader unter den Geschwistern, und Geld und Gut war nicht da – es war eine knappe dürftige Lebensart da oben.

Und doch waren die Mädchen schön, alle ohne Ausnahme, und eine war darunter, die war schön vor Allen und ein keckes lustiges Ding war sie, eine wahre Wetterhexe von einem schwarzäugigen, schlanken, verwegenen Mädel. Wo die sich etwas vornahm, da war kein Widerstehen, und am wenigsten fand sie das bei mir, wenn sie im grünen Jagdkleid, von einem Bruder begleitet, oder gar allein, nur mit ihrem Vorstehhund, durch den Wald daher kam, eine leichte Flinte auf der Schulter, und dann mit mir jagen gehen wollte. Ja, sie war eine firme, waidgerechte Jägerin. Das Feuer leuchtete ihr aus den Augen, wenn ein schußrecht kommendes Wildpret, ein Bock oder ein Spießer auf's Blatt getroffen vor ihr zusammenbrach und klagend und stöhnend verendete. –

Ich hätt's mir hinter's Ohr schreiben und mir meine Gedanken darüber machen sollen, denn es ist keine Sache, die einem Weibe wohl ansteht, zu lachen, wenn zu ihren Füßen einer armen, unvernünftigen Creatur unseres lieben Herrgotts das Auge bricht – aber ich war ein Thor und achtete dess' nicht und meine Gedanken die waren Tag und Nacht bei ihr allein. Ihr wißt das nicht, wie einem jungen Menschen ist, der so für sich mutterseelen allein im Walde lebt und Niemand sieht, als ein einziges Weib, ein schönes, verführerisches junges Weib, von adeligen Sitten und Benehmen, stolz und verwegen in ihren Reden – Ihr wißt das nicht, Mann, und auch nicht, wie glücklich ein solcher Mensch sich fühlen kann durch solch ein Weib.

Das war ich damals, als sie eines schönen Morgens durch's offene Fenster in meine Kammer blickte – sie war wieder allein, nur von ihrem Waldmann begleitet, und indem sie ihre beiden Arme auf die Fensterbrüstung legte und mich schelmisch lächelnd ansah, sagte sie:

›Kommt, Franz, laßt uns jagen gehen. Ich bin ihnen durchgewischt. Es sind zwei alte Schachteln von Muhmen da, und sie berathen, wie sie mich in einem Kloster unterbringen wollen, damit doch eine von uns Fünfen den Alten aus der Rost kommt. Aber ich schlage ihnen ein Schnippchen – in's Kloster geh' ich nicht nein, nimmermehr – lieber sterbe ich hier gleich auf der Stelle, Franz.‹

Und so schelmisch sie mich eben noch angesehen hatte, so brach sie doch jetzt plötzlich in lautes Weinen aus,

›Um Gotteswillen, Fräulein Allgunde,‹ rief ich erschrocken aus, ›weinen Sie nicht – es bricht mir das Herz, Sie weinen zu sehen – nein, bei Gott, in's Kloster da taugen Sie nicht, und da dürfen Sie nicht – weit eher –‹

›Nun, wohin denn, Franz?‹ sagte sie jetzt wieder durch die Thränen lächelnd – ›in den Wald, und niemals wieder hinaus?‹

›Ja, wahrhaftig, weit eher.‹

›Aber wie die heilige Genovefa in einer Höhle zu leben, dafür bedanke ich mich auch,‹ fuhr sie wieder ernster werdend fort.

Das Herz schlug mir bis zum Halse – ich weiß nicht, wie ich die Worte hervorbrachte:

›Aber es gibt auch Häuser im Walde – wie meines hier – die freilich für ein adeliges Fräulein nicht gebaut sind – aber –‹

›Adel hin, Adel her,‹ rief sie nun mit ihrer hellen Stimme – ›was kümmert uns der Adel, wenn ich Euch lieb habe, Franz, und –‹

Und damit war sie mit einem leichten Schwung auf der Fensterbank und ich war neben ihr, und ihre Arme waren um meinen Hals geschlungen und meine Lippen lagen auf den ihren. –

Damals war es, wo ich glücklich war und dann die Zeit hindurch, die nun folgte; auf große Stürme hatte ich mich gefaßt gemacht, um die Einwilligung der adeligen Sippe zu erhalten; aber das ging weit glimpflicher ab, als ich gedacht. Man gab sie mir ohne viel Widerstreben – ob sie in's Försterhaus, ob in's Kloster zog, das schien weder dem alten Edelmann, noch seinen Junkern viel zu verschlagen. Und nun, um's kurz zu machen, sie zog nach Verfluß von wenigen Wochen in's Försterhaus und schickte sich anfangs nicht übel darein – im Hause aber wurde es schmuck und blank, und so hübsch und wohl eingerichtet Alles, es war wie ein Paradies um mich her.«

»Die Eva war freilich darin!« schaltete halblaut Meister Brandlecht ein.

»Die Eva war darin,« sagte der Gefangene, »und die Evanatur säumte nicht, sich zu zeigen. Denn, als der Winter kam, da wurde es der jungen Frau doch zu still im Walde, zu enge in dem kleinen Haus. Sie zürnte und schmollte anfangs auf die Ihrigen, daß diese sie so vollständig vergäßen, und, nun sie eines bürgerlichen Mannes Frau geworden, nicht einmal mehr nach ihr umschauten, ob sie noch in der Welt sei; und dann auf mich, weil ich glaube, eine junge Frau sei auch so von todtem Holz wie meine Bäume, und könne ihr Leben lang so dastehen wie ein Baum im Walde, zufrieden damit, wenn ihm der Wind durch die Haare fahre und nach weiter keiner Ergötzlichkeit verlangend.

Und ich, der ich schon ihr wohlgeschulter Thor war, ich hörte auf ihre Klagen und brachte sie eines schönen, harten, klaren Frostmorgens im klingelnden Schlitten gen U. in die Reichsstadt zu meinen Verwandten, auf daß sie dort einen Monat lang oder mehr sich an den städtischen Winterlustbarkeiten ergötze und zerstreue, während ich heimkehrte und meines Amtes allein im Walde wartete.

Da saß ich denn voll trüber Gedanken in dem kleinen Hause, das sie mir so lieb gemacht, und dachte und schrieb an sie, so oft die alte taube Botenfrau durch den Schnee in die Reichsstadt wanderte, und ließ mir dann von der Alten, wenn sie heimkehrte, erzählen, wie sie die gnädige Frau Försterin so wohl auf und munter gefunden, und wie sie von den vornehmen Leuten in der Stadt so viele Ehre und Freundschaft genieße, und bei allen Tanzlustbarkeiten, Schlittenfahrten und Redouten schier die Allerschönste und Umworbenste sei, und wie die ganze hochadelige Verwandtschaft gar nicht spröde gegen sie thue, sondern die Junker ihr den Hof machten, als ob sie eine Gräfin sei; das Alles wußte die Alte, trotz ihres tauben Trommelfells, in den Gesindestuben wohl zu erfahren und zu erhorchen, und daß mein Weib in der Ferne ohne mich sich wohl zu erlustigen verstehe, das merkte auch ich an den seltenen kurzen Brieflein, die ich erhielt, und an den langen Rechnungen der Modehändler, die sie darin einschloß.

Es wurde mir endlich das Herz schwer bei Allem dem, ich klagte mich an, daß ich sie habe gehen lassen, und nicht als Mann darauf bestanden, daß sie, nun sie einmal mein Weib geworden, es ganz sei und unter meinem Dache ihre Welt finde und ihre Zufriedenheit suche. Ich befahl ihr zurückzukommen. Die Antwort war, daß jetzt das Vergnügen in der Stadt erst recht beginne, der Herzog – Euer Herzog, Meister Brandlecht sei gekommen mit einem Schwarm Cavaliere und nun rüste sich Alles auf neue und schönere Feste. Ich ließ ihr noch drei Wochen Zeit für diese Feste, und dann ging ich, sie zu holen.

Ich fand das Weib nicht wieder, welches an jenem sonnigen Frostmorgen im klingelnden Schlitten mein Haus verlassen hatte, noch auch das, welches sich auf die Fensterbrüstung geschwungen hatte, um mir die Arme um den Nacken zu schlingen.

Sie empfing mich in einer seltsamen Aufregung, die bald wieder einer reizbaren, launenhaft wechselnden Stimmung Platz machte, bald schienen ihre Gedanken weit entfernt von Allem dem, was ich sprach, bald schien sie jedes meiner Worte zu wägen und über jedes mit mir zu streiten und zu zanken geneigt.

Gegen die Rückkehr brachte sie kein Wörtlein vor. Nur noch einen Festball wollte sie mitmachen; ich ließ sie geh'n, von ihrem ältesten Bruder begleitet; ich mit meinen Waidmannsmanieren getraute mich nicht in das Geschlechtertanzhaus und all' die adelige Herrlichkeit – ich ging mit meinen Gefreundeten in die Bierstube, wo der wohlangesehene Bürgersmann verkehrte.

Und am andern Tage, da ging es heim; ich saß still und unmuthig im Wäglein, denn mir lag es centnerschwer auf der Brust, wie es nun gehen und wie sie daheim sich schicken werde; sie saß ebenso still und in sich gekehrt neben mir. Zuweilen begann sie von ihrem Leben in der Stadt, von den vornehmen Bekanntschaften, so sie da gemacht, zu reden, und mit aufflackernder Lebhaftigkeit zu erzählen; und dann, dann schwieg sie plötzlich mitten im Satze wieder, wie mißmuthig in sich zusammensinkend, als ob es ihr durch den Sinn führe, wie nutzlos sie Worte über dergleichen Sachen und der großen Welt Lebensangelegenheiten an den rauhen Waldmenschen verschwende.

Und so kamen wir heim, und ich sah wohl, daß ich nicht umsonst trübe Ahnungen gehegt, daß sie wenigstens auf lange Zeit hinaus nicht mehr das sei, was sie mir gewesen, mein liebes, zufriedenes Weib – aber es ging still und friedlich her in unserem Haushalt; sie saß am Fenster und blickte, die Hände im Schoß, in den dunklen Wald hinaus, und ich ließ sie gewähren und durch Dienstboten thun, was früher die Hausfrau selbst gethan. Nur einen kleinen vertrockneten französischen Singmeister, den sie in der Stadt angenommen und der nun jede Woche hinauskam, auf einen Tag den Unterricht fortzusetzen, der ihr Romanlesereien brachte und Heimlichkeiten mit ihr zu haben schien, den warf ich zur Thüre hinaus. Sie duldete es schweigend, nachdem ich einige Worte, die scharf wie Dolche waren, zu hören bekommen.

Es war Frühjahr geworden, da kam eines Tages ein fremder Herr in mein einsam liegendes Haus. Er gab sich als einen herzoglichen Forstrath zu erkennen, und nachdem ich ihm mein Revier gezeigt, nachdem er vieles vom Forst- und Waidwerk mit mir hin und hergeredet, rückte er zuletzt mit dem Vorschlag heraus, ob ich nicht Lust habe, in des Herzogs Dienste zu treten, wo er mir eine schöne Revierstelle mit mehr als 300 Gulden besserem Jahreseinkommen verspreche; der Herzog sei von seinen Forstleuten nicht zu seiner Zufriedenheit bedient und suche Leute von meiner Tüchtigkeit, und wenn ich die Stelle annähme, so könne ich in eines so großen Herrn Dienst, der dazu noch ein ausbündiger Liebhaber des edlen Waidwerks sei, baldige Beförderung und große Ehren erwarten, während in der Reichsstadt Diensten von Allem dem gar nichts Weiteres zu erhoffen stünde.

Das war ein Vorschlag, den ein Thor von der Hand gewiesen hätte; und ich, ich hätte es nicht einmal gekonnt, wenn ich auch für mich des Geldes genug hatte, und keine weitere Ehre als die verlangte, deren mein Vater auf seiner Stelle bis an sein Lebensende genossen.

Denn mein Weib – um ihretwillen bedurfte ich der Ehren, die allein sie wieder zufriedenen Sinnes machen und ihr Herz mir zuwenden konnten. Ich schlug ein – ich nahm die Stelle, die der Forstrath mir bot, an; er hatte die Vollmacht, es gleich schriftlich mit mir abzumachen – und als der Mann das Papier unterschrieb, da ahnte ich nicht, daß es – mein Todesurtheil sei!«

»Euer Todesurtheil?« fragte Brandlecht, zu dem Gefangenen aufblickend, und dann den Blick ruhig zu Boden senkend, als ob er über den weiteren Verlauf der Geschichte kaum mehr in Spannung sei.

»Trinkt einmal, Mann,« versetzte der Förster; »trinkt Euer Glas aus und macht's wie ich.«

Dabei leerte er mit einem Zuge sein Glas, füllte es neu und leerte es wieder:

»Als der Herbst da war,« hub er dann wieder an, »zog ich auf die neue Stelle; sie war in der That, wie sich's nur wünschen ließ, und das Forsthaus lag bei weitem nicht so einsam, wie mein früheres – es lag kaum eine Stunde von des Herzogs Sommerresidenz, dem Schlosse Fürsteneck entfernt, und so fehlte es uns nicht an Zuspruch und Besuch von den Herren Cavalieren, die der schönen Försterin den Hof machten, und es war wundersam, wie in deren Gesellschaft diese wieder neu auflebte, und bald wieder ganz das alte heitere, zungengewandte, verwegene, reizende Geschöpf war, das einst mit der leichten Büchsflinte auf der Schulter von ihrem morschen Edelsitz herab zu mir in den Wald gekommen war, um mir den Kopf zu verrücken. Es läßt eben Art nicht von Art; der Falk war wieder unter den Seinen.

Ihr mögt Euch nun auch denken, Mann, wer alsbald fleißig unter den Cavalieren war, die in der Revierförsterei einsprachen – es regnete ja dazumal Gnaden aller Art auf die Revierförsterei, und daß hochfürstliche Durchlaucht darin weit öfter erschien, als der Hausherr wegen seiner vielen Dienstgeschäfte, bald an diesem, bald an jenem Ort, gegenwärtig sein konnte, um einen so hohen Besuch mit pflichtschuldiger Devotion zu empfangen, das war nicht die geringste unter diesen Gnaden. Nur wurde des hochfürstlichen Herrn Gewogenheit gegen seinen Diener mit der Zeit ein weniges abgekältet, als er wahrnahm, daß der Hausherr Alles aufbot, was in seinen Kräften stand, und sich bei Tag und Nacht nicht Ruhe gönnte, um nur dieser ersten heiligen Pflicht genügen, und in den Stunden, wo er seines Herrn und Gebieters Zuspruch erwarten durfte, ihn demüthig auf seiner Schwelle empfangen zu können.

›Ich glaube, Hancke, Er läßt Seinen Wald Wald sein und hockt den ganzen Tag bei Seinem Weibe!‹ geruhten Se. Durchlaucht diese Abnahme ihrer gnädigen Stimmung eines Tags ausdrücklich zu verstehen zu geben.

›Durchlaucht,‹ antwortete ich, dem Manne offen und frei in das große feuchtblaue Auge sehend, ›ich versäume meine Pflichten sicherlich nicht und paß' schon auf, daß nirgendwo in meinem Walde – gefrevelt wird!‹

Die feuchtblauen Augen fingen an zu blitzen, und eine zornige Falte zog sich zwischen ihnen zusammen. Ich kümmerte mich nicht darum. Ich hatte schon nach U. geschrieben, ob ich nicht meine alte Stelle wiedererhalten könne, und hatte meinem Weibe erklärt, daß ich in des Herzogs Dienst nicht bleiben wolle. Allgunde hatte meine Erklärung mit einer Miene aufgenommen, die genugsam zeigte, daß sie betroffen davon war; aber sie hatte nur schweigend die Achseln gezuckt und mir kein Wort erwiedert.

Ein Paar Wochen vergingen – wie sie für mich dahin gingen, davon will ich schweigen, denn Ihr verständet's doch nicht, was in einem Manne vorgeht, der in meiner Lage ist, der vor dem Schänder seiner Ehre demüthig den Nacken beugen muß, während ihm in allen Fingern das Verlangen krampft, ihn zu erwürgen – genug, einige Wochen vergingen, als eines Tages ein Paar Herren bei mir erschienen, die ganz mit der freundlich zuthunlichen Herablassung, womit ich gewöhnt war von den Hofherren behandelt zu werden, erst von Wetter und Wind und anderen gleichgültigen Dingen redeten und mir dann eröffneten, daß sie auch ein Amtsgeschäft hätten, daß sie eine Commission bildeten, welche umherreise, die Forstcassen zu revidiren.

Ich nahm die Sache mit Gleichmüthigkeit auf, führte die Herren in meine Schreibstube, legte ihnen die Bücher vor und schloß die Reviercassa auf. Sie revidirten und fanden, daß von den 950 Gulden, so als Bestand da sein sollten, 300 fehlten.

Ihr werdet nicht glauben, Meister, daß ich in dieser Stunde daran denken kann, Euch die Wahrheit zu verhehlen – ich brauche Euch nicht Betheuerungen zu machen und Eide zu schwören – ich sage Euch einfach: die fehlende Summe war noch dagewesen vier Tage vorher, und ich – ich hatte sie nicht herausgenommen.

Wer konnte es gethan haben?

Die Schlösser der alten Kiste waren unversehrt. Verletzungen waren an derselben nirgends zu sehen. Sie mußte mit den rechten Schlüsseln geöffnet und wieder geschlossen sein.

Ich hatte keine Leute im Hause, deren Treue und Ehrlichkeit ich hätte verdächtigen können – die Magd war zu dumm, um einen verbrecherischen Gedanken zu fassen, der Schreiber war eine alte ehrliche Seele, wie je eine gewesen, der Forstgehülfe aber ein harmloser junger Mensch und guter Leute Kind – und ohnehin auch, wie hätten sie Alle zu den Schlüsseln kommen können – die lagen in einem Spind zu Häupten meines Bettes und der Schlüssel zu dem Spind kam nie aus meiner Tasche. –

Es war nur ein Wesen in der Welt, die diesen Schlüssel leicht an sich nehmen konnte, wenn sie Nachts meinen festen Schlaf benutzen wollte! Nur eines!

Ihr könnt Euch vorstellen, daß dieser Gedanke, der mir blitzschnell durch's Hirn fuhr, nicht dazu beitrug, mir die verlorene Besinnung und Sprache wiederzugeben, auf daß ich mich hätte verdefendiren können. Ich war wie vom Donner gerührt – ich ließ die Herren stumm, wie ein theilnahmsloser Mensch, niederschreiben in ihr Protocoll, was ihnen beliebte; nur als sie mich wegführen lassen wollten, verlangte ich mein Weib zu sehen. Sie war nicht zu finden; sie war, ohne mir ein Wort zu sagen, nach Fürsteneck gegangen, um die Frau eines Hofbeamten dort zu besuchen, wie die Magd von ihr gehört hatte – sie war schon seit mehreren Stunden gegangen!

Daß ich unschuldig an dem Verbrechen, glaubt Ihr mir, Meister, aber die Welt glaubte es nicht. Das wären, hieß es bei dieser, die Folgen des vornehmen Umgangs mit den Hofcavalieren, die im Försterhause ein- und ausschwärmten, der Gastereien, der Bedürfnisse der vornehmen Frau und ihrer adeligen Wirthschaft – es waren die natürlichen Folgen und die gerechte Strafe. Die adelige Wirthschaft hatte mich in Schulden gebracht, das ist wahr, Gott sei's geklagt – es kam zur Sprache und – es bestätigte meine Schuld. Als man dann gehört hat, daß der Herzog mich sofort nach Hohengingen bringen lassen, da mag denn freilich hie und da Einer den Kopf geschüttelt haben, daß das so ohne langes Verhör, ohne Urtheil und Recht geschehe – aber man ist ja in diesem Lande an solche hochfürstliche Justiz gewöhnt, und war ich nicht durch des Herzogs besondere Huld und Gnade ausgezeichnet gewesen und deshalb doppelt strafbar? Das wird wenigstens bei Allen denen feststehen, die mich um diese – Gnade beneidet haben.«

»Und Euer Weib was wurde aus ihr?«

»Mein Weib? Was aus ihr wurde? Denkt Ihr, sie sei zu Grunde gegangen? O nein – ich erfahre hier zwar nicht, was draußen in der Welt vorgeht – das aber hat doch seinen Weg zu mir gefunden, daß es ihr sehr, sehr wohl geht! Sie blieb im Försterhause. Der Herzog ließ es ihr – vier, fünf Monat lang; dann zog sie nach Fürsteneck – sie erhielt eine Wohnung im Schloß – der Herzog gab ihr auch ihren adeligen Namen wieder – sie heißt nun Frau von Lenkstein.«

»Den Namen hab' ich nennen hören,« fiel Brandlecht ein – »als den der neuen allmächtigen Freundin des Herrn – und Ihr, Mann, glaubt nun, es sei Alles ein teuflisches abgekartetes Spiel gewesen, die Wegnahme des Geldes, die Commission, der Befehl, Euch nach Hohengingen zu bringen?«

Der Gefangene zuckte die Achseln.

»Saß ich jetzt nicht anderthalb Jahre hier, ohne alles Verhör und Urtheil –«

»Aber von Urtheil und Recht ist doch in dem Papier die Rede, das gestern Euretwegen aus des Herzogs Cabinet an den Commandanten gelangt ist?«

»Von Urtheil und Recht habe ich nichts erfahren und gewahrt,« antwortete der Gefangene tonlos.

»Das ist ja eine ganz entsetzliche haarsträubende Sache,« sagte Brandlecht empört aufspringend; »und darum sollt Ihr nun hier so grausam umkommen und vor der Zeit ein schmachvolles Ende finden?! Und ich ich soll –«

»Laßt Euch darum keine grauen Haare wachsen,« versetzte der Förster, wieder nach dem Glase greifend; »seid Ihr's nicht, so ist's ein Anderer und was das Sterben angeht, seht, so ist's ein Labsal für mich, daß es aus und zu Ende sein soll oder glaubt Ihr, ein Mann, den sie in Hohengingen begraben haben, ein Mann, dem am Herzen nagt, was mir daran nagt, glaubt Ihr, der betrachte nicht den Tod als seinen Freund? Wahrhaftig, Meister Hämmerlein, Ihr braucht mich nicht um Verzeihung anzugeh'n – ich werde Euch Dank schuldig sein! So ist's mir um's Herz – ich habe nie leere Worte gemacht und am wenigsten in dieser Stunde.«

»Ich glaub's Euch – ich glaub's Euch, Mann,« versetzte Brandlecht tief aufathmend und in dem Gewölbe auf und niederschreitend; und doch und doch – seht, diese meine rechte Hand gäb' ich her, auf der Stelle, wenn ich nichts damit zu schaffen hätte. O mein Gott, welch' elendes Leben ist dies und was haben wir armseligen Menschen verbrochen, daß es uns so mit lauter Bitterkeit und Galle gespeist und zuletzt unter eitel Schmerzen und Verzweiflung abgenommen wird!« –


5.

Der Scharfrichter war noch eine Stunde bei dem Gefangenen geblieben, dessen Freund er in kurzer Spanne Zeit geworden. Dann war der Geistliche, der schon die Morgenstunden mit dem Gefangenen zugebracht, zurückgekommen, und hatte Brandlecht fortgesandt.

Der Meister hielt sich die übrigen Stunden still in seiner Kammer, bis er gerufen werde. Es lag eine große alte Bibel da, in der er zu lesen versuchte, um über die langsam schleichenden Minuten fort zu kommen. Aber es wurde ihm unmöglich, seine Gedanken daran zu fesseln. Den Kopf auf den Arm gestützt, starrte er gedankenvoll die Wände an. Es überkam ihn ein Gefühl unsäglicher Niedergeschlagenheit. Er dachte an sein krankes Kind, an des armen Gefangenen Schicksal – an sein eigenes!

Die Minuten schlichen langsam, aber sie schlichen – sie waren endlich verronnen; die verhängnißvolle Stunde schlug und als die Schloßuhr dann eine halbe Stunde später wiederum schlug – da war Alles vorüber! –

Der Commandant kehrte aus dem Hofe, wo zwischen einer Soldatenhecke die Execution stattgefunden hatte, in seine Zimmer zurück. Brandlecht, der ihm gefolgt war, trat hinter ihm ein.

Beide sprachen nicht; der Commandant ging an seinen Schreibtisch, Brandlecht blieb an der Thür stehen.

Eine Weile schrieb der Officier, untersiegelte dann das Blatt und schloß eine Lade seines Schreibtisches auf. Er nahm vier Goldstücke daraus und legte sie zusammt dem Papier auf eine Ecke des Tisches hin.

»Nehmt das, Meister,« sagte er dann. »Ihr habt nun Euren Urlaub. Könnt gehn. Wollen hoffen, daß wir Euch so bald nicht wieder sehen. Wird mir immer flau, wenn ich Euch sehe, der Teufel weiß es!«

Brandlecht nahm schweigend das Zeugniß und den Blutlohn. Dann sagte er:

»Ich habe noch eine Bitte an den Herrn Oberstwachtmeister.«

,Eine Bitte? was ist's?«

»Daß der Herr Oberstwachtmeister die Gnade hätte, mir ein Pferd geben zu lassen.«

»Ein Pferd will Er?«

»Ich will es bis morgen Abend wohlbehalten zurücksenden.«

Was will er mit einem Pferd?

Möglichst rasch heimkommen – ich habe auf der Herreise gesehn, wie schlecht die Wege sind und ich muß eilen.«

»Eilen? wozu?«

»Ich habe ein schwer krankes Kind daheim.«

»Hol ihn der Teufel mit seinem Pferd und seinem Kind – ich hab' kein Pferd für Ihn.«

»Ich reit' es gewißlich nicht zu Schanden.«

»Ja, glaub's schon aber Er bekommt's doch nicht; und nun geh' Er.«

»Herr Oberstwachtmeister, ich muß ein Pferd, haben; und wenn Sie's nicht befehlen, daß mir eins geliefert werde –«

»So bekommt Er keins – ja, ich glaub's schon,« fiel der Commandant höhnisch ein. »Soll ich etwa eines von meinen hergeben, oder von den Dienstpferden, daß hernach ein Schinderroß daraus wird, auf das kein ehrlicher Christenmensch mehr sich sehen will?«

Wenn Sie wüßten, wie sorgenvoll und bekümmert ich um mein armes Kind bin –«

»Brandlecht, sei Er vernünftig und –«

Der Scharfrichter, der zu sehr unter den Einfluß dessen stand, was er eben erlebt und selbst vollbracht, um nicht ruhig und gleichmüthig alle diese Reden über sich ergehen zu lassen, wollte antworten, als draußen im Hofe eine Bewegung um einen eben in die Festung einreitenden Mann entstand, der, als er den Mantel auseinanderschlug, um abzusteigen, die herzogliche Officiersuniform gewahren ließ.

Der Commandant war bei dem ersten Geräusch der Hufschläge an's Fenster getreten.

»Da ist wieder solch ein verfluchter Cabinetsbote – diesmal ist's ein Adjutant des Herzoge selber – der Teufel hole sie Alle,« brummte der Oberstwachtmeister halb vernehmlich; »was der nun wieder bringt!«

Der Adjutant des Herzogs kam, von einem Soldaten geführt, die Stiege herauf. Brandlecht wandte sich schweigend zum Gehen.

»Bleibt, Meister,« sagte der Commandant, »'s wär' möglich, daß wir Euch wieder nöthig hätten – wollen's aber nicht hoffen!«

Der Adjutant trat ein und meldete sich als Lieutenant Frecksberg vom Leibbataillon, betraut mit einem speciellen Auftrag des gnädigsten Herrn.

»Und was habt Ihr für einen Auftrag, Lieutenant Frecksberg?« fragte der Oberstwachtmeister.

Der Officier reichte dem Commandanten eine Depesche, und während dieser sie erbrach, sagte er:

»Ich soll mich zu dem Gefangenen Nummer Fünfzehn führen lassen, und diesen dazu bewegen, daß er einwilligt, in das neuformirte Bataillon einzutreten, welches die andere Woche nach Holland abmarschirt, um dort nach Batavia eingeschifft zu werden.«

»Was?« – rief der Commandant aus, »zu dem Gefangenen Nummer Fünfzehn?! – Nummer Fünfzehn?! – wahrhaftig, da steht es,« fuhr er fort, in die aufgerissene Depesche blickend … »Aber in Dreier Teufel Namen, Herr … das ist ja um verrückt zu werden!«

»Herr Oberstwachtmeister –«

»Nummer Fünfzehn – der ist ja vor einer Stunde geköpft! Und nun soll er nach Batavia?!«

»Geköpft?!«

»Da steht der Scharfrichter – da steht er noch, der ihn in die andre Welt geschickt hat – gestern Nachmittag ist mir Seiner Durchlaucht Specialbefehl zugekommen – wo ist der verdammte Wisch – da könnt Ihr's lesen, Frecksberg – das ist ja eine vermaledeite Geschichte!!«

Der Lieutenant starrte das Papier an, welches der Commandant bald gefunden und zornig vor ihn hingeworfen hatte.

Dann erhob er sein ein wenig bleicher gewordenes Gesicht, und zu dem Commandanten aufblickend sagte er:

»Das ist unerklärlich – das ist eine verzweifelt unangenehme Geschichte für uns.«

»Für uns?« schrie der Commandant, »den Teufel auch, Herr Lieutenant! Ich hafte dem Herzog mit meinem Kopf für die stricte, augenblickliche Ausführung seiner Befehle.«

»Aber dies ist offenbar ein Mißverständniß – es muß ein Versehen mit den Nummern in der Cabinetskanzlei vorgekommen sein.«

»Schlag das Wetter in die Cabinetskanzlei – möge das Schreiberpack in die Hölle fahren – Mißverständniß und Schreibfehler, wenn's ein Menschenleben gilt! Aber was geschehen ist, ist geschehen – melden Sie nur dem Herzog meine Devotion, und ich hätte gethan nach seinem Befehl – ich habe es schwarz auf weiß – das Weitere kümmert mich nicht einen Pfifferling!«

Der Commandant war in die zornigste Aufregung gerathen, der Lieutenant von Frecksberg stand betroffen da, Meister Brandlecht aber, der, wie vom Donner gerührt, dieser merkwürdigen Unterredung bis hierhin zugehört hatte, fühlte sich plötzlich wie von einem inneren Grauen, von einem Entsetzen gepackt, das ihn auf und davon trieb, als wäre der höllische Feind hinter ihm. Er schlüpfte rasch, ohne ein Wort zu sagen, zur Thüre hinaus, lief die Treppen hinab, quer durch die Höfe in seine Kammer, raffte Mantel und Schwert auf, warf dann das Schwert mit einem plötzlichen Schauder, als wäre es glühendes Eisen was er angefaßt, weit von sich, daß es klirrend in den Winkel flog, und eilte davon. Nachdem der diensthabende Unterofficier die Zugbrücke für ihn niedergelassen, und während sie krächzend und mit ihren Ketten stöhnend langsam wieder in die Höhe gewunden wurde, stürzte Meister Brandlecht mit einer Hast den steilen Mauerweg in's Thal hinab, daß die Schildwache oben auf der Bastionsecke ihm verwundert nachsah.

Indeß der Scharfrichter so dahineilte, als ob er vor dem innern Entsetzen, das ihn schüttelte, fliehen und sich retten wollte, hatte oben in dem Zimmer des Commandanten der Lieutenant Frecksberg sich in einen Stuhl geworfen, während der Oberstwachtmeister noch immer zornig auf und nieder schritt, und einen Fluch über den andern ausstieß.

»Nummer Fünfzehn ist der Revierförster Hancke, ist mir gesagt worden, als ich die Depesche erhielt,« hub nach einer Pause der Lieutenant halblaut an.

»Nun, wenn's Euch gesagt ist, so mag der Mann Hancke gehießen haben,« fuhr der Commandant heraus, »wir hier oben wissen nichts davon – wir kennen nur die Nummern.«

»Ich weiß, ich weiß,« entgegnete der Lieutenant, »ich will Ihre Amtsgeheimnisse nicht ausforschen.«

»Wär' auch sehr vergeblich!«

»Nehmen wir nun an, der Mann hätte den Namen Hancke gehabt – dann –«

Der Lieutenant schien erst überlegen zu wollen, was er sagte, bevor er weiter sprach; er zeichnete mit der Spitze seines Degens nachdenklich Figuren in den Sand, womit die Dielen bestreut waren.

»Was wollt Ihr sagen, Frecksberg?« fragte der Commandant nach einer Pause, vor ihm stehen bleibend.

»Ich will nichts sagen – es fährt mir nur so durch den Sinn, daß die Sache doch vielleicht nicht so ganz ein Mißverständniß oder – ein Schreibfehler ist, wie wir denken!«

»Nicht? Und wie sollte das zusammenhängen?«

»Haben Sie nicht irgend einen andern armen Sünder in den Keuchen, von dem Sie annehmen könnten, daß in diesen Tagen der Meister Hämmerlein über ihn kommen werde?«

»Einen Andern – nun, mag schon sein – Nummer Acht, ein Brandstifter und Mordbrenner, dann Nummer Dreizehn, ein Hallunke von Raubmörder –«

»Bleiben wir bei Nummer Dreizehn stehen. Vielleicht hat des Herzogs Ordre dem gegolten, und –«

»Der Schreiber im Cabinet hätte aus Versehen eine Fünfzehn aus der Dreizehn gemacht?« fiel der Commandant ein.

»Aus Versehen? Man sollte meinen, auch der dümmste Schreiber nähme sich beim Expediren solcher Befehle in Acht – und dumm ist der Herzogs Cabinetsschreiber nicht eben!«

»Also? was wollt Ihr sagen, Frecksberg? Heraus mit der Sprache!«

»Ich denke nur, man müßte sich fragen,« fuhr der Lieutenant, seine Stimme zum Flüstern dämpfend, fort, »man müßte sich fragen, wer kann ein Interesse dabei haben, daß – aus Nummer Dreizehn eine Fünfzehn geworden?«

»Hm – ein Interesse – wer sollt' es haben?«

»Die einzige Person – aber Herr Oberstwachtmeister, Sie verstehen mich wohl, ich rede nur von Möglichkeiten, die man dennoch besser auch nicht einmal den Wänden und zumal denen auf Hohengingen anvertraute!«

»So redet doch in's Teufels Namen nur weiter, Fredeberg – ich meine, Ihr könntet wissen, daß ich nicht der Mann bin, einen guten Bekannten und Cavalier in's Unglück zu stürzen!«

»Nun wohl,« flüsterte der Lieutenant weiter, »die einzige Person könnte ein Interesse daran haben, welche auch stündlich in des Herzogs Cabinet treten und in den Papieren, welche da liegen, bevor sie zur Expedition in die geheime Kanzlei gehen aus einer 13 eine 15 machen könnte!«

Der Commandant sah den Officier vor ihm mit Augen, die seine innere Betroffenheit spiegelten, an.

»Diese einzige Person,« fuhr der Lieutenant fort, »ist des Revierförsters Hancke früheres Eheweib.«

»Teufel,« murmelte der Oberstwachtmeister, »Ihr habt curiose Gedanken, Frecksberg!«

»Dafür gebe ich sie auch nur, für Gedanken – sie wären mir vielleicht auch nicht gekommen, wenn man nicht schon curiose Dinge gemunkelt über des Försters Unglück, den Cassendefect, die plötzliche Revisionscommission und sein Verschwinden auf Hohengingen.«

»Aber in's Satans Namen,« fiel der Oberstwachtmeister ein, »die Lenkstein hat ja nun Alles auf Erden, was ihr Herz begehren kann, und – der Mann war ja hier ohnedem wohl aufgehoben!«

»Wohl aufgehoben – aber er lebte! Wissen Sie, wohin der Ehrgeiz eines solchen Weiber sich verfliegt? Kann das nicht so weit sein, daß sie, um ihr Ziel zu erreichen, zuerst Wittwe sein muß!«

»Was –sie wird ihn, unsern Gnädigsten, doch nicht dahin bringen wollen, daß er sie heirathet!« rief der Commandant zornig ans. »Er wird sich hüten!«

»Hoffentlich!«

»Also!«

»Damit ist nicht gesagt, daß sie nicht darauf hinarbeitet!«

»I so schlag das Wetter in die ganze Wirthschaft,« rief der Commandant aus, »hören Sie auf, Frecksberg, mit Ihren vermaledeiten Gedanken – der Satan soll mich holen, wenn ich noch ein Wort davon hören will!«


6.

Was der Lieutenant von Frecksberg da spintisirt und gedacht, um die seltsame Thatsache zu erklären, daß er den Mann, an den ihn ein Auftrag des Herzogs sandte, auf desselben Herzogs Befehl nicht mehr unter den Lebenden und hingerichtet fand – waren es die boshaften Unterstellungen eines Höflings, der gelernt hat, alles für möglich zu halten – oder war es die Wahrheit? Hatte in der That ein ruchloses Weib den Tod ihres Gatten herbeigeführt, um die Maintenon eines Mannes zu werden, der nur in Verschwendung und Despotenübermuth ein Ludwig XIV. war?

Wer wüßte eine Antwort auf diese Frage. Es ist auch nicht das Geringste darüber bekannt geworden. Es ist aber auch nicht bekannt geworden, wie der Herzog die Meldung aufgenommen, welche ihm sein Bote, nachdem er von Hohengingen zurückgekehrt, machte; oder was er auf die Depesche verfügt, in welcher der Commandant, was geschehen, vermeldete und die er dem herzoglichen Adjutanten mitgab. Es hat nicht darüber verlautet, etwa daß der gnädigste Herr in Zorn gerathen, daß eine Untersuchung angestellt worden, daß der expedirende Beamte der geheimen Kanzlei von einer Ungnade betroffen worden nichts, gar nichts – es ist Gras über die Geschichte gewachsen wie über so viele, so viele andere!

Nur das ist gewiß, daß Frau von Lenkstein sich ihrer Allmacht und ihrer Gewalt über das Gemüth des fürstlichen Landesherrn nicht mehr lange erfreute. Ihr Reich dauerte noch etwa ein halbes Jahr. Dann mußte sie eines schönen Tages das Residenzschloß räumen. Es sollen dabei heftige Scenen vorgefallen sein, in denen die verstoßene Geliebte mit bösen Enthüllungen gedroht hätte, Drohungen, die mit andern, schlimmeren, erwiedert worden sein sollen und die nie ausgeführt wurden.

Wenden wir uns zu unserem Meister zurück.

Wir sahen ihn entsetzt, überwältigt vom innern Schauder über das, was er vernommen und was er gethan, vor Verzweiflung über die Welt und über sich selbst, davon fliehen. Er war in seinem tiefsten Innersten zerknirscht und in dieser Zerknirschung hatte ihn plötzlich der Gedanke erfaßt, zu seiner Strafe, daß er sich zum willigen Werkzeug solcher herrschenden Gewalten, wie sie sich heute ihm enthüllt, hergegeben, werde er nun, wenn er daheim über seine Schwelle trete, seines Weibes Klageschrei über ihr todtes Kind vernehmen. Daß er sein Kind nicht am Leben finden werde, daß er es sei, der es durch das, was er gethan, gemordet habe, daß der Himmel es erhalten haben würde, wenn er bei ihm geblieben und statt ein Menschenleben zu zerstören, an seinem Bettchen gekniet und den Himmel um seine Erhaltung angefleht hätte – das setzte sich mit der Macht einer inneren Ueberzeugung, wie eine Offenbarung von oben, fest in seinem geängsteten, von Pein gedrückten, krampfhaft schlagenden Herzen, als er seines Weges daherstürmte mit langen, hastigen Schritten, den Körper vorgebeugt, den im Abendwinde flatternden Mantel nach sich ziehend, verfolgt von seinem langhingezogenen Schatten, den die niedergehende Sonne über die Erde warf.

Und wie er eilte, es schien ihm, er kam nicht weiter; der Weg war so entsetzlich, so bodenlos – bald mußte er rechts ausweichen und über irgend eine Berghalde, einen Anger, bald links und über frisch gepflügte Aderfluren schreiten, um nur festen Boden unter den Füßen zu halten. Die Dämmerung brach ein, der Abend kam; der Wind wurde heftiger und wehte dem Eilenden scharf in's Gesicht. Keine Seele begegnete ihm. Es war, als sei's in der Gegend ausgerufen: Ihr Leute, es kommt der Scharfrichter um die Abendstunde daher – laßt Niemand des Weges gehen, daß er ihm begegne, denn es steht der Kainsstempel des Mordes auf seinem Antlitz, und der Fluch wandelt vor ihm her!

Und kein menschliches Wesen kam ihm entgegen, ließ rundum sich blicken – kein Gruß einer treuherzigen Seele, kein wohlmeinendes: Behüt Euch Gott! tönte an sein Ohr und scheuchte den Wahn von ihm fort, daß er verlassen und verflucht sei in dieser wie ausgestorbenen Welt; allein mit den dämonischen Gedanken, die ihn vor sich her peitschten, allein mit dem grausenhaften blutigen Bilde, das vor ihm her wandelte, als ob es ihn nun nie, niemals mehr verlassen wolle!

Endlich, als es schon tief dunkel war, kam Brandlecht menschlichen Wohnungen nahe; er sah vor sich in einem Thalgrunde die Lichter eines Dorfes schimmern. Rechts, am Anfange eines Hohlweges, der sich abzweigte, erhob sich ein kleiner Bau, mit einem von zwei Säulen getragenen Vordach – es war eine kleine Flurkirche; erschöpft stieg der Meister über die hinanführenden Stufen – das Gitterthor, das in's Innere führte, war verschlossen, der Eintritt war ihm verwehrt, wie ja die ganze Welt vor ihm, dem Blutmenschen, verschlossen war – aber eine Kniebank war da, und ein Gotteskasten. Auf die Bank warf sich Brandlecht hin und flehte den Himmel um Gnade und Erbarmen an, und daß er ihn strafen möge nach seinem Gefallen, nur nicht an seinem armen Kinde – und dann raffte er sich auf und zog den Blutlohn, den er heute empfangen, hervor, und warf die vier Goldstücke in den Gotteskasten, und danach eilte er weiter.

Es war ihm, als könne er nun aufathmen – als sei die Last auf seinem Herzen um vieles, vieles erleichtert!

Er erreichte das Dorf. Kleine zerstreute dürftige Hütten, in Schmutz und Schlamm daliegend, waren es, die es bildeten. Ein dunkler alter Bau erhob sich in der Mitte auf einer Anhöhe unter dunklen Baumwipfeln. Es schimmerte ein Licht von da herunter, ein Licht, das sich im Freien befand. Brandlecht stieg eine ausgetretene Stiege von morschen wackeligen Steinstufen empor, um sich bei denen, die da oben mit einer Laterne sein mußten, zu erkundigen, wo er ein Pferd erhalten könne.

Als er oben angekommen, befand er sich zwischen Grabhügeln, zwischen hölzernen Kreuzen und Grabsteinen – es war der Dorfkirchhof. Das Licht stand auf einem dieser Grabsteine; neben demselben warf ein Mann, halb in der Erde stehend, Schollen auf.

Brandlecht starrte schweigend in das halb fertige Grab.

Der Todtengräber stützte sich auf seine Schaufel und sah verwundert den fremden Menschen an, der so plötzlich neben ihn getreten und der nun stumm und starr dastand – überwältigt von der ganzen Last, die er heute getragen, die sein Gebet an der Capelle ihm erleichtert hatte, und die nun mit Centnerschwere zurückkehrte, – es war ihm, als blicke er in das Grab seines Kindes hinab!

»Was wollt Ihr?« fragte endlich der Mann.

Brandlecht faßte sich

»Ein Pferd möchte ich haben,« versetzte er; »ein Pferd nur für die Nacht, was es auch kosten mag. Ich war schon die vorige Nacht unterwegs und habe den Tag über viel erlebt und bin jetzt zu Tode müd.«

»So bleibt hier im Ort zu Nacht!«

»Daheim liegt mein Kind sterbenskrank. Ich muß ein Pferd haben. Könnt Ihr mir nicht sagen, wo ich eins finde?«

»Nun, kann schon sein, daß Euch der Hofbauer eines leiht. Kommt darauf an, ob Ihr ihm sicher dafür seid! Wer seid Ihr?«

»Ich bin der Meister Brandlecht von Harzheim.«

So?« sagte der Todtengräber gedehnt – »der Meister Brandlecht seid Ihr?«

Er betrachtete ihn noch eine Weile, mit stieren theilnahmlosen Blicken, dann begann er mit verdoppeltem Eifer zu schaufeln und sagte:

»Dann gibt Euch der Hofbauer kein Pferd.«

»So nennt mir jemand Anderes – ich sage Euch, ich will bezahlen, was immer verlangt wird!«

Der Todtengräber schüttelte den Kopf und sagte nur:

»Macht Euch keine unnütze Mühe, Mann!«

Dann wandte er Brandlecht den Rücken und stieg aus der Grube heraus; oben stieß er das Grabscheit in den Boden, nahm die Laterne und ging davon.

Brandlecht war wieder allein, er blickte verzweifelnd umher – an welche dieser Hütten sollte er anklopfen – welche Thüre würde sich ihm öffnen und nicht alsogleich, sobald er seinen Namen genannt, wieder vor ihm zugeschlagen werden?

Er mußte voran – zu Fuß, durch Nacht und Dunkel. Er sollte die ganze Bitterkeit dieser Stunden durchkosten – kein Wermuthstropfen sollte ihm erspart bleiben; er sollte es in seiner ganzen schrecklichen Bedeutung inne werden, was es heißt: Ausgestoßen von den Menschen! Selbst der Todtengräber floh ihn!

Also vorwärts, vorwärts – wie ermattet er sein mochte, durch Nacht und Nebel, durch den grundlosen Weg, so lange der Rest seiner Kräfte aushielt! Er war ja ein kräftiger, willensstarker Mann – es mußte gehen – er wollte, er mußte zu seinem Kinde! So ging es denn auch – eine, zwei Stunden noch, dann nicht mehr. Die letzten Kräfte waren erschöpft. Er brach zusammen.

Es stand eine Heuscheuer am Wege, dicht bei einem Gehöft; das Thor war nur mit einem hölzernen Riegel geschlossen; Brandlecht schleppte sich hinein und warf sich auf die weiche Streu, die er fand. Schlafen konnte er nicht; in wirrem Durcheinander kreisten seine Gedanken – das blutige Bild des durch seine Hand sterbenden Mannes von heute, das Grab und der Todtengräber, die Leiche seines Kindes in weißen Kissen daliegend – Alles das stand ihm vor Augen und drängte sich und kreiste durch sein fieberndes Gehirn. Und doch gab die Ruhe seinen Gliedern neue Kräfte; und nach und nach schlief der übermattete Körper ein, wenn auch der Geist wach blieb; und es entstand in ihm jener seltsame beängstigende Zustand, der sich unsrer bei großer Erschöpfung und Uebermüdung bemächtigt – der Körper sendet seine Traumgestalten uns in's Hirn, in welchem der Geist in wacher Gedankenthätigkeit geblieben ist, und aus Traumgestalten und bewußten Gedanken entsteht ein Durcheinander und Wirrniß und ein Amalgam, daß wir uns selbst für verrückt halten.

Als der Morgen dämmerte, erhob sich der Meister wieder. Er fühlte sich jetzt kräftig genug, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Nach einer Stunde Wanderns holte ihn auch ein Bauersmann aus der Gegend mit einem Wagen ein. Der Mann bot ihm einen Platz im Wagen an – er war dem Meister dankbar, weil dieser ihm als Thierarzt Hülfe geleistet; auch sagte er, daß der große Bleßrappe ihm daheim krank im Stalle stände und daß er den Meister bitte, zu kommen und nach dem Thiere zu sehen. Brandlecht versprach es.

Es mochte sieben Uhr sein, als endlich die Thürme von Harzheim vor den Augen Brandlecht's auftauchten; freundlich und heiter, von der hellen Morgensonne beschienen, lag das Thal vor ihm, wie an jenem Tage, als Meister Bäumle so neben ihm im Wagen saß und ihn seinem dunklen Schicksal zuführte – Meister Bäumle, der nun längst auch dahin gegangen, wohin er so viele gesendet.

Eine eigenthümliche Stimmung von wehmüthiger Niedergeschlagenheit bemächtigte sich der Brust des Meisters, in der bis jetzt mehr Grimm und Entrüstung und Bitterkeit gegen Welt und Menschen gewühlt hatte; die verzweiflungsvollen Entschlüsse, die in ihm getobt, während er sich durch die Nacht weiter gekämpft hatte, verflogen allmälig – auch ging er endlich gefaßt und gemessenen, ruhigen Schritte den Weg zu seinem Hause hinan, nachdem der Bauer ihn eine Strecke vor Harzheim abgesetzt hatte. Er war ergeben in den Anblick, der ihn daheim erwarten mußte.

So kam er seinem Hause nahe. Ueber dem Bühel zu seiner linken sah er die Wipfel der Bäume auftauchen, die es umschatteten. Dann die Esse – das Dach. Noch einige Schritte, nur noch wenige, und er sah schon den rebenumsponnenen Söller, der um das Haus lief. Jetzt beflügelte sich plötzlich sein Schritt. Er fuhr mit der Hand um Herzen – er sah den Söller – er blieb stehen – ein lauter, heller Ruf entfuhr ihm – ein tief aus dem innersten Herzen kommendes, wie mit brechendem Athem hervorgestoßenes »O mein Gott!« – und dann flossen Thränen über seine braunen Wangen, und dann stürzte er in vollster Hast seiner Thüre zu!

Er hatte sein Weib, er hatte sein Kind erblickt; sie standen auf dem Söller, das Kind auf der Brüstung, vom Arm der Mutter umschlungen, die es in den Schein der warmen Morgensonne hinausgebracht hatte. Das Kind stand da, übergossen vom Sonnenlicht, und streckte dem Vater heiter die Arme entgegen. –

Das Kind war genesen!

Auch der Meister schien nun, als die Kleine in seinen Armen lag, genesen von Allem, was in ihm gewühlt hatte in den letzten Stunden. Er war wie im Rausche über das neu ihm geschenkte junge Leben, das ihm gehörte. –

Aber nicht lange – nur wenige Tage; dann bemerkte Anne Marie, wie er einsylbig und unstät umhergehe, wie etwas auf seiner Seele liege, was er – zum ersten Male – vor ihr verberge. Sie fragte nicht, was ihn bedrücke; ängstlich forschte sie in seinen Mienen, aber sie schwieg. Am dritten Tage in der Frühe sagte er ihr, daß er gehen wolle nach eines Bauern erkranktem Gaule zu sehn und erst gegen Abend heimkehren werde. Als er ging, steckte er das große Reiterpistol, das über seinem Bette hing, zu sich und verbarg es in seinem Mantel. Es ward Abend bis er heimkehrte. Als er eintrat, stieß sein Weib einen Schrei aus – der Meister war verwundet, er trug den Arm, die dick umwickelte rechte Hand in der Binde.

»Erschrick nicht, Anne Marie,« sagte er, mit der linken Hand Hut und Mantel abwerfend; »ich hab' einen Unfall gehabt – des Huber's Bleßrappe hat mir die Hand zerschlagen. –«

»O mein Gott – ist's schlimm?«

»Nicht so gar – drei Finger sind hin.«

»Drei Finger?!«

»Beruhige Dich – es ist jetzt Alles gut und vorüber – der Doctor in Harzheim, zu dem ich gegangen bin, hat sie mir säuberlich abgenommen – es war weiter nichts zu machen. Was thut's!«

»Gerechter Himmel!« sagte die Frau, überwältigt auf einen Stuhl niedersinkend.

»Es ist ja auch ein Glück dabei!«

»Ein Glück dabei – die Hand fort, und ein Glück?!« jammerte Anne Marie.

»Nun ja – es ist die rechte Hand!«

»Und just weil es die rechte ist –«

»Brauche ich nie mehr damit einer Gottescreatur das Leben zu kürzen,« versetzte der Scharfrichter, »und dafür danke ich meinem Schöpfer.«



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