Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Aus Hippolits Briefen auf der Reise durch Deutschland nach der Schweiz

»Die Sonne geht auf, die Tage sind so lang. ›Gottlob!‹ sage ich abends, ›nun wird es Nacht‹, aber die Nacht frommt mir nicht, denn nur die Glücklichen schlafen. Vor der Morgenröte wecke ich meinen Bedienten, das ganze Haus kommt in Alarm, Pferde müssen herbeigeschafft werden, ein Courier voraus, ich habe Eile, fort! Fort! Nur immer rasch vorwärts. Aber wohin? Die Wege, das Wetter sind entsetzlich, aber nur fort, und wohin? Weiß ich es denn? Gabriele! Mußte es denn sein? Mußten Sie mich denn verbannen?

Ich will nicht klagen, ich unterwerfe mich Ihrem Willen, und wenn ich nur den Gedanken so recht innig, so recht lebendig zu fassen vermag, daß ich durch diese Unterwerfung vielleicht Ihnen einige trübe Minuten erspare, dann segne ich mein Elend.

Ja, unsre Altväter hatten recht, welche die Fremde das Elend nannten, das fühle ich. Ich bin in der Fremde; ausgestoßen aus meiner süßen Heimat, zu der ich nie wiederkehren werde! Und wie elend!

 

Nun habe ich es erjagt! Ich habe Ihren Brief noch nicht gelesen, ich kann das Siegel nicht brechen, ich muß Ihnen erst danken; ich habe sie, ich halte sie, die unschätzbaren Züge, die Gabrielens Hand für mich niederschrieb. Dieses Papier hat sie berührt, ihr Atem wehte drüber hin, ihr Auge ruhte darauf; nein, ich kann noch nicht lesen, das Gefühl dieser Seligkeit duldet es nicht.

 

Ich wußte, daß ich hier das einzige Glück meines jetzigen Lebens zu finden hoffen durfte, sowie ich die wohl bekannten Türme von *** erblickte, warf ich mich auf das schnellste meiner Pferde, die ich vorausgeschickt hatte. So sprengte ich zum Tore hinein, die Straße hinauf vor das Posthaus; ich kenne die Stadt noch von vorigen Zeiten her. Am Ziel ergriff es mich mit tödlicher Angst, als wäre kein Brief an mich da. Eiseskälte in allen Gliedern vermochte ich es kaum, eine Karte mit meinem Namen aus meinem Taschenbuch zu nehmen und hinzureichen. Da – da – o Gabriele! Ich erkannte gleich das rosenfarbene Couvert. Segen über Sie, tausendfältigen, daß Sie es wählten! Welche Masse von Seligkeit ruft dieses gefärbte Papier mir zurück! Es war Regenwetter gewesen, mehrere Tage lang, Ida und Bella und ich, wir mußten artig sein und uns neben Ihnen sitzend mit nützlichem Fleiße beschäftigen. Ich Ungeschickter, ich konnte nichts Brauchbares hervorbringen als diese Briefcouverts und ward von den Mädchen verhöhnt, von Ihnen in Schutz genommen, und, o Gabriele! Sie haben die armen bunten Papierschnitzelchen nicht verworfen, Sie haben sie mit sich genommen, und nun fliegt eins davon zu mir herüber, von Ihnen gesandt, ein stummer Bote des Friedens und des Entzückens.

Ihr Brief ist ernst, er ist mehr als das, würde ich sagen, durchwehte ihn nicht bei aller anscheinender Strenge die himmlische Güte und Milde, die Sie niemalen verläßt. Ich hätte bei meinen Verwandten noch verweilen, ich hätte überall im Winter nicht reisen sollen! So war Ihr Wille. Teure Gabriele! Hätte ich ihn gekannt, ich hätte ihn erfüllt und wäre ich auch zugrunde darüber gegangen. So habe ich in meiner Unwissenheit von meinem Gefühl mich hinreißen lassen und wäre untröstlich, ohne die Überzeugung, daß Sie mir selbst würden geheißen haben fortzureisen, wenn Sie mich und meine Umgebungen in der Nähe gesehen hätten. Nein! Mit diesem wunden Herzen konnte Gabriele ihren armen Edelknaben nicht in den wildesten Strudel der Faschingslustbarkeiten stürzen wollen; nicht in jenes Tosen, wo der Schmerz am einsamsten sich fühlt, wo alle Wunden bluten, mit glühenden Krallen unnennbares Weh uns packt und hält und nicht losläßt, und fremdes Lachen um uns zum larvenartigen Grinsen wird, das uns in stummer Angst von Ort zu Ort treibt, aus wüsten Träumen uns wach schmettert, bis der fürchterliche Kontrast zwischen Außen und Innen uns zu wahnsinnigem Tun treibt, in welchem wir Betäubung suchen, weil es keine Ruhe mehr auf Erden gibt.

 

Gottlob! Der Winter ist überlebt, die Blumen knospen, die Natur erwacht! Alte liebe Bekannte suchen den armen Verbannten auch in der Fremde auf; die Nachtigallen singen mir auch hier den einen, einen Namen zu, der alle Harmonie der Welt in seinen süßen Tönen vereint. Und die Pappeln! Sie wiegen die grünlich goldigen Häupter hoch in der blauen Luft und flüstern miteinander, wie jene am Bassin im kleinen Gärtchen – o Gabriele, Gabriele, wie selig und wie elend macht mich Erinnerung! – Verzeihung, ich wage keine Silbe mehr. Aber zu Fuße will ich ganz allein die Schweiz durchstreifen, fortwandern, bis ich abends in todähnlicher Ermüdung hinsinke und mir im betäubenden Schlummer vielleicht Vergessenheit wird auf wenige Stunden. So will ich das Ziel meiner Verbannung erreichen; Sie wollen es; es sei! Das Meer und mächtige Ströme und himmelhohe Alpen sollen zwischen uns treten, ich soll sogar der Luft des Landes entsagen, in dem Sie atmen und leben, sogar den mir so lieb gewordenen Tönen Ihrer Sprache. Es sei! Aber Gabriele, es hilft Ihnen nichts! Nachts leuchten mir und Ihnen dieselben Sterne, und wenn ich die Augen schließe, stehen zwei dunkele, blitzende Sonnen vor mir und strahlen mild und warm mir bis ins innerste Herz. Sehnsucht spottet des Meers und der Ströme und der Alpen und zaubert ein unaussprechlich anmutiges Bild auf allen meinen Wegen mir vor. Freilich schwindet es bald wieder, und ach! In welche dunkle hoffnungslose Nacht!«

 

Auf der Grimsel

»Ich stand heut, wo die Aar die dunkeln Wellen von gräßlicher Höhe hinabstürzt. Felsen und Tannen erbeben rings umher, die Achse der Erde schien unter mir sich dröhnend umzuwälzen. Wie der Eingang zur Hölle, so schwarz und fürchterlich gähnt der entsetzliche Schlund am Fuße des Felsen, der die in Schaum, in Staub aufgelöste tobende Wassermasse aufnimmt. Von noch höherer senkrechter Höhe stürzt sich der Erlebach der Aar nach, rasch wie die Verzweiflung hinab, hinab in den nämlichen Abgrund, den er, in Myriaden schimmernder Tropfen zertrümmert, zuletzt erreicht. Den Kampf der Fluten dort unten verhüllen Dampfwolken jedem sterblichen Auge, aber tausendstimmige Donner verkünden ihn laut den zitternden Felsen rings umher. Ergrimmt faßt der mächtige Strom endlich den überwundenen Bach und schleudert in rasender Wut die weißen Wogen wieder hinaus aus seiner Grotte, an die gegenüberstehende Felsenwand und höher hinauf den Wolken zu. Sie zerstäuben und sinken in ewigen Nebeldämpfen nieder, gepeitscht vom heulenden Sturm, der nie abläßt, hier zu wüten. Das laute ängstliche Geschrei meiner Führer, da ich, vielleicht ein wenig zu verwegen, auf den überhängenden Felsen hinkletterte, verhallte in diesem Aufruhr der Natur, gleich dem Zirpen einer Heuschrecke. Anbetend, wortlos, sank ich hin; ich, ein Atom, ein Nichts in diesen alle Sinne betäubenden Schrecknissen; und doch fühlte ich, selbst angesichts ihrer, Kraft und Mut im glühenden Herzen, um mich überselig, gleich jenem neideswerten Edelknaben, von dem des Dichters unsterbliches Lied uns singt, hinabzustürzen und, wie er, den gräßlichen Kampf auf Tod und Leben mit dem empörten Element dort in der Tiefe zu bestehen, würde nur auch mir der hohe Preis geboten, den zu erringen jener endlich unterging.«

 

Aus Konstanz am Bodensee

»Mir war diesen Morgen so still, so ruhig zumute; aller Jammer der Welt schien sich mir in sanfte Liebesklage auflösen zu wollen. Gewiß, teure Gabriele, auch Sie erlebten solche Stunden, wo jeder Schmerz eine Zeitlang verstummt, wo es wie Feiertag in uns wird und wir beschwichtiget und still in immer lieberes Träumen versinken. So lag auch ich heute früh in eine Ecke meines Wagens gedrückt, rollte viele Stunden weit über Berg und Tal, ich weiß selbst nicht wie lange, aber ich mochte mich nicht regen; es war, als ob flüsternde Engelstimmchen mir leise zusängen: ›Bleibe still, sieh dich nicht um, öffne die Augen nicht; draußen steht der Schmerz, darum bleibe in dir selbst verhüllt.‹

Endlich hielt der Wagen. ›Mag er immerhin halten‹, dachte ich und strebte in meiner süßen Abgeschiedenheit von der Außenwelt zu verharren, aber die überlauten bewundernden Ausrufungen meines Kammerdieners rissen mich wider Willen auf. Ich blickte um mich her und fand mich zu meinem Erstaunen nur in den allergewöhnlichsten Umgebungen, mitten auf dem Marktplatze eines kleinen schwäbischen Landstädtchens. Verdrüßlich sprang ich zum Wagen heraus, ging einige Schritte vorwärts und glaubte nun von neuem zu träumen, denn eine Zauberwelt, wie durch Feengunst mir aufgeschlossen, lag blühend und duftend im Morgenrote vor meinen geblendeten Augen. Die ganze unabsehbare Reihe der hohen Schweizer-Gebirge bis zu den Tiroler-Alpen hinauf stand in schimmernder Ferne vor mir, gleich himmelstürmenden Riesengebilden, in einen weiten feierlichen Halbkreis geordnet. Ihr Diadem aus ewigem Eise strahlte hell im Sonnenglanz zu mir herüber, während der Morgenschein noch die niedrigen Felsengipfel rötete. An den Seiten der Berge, wo sie den menschlichen Wohnungen sich zuneigen, glaubte ich sogar die grünen Alpenmatten zu entdecken, so nahe schienen mir mit einem Male die Wunder jenes Landes entgegengerückt, dem Ihr Wollen mich zusendet. In Andacht und Bewunderung verloren, ward mir, als wandle ich in einem heiligen Tempel. Gabriele, ich war recht fromm in dieser Stunde, ich dachte Sie und mich und meine stille trübe Zukunft. Die Brust ward mir weit in hoher Zuversicht auf Den, dessen mächtige Hand diese Berge pflanzte und hält. Ich fühlte Mut und Kraft in mir sich neu beleben und war in dem Momente gerüstet, jeder Bestimmung meines Lebens hoffend und vertrauensvoll entgegenzutreten, sei sie auch düstere Verborgenheit und ewiges Schweigen.

O Gabriele, warum konnte diese Stimmung meines Gemüts nicht dauernd bleiben? Warum mußte sie verschwinden wie der Tau der Wiese vor der höher steigenden Sonne? Ach! Nichts ist dauernd und treu als der Schmerz und die Sehnsucht, das fühle ich mehr und mehr mit jedem Tage!

Ich war allmählich in ein offenstehendes duftendes Blütengärtchen seitwärts, dicht neben der Stadt, hineingeraten, ich wußte selbst nicht wie. Von hier aus übersah ich ganz das tiefe tiefe Tal, das zwischen mir und jenen glänzenden Titanengestalten noch eine weite Kluft bildete. Und welch ein Tal ist dies! Gleich einem herrlich glänzenden Kleinode schimmerte zwischen Wald, Obsthainen und Weinbergen der prächtige Bodensee zu mir herauf, überall blitzten im Sonnenschein Städtchen, Klöster, Dörfer, einzelne Wohnungen durch das üppigste Grün. Nie und nirgend sah ich so das Anmutigste neben dem Erhabnen in zauberhaftem Verein als hier in dem fast unbekannten Städtchen Heiligenberg.

Rechts dicht neben demselben thront ein ansehnliches weit in die Ferne hin leuchtendes Schloß, auf hohem, fast senkrecht aus der Tiefe aufsteigendem Felsen; es steht unbewohnt da, der Eigentümer desselben sucht die Freude in London oder Rom oder Paris, genug in der weiten Welt, wo sie so selten sich treffen läßt. O Gabriele, hier mit einem einzigen, geliebten Wesen zu wohnen, einsam wie die Götter, im Angesicht aller dieser Pracht! Mir schwindelt und die Sinne vergehen mir, wenn ich mir recht ausmale, wie das sein müßte. Und wenn ich mir denke, daß ein solches Leben möglich ist, daß es vielleicht schon einmal hier, an dieser nämlichen Stelle heimisch war! Nein, diese Last von Seligkeit wäre doch zu viel für ein sterbliches Dasein, nur in Verzweiflung würde es enden, denn was kann der Himmel unserem beschränkten Geiste Höheres verheißen nach einem solchen Leben auf Erden? Was könnte über solches Scheiden trösten?

Unten am Ufer des Sees gestaltete sich alles zur höchsten idyllischen Anmut, was oben so herrlich, so prachtvoll mir erschienen war. In einem kleinen, von einem einzigen Fischerknaben geführten Nachen schiffte ich einsam über das Wasser hin und überließ meinen Leuten die lärmende Sorge für das Herüberbringen der Pferde und Wagen. Der See war spiegelglatt, nur hie und da tauchten einzelne Wellen auf, spielten ein paar Sekunden lang im Sonnenschein und verschwanden dann schnell wieder. Die Insel Mainau, das Ziel meiner Schiffahrt, schwamm bald in ihrem grünen Frühlingsschmuck ganz nahe vor mir auf der silberhellen Flut; das kleine Eiland liegt so still vertraut im leuchtenden See, und in immer lichterer Klarheit schwebte Gabrielens schönes Bild vor mir hin auf den Wogen! Ich glaubte in seliger Wehmut zu vergehen.

Plötzlich sang es hell und wunderfremd über mir in der Luft und halb flatternd, halb taumelnd sank ein Vögelchen mit müden, hängenden Flügeln zu meinen Füßen in den Kahn hin. Ich nahm das arme kleine Geschöpf auf, zu meiner Verwunderung war es ein Kanarienvogel, zahm und furchtlos wie Ihr kleiner Liebling, Gabriele, der mir so oft den guten Morgen entgegen sang. Damals! Ach damals – »Hat auch dich der Ausflug in die fremde Welt schon ermüdet und du sehnst dich zurück in die warme Heimat?‹ fragte ich ihn. Das arme Ding neigte das Köpfchen zur Seite und blickte so klug aus den schwarzen Korallenäugelein mich an, als verstände es mich. Wir haben ein langes Gespräch miteinander geführt; Ihr Edelknabe, teure Gabriele, war wieder einmal recht kindisch, aber ich weiß, Sie schelten ihn deshalb nicht.

Wir landeten an der Insel und ich wendete mich, den kleinen Reisegefährten auf der Hand, den nahen schattenden Bäumen zu; da regte er sich, zwitscherte und flog plötzlich auf und davon. Ich blickte besorgt ihm nach und sah jetzt alle Zweige von unzähligen Vögeln seiner Art belebt; sie hatten ihre Nester dort erbaut und waren völlig wie daheim; leider zerstörte ungebeten ein vorübergehendes Mädchen die schöne Illusion des Augenblicks, die mich in andere Zonen versetzte. Sie erzählte mir: die Vögel würden winters in einem nahen Hause verpflegt, zur Sommerzeit aber ließe man sie frei auf der Insel herumfliegen, da ihre schwachen Flügel es doch nicht vermöchten, sie über den breiten See der Insel fortzutragen. Ich blickte nach dieser Erläuterung mit wahrer Betrübnis die armen kleinen Fremdlinge an, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt sich zu Gebote wähnen. Ach Gabriele, ist es denn mit uns anders? Auch uns halten unsichtbare Bande und wehe uns, wenn wir den kühnen Flug über sie hinaus wagen wollen. Mit gelähmtem Fittich sinken auch wir dann nur zu bald dem lauernden Abgrunde zu, wenn nicht ein seltnes Wunder beizeiten uns rettet, wie jenen armen Vogel, den ein glücklicher Zufall über meinen Nachen wegführte.

Ich wandelte immer weiter und vermied sorgsam die menschlichen Wohnungen dieses kleinen Eilandes. Die hellen Mauern des Schlosses, einer ehemaligen Komturei des Malteserordens, schimmerten durch die Bäume; ich wandte mich ab. Lange war es mir nicht so wohl ums Herz gewesen! An der meinem Landungsplatze entgegengesetzten Seite der Insel warf ich mich ins hohe Ufergras. Niedern Wellen gleich schlug es über mich zusammen, ich sah nicht Himmel, nicht Erde, nur grüne dichte Dämmerung um mich und leise schlich es über den Wellen zu meinem Ohr heran, wie fernes Hörnertönen. Ich lauschte ihm mit stillem Entzücken.

O Gabriele, da ward dies Tönen immer lauter und lauter. Und Lachen und helles Jauchzen und kurzes, abgerissenes Singen scholl dazwischen. Ich sahe auf. Eine ganze Flotte von Kähnen zeigte sich dicht neben meinem Ruheplätzchen, fast schon im Begriffe, zu landen. Es war ein hochzeitlicher Zug, gewiß, gewiß, ich erkannte den Nachen, der die Braut trug, an den Blumenkränzen, die ihn schmückten, an den bunten fliegenden Wimpeln. Ich sah sie selbst, Arm in Arm mit dem Geliebten.

Da erwachte der Schmerz und riß mich fort wie die Furie den Orest. Ich floh gemartert, verwildert vor den freudigen Tönen. In furchtsamer Hast, als folge das Verderben mir auf den Fersen nach, suchte ich nach einem Auswege, um dem Anblicke der Glücklichen zu entkommen; ich fand ihn, in einer Entfernung von wenigen Schritten, wo ein sehr langer schwankender Steg mich über den dort schmäleren See zum festen Lande führte. Dort folgte ich dem ersten Wege, der sich mir bot. Nur fort! Nur fort! Weiter dachte ich nichts, aber kalte Tränen der Verzweiflung füllten mein Auge. So gelangte ich nach Konstanz, ohne es zu wollen oder zu wissen.

Gabriele, Sie behaupteten einst, daß der Schmerz edlere Naturen noch mehr veredelt und erhebt, sie noch milder und gütiger macht, und wer, der Sie und Ihr Geschick kennt, möchte daran zweifeln! Warum denn, o warum mußte mich der Anblick jener Beglückten so schmerzlich verletzen? Warum jenen Ingrimm in mir erregen, den der gefangene Verbrecher fühlt, wenn er aus dem Gitterfenster seines kalten Kerkers auf die Glücklichen schaut, die in der warmen, blühenden Welt in Freiheit sich ergehen? Neid, Haß und alles diesem Verwandte waren meinem Herzen sonst so fremd! O Gabriele, soll ich auch noch mich verlieren, da ich alles verloren habe, was mich beglückte? Ich flehe, lassen Sie mich nicht in mir selbst untergehen; Sie retteten mich von einem furchtbaren Abgrund, lassen Sie mich jetzt nicht wieder sinken, wahrlich nur die Gewißheit, daß Sie Ihre Hand nicht ganz von mir abziehen, daß Sie mich noch Ihrer Sorge wert achten, kann mich noch oben erhalten.

Düster und einsam sitze ich jetzt in dieser düstern öden Stadt. Ich bin noch einmal an den See hinausgegangen, ich blickte hinüber zu jenen jetzt in Nebel verhüllten Bergen, die diesen Morgen mir im Sonnenstrahl so freudig entgegenglänzten. Jetzt konnte ich sie nur als die Scheidewand betrachten, die sich, von morgen an, zwischen mir und dem glücklichen Lande erhebt, wo Gabriele atmet. Morgen ergreife ich den Wanderstab, die Schweiz zu durchziehen. Auf einem andern Wege soll mein Wagen mir folgen, ich gehe zu Fuß. Die Entfernung zwischen mir und Ihnen wächst von nun an mir fühlbarer, mit jedem Schritte, den ich tue. Ich könnte darüber verzweifeln, doch ich befolge auf das pünktlichste Ihren Willen; der Gedanke daran ist ja alles, was mir übrigblieb. Selbst in dem Schmerze, der mir die Seele zerreißt, finde ich eine wilde Freude, denn Sie waren es, Sie Gabriele! die ihn mir auferlegte.«

 

Aus Mailand

»Ein Strahl des Trostes ist mir hier geworden, wo ich ihn nimmer erwartet hätte. Ich bin nicht mehr so ganz verlassen, allein, denn ich höre Gabrielens geliebten Namen auch von andern Lippen als den meinigen.

Noch einmal, an dem zu meiner Abreise von hier bestimmten Tage, suchte ich das Dominikaner-Kloster neben der Kirche S. Maria delle Grazie auf; ich wollte von Leonardos Meisterwerk den letzten Abschied nehmen wie von einem Freunde; eigentlich war er mir der einzige, den ich hier hatte und der mit jedem Tage mir immer lieber ward. Ich fliehe in meiner jetzigen Stimmung jede nähere Bekanntschaft mit Menschen; das zwecklose anteilnehmende Umhertreiben in ihrer Mitte verletzt mich auf tausendfache Weise und ist mir entsetzlich. Aber im stillen Gebiete der freien Natur, im noch stilleren der Kunst, da finde ich Vertraute, und von der stummen Leinwand, von der verblichenen, durch Kerzendampf geschwärzten Wand, blickt es oft tröstend mich an. Dann dünkt es mich, als umwehe mich mit lindem Fittich der stille Geist in seinem Heiligtume, der einst hier schaffend waltete und darüber eine Welt voll Unruhe und Entbehrung gern vergaß, als hauche er mir Ergebung und höheres Hoffen in die wild bewegte Brust. Ach! Und wie oft sehe ich mit Entzücken auch von der Leinwand einzelne Züge des Bildes mir entgegenstrahlen, was in unerreichbaren Farben ewig vor meinem innern Sinne schwebt!

Diesmal fand ich das Refektorium der guten Mönche nicht unbesucht wie ich es gehofft und gewünscht; ein junger Mensch saß vor dem wundervollen Bilde des heiligen Abendmahls, emsig bemüht, seiner Mappe den Kontur desselben einzuverleiben. Nun ist mir aber nichts verhaßter, als wenn ich dem ängstlichen, nüchternen Streben zusehen muß, das, was mich erhebt, begeistert, entzückt, schwarz auf weiß nach Hause zu tragen, damit man es sicher bei der Hand habe und es sich haushälterisch auftrocknen und aufbewahren könne zu künftigem beliebigen Gebrauch. Mag meine, jede Anstrengung hassende Ungeduld, die Sie so oft an mir tadelten, schuld daran sein und mich ungerecht machen, ich muß es doch bekennen, mich ärgert es immer, wenn die Herren und Damen, denen ich auf Reisen begegne, vor den hohen Wundern der Natur, wo sie anbeten oder doch wenigstens genießen sollten, sich mit einem Blättchen Papier und einem Stückchen Kreide zurecht setzen, um schülerhaft zu kritzeln, was sie in jedem Bilderladen tausendmal besser kaufen können, als ihre arme Kunst es hervorzubringen vermag. Auch begreife ich nie, wie der vom echten Geiste belebte Schüler der Kunst dadurch zum Künstler gebildet werden soll, daß er die Linien, welche die längst in Staub versunkene Hand des hohen Meisters einst zog, mühsam nachzuzirkeln sich abmüht. Mir dünkt, es wäre ihm geratener, wenn er das Ganze im Geist aufzufassen strebte, dann demütig und doch freudig nach Hause ginge und im Gefühl der Schöpferkraft, die dem reich begabten Menschen von der Gottheit gegeben ward, selbst versuchte, jenen hohen Vorbildern sich zu nahen, ohne knechtisch sie nachzuahmen.

Voll von diesem Gefühl und dazu halb ärgerlich, hier nicht, wie ich es gehofft hatte, allein zu sein, näherte ich mich dem Zeichnenden und sah ziemlich verächtlich, ich will es nur gestehen, ihm über die Schulter auf seine Zeichnung. Eigentlich war ich nicht übel geneigt, meinem Verdrusse beim mindesten Anlasse dazu Luft zu machen, als ich ihn deutsch reden hörte mit seinem neben ihm stehenden Begleiter, einem ältlichen Manne von edler einnehmender Gestalt, den ich jetzt erst bemerkte.

›Seid doch froh‹, sprach dieser zu dem jungen Künstler, der sich wohl über den leider wirklich sehr traurigen Zustand des Gemäldes beklagt haben mochte, ›seid doch froh, daß die Zeichnung und die Anordnung des Ganzen uns erhalten ward; haltet euch an den Geist des Schöpfers, der ja noch immer hier in seinem edelsten Werke waltet, wenngleich das Körperliche desselben fast nicht minder dahin geschwunden ist, als die Hand, die es schuf. O wie fällt alle Farbenpracht weg gegen dieses alte edle schmucklose Werk! Nie und nirgend außer Raffael hat einer diese Einfalt des Herzens mit der hohen apostolischen Würde so zu einen gewußt!‹ setzte er halblaut hinzu, in tiefe Betrachtung des Gemäldes verloren. Nach einer kleinen Pause redete er weiter, nicht vor sich, nicht zu uns, gleichsam nur laut denkend, wie man wohl auch laut liest, was uns entzückt, wenngleich niemand uns zuhört. Er sprach von der glücklichen Wahl des dargestellten Augenblicks der Handlung, durch welche die Einförmigkeit der Anordnung von dreizehn Personen hinter einer langen Tafel glücklich und schicklich vermieden ward. Mild, mit ruhigem Ernst spricht der Herr das bedeutende schwere Wort: ›Einer von denen, so mit mir sind, wird mich verraten!‹ Er sieht vor sich nieder, um keinen seiner Jünger mit dem Blicke zufällig zu bezeichnen, aber alle fahren, wie von einem Wetterstrahl getroffen, bei diesem Ausspruch ihres Meisters in die Höhe, alle werden in Handlung gesetzt, einige der von ihm am entferntesten Sitzenden suchen sich ihm zu nähern und bilden so die mannichfaltigsten Gruppen. Gesicht, Stellung, Gebärde bezeugen die Reinheit und Unschuld eines jeden unter ihnen, doch, nur mit sich beschäftigt, bemerkt keiner den wilden, trüben Blick des schreckhaft zurückfahrenden Judas. Nur dem dicht hinter diesem sitzenden Apostel scheint ein vorahnender Gedanke wie ein Blitz durch die Seele zu fahren.

Je länger der Fremde so sprach, je mehr fühlte ich von ihm mich angezogen. Ich wagte es endlich, ihm einiges zu erwidern, und so gelang es mir, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Von einem Apostel zum andern übergehend, gab er mir in wenigen treffenden Worten eine kurze Charakteristik eines jeden derselben. Nie zuvor habe ich jemanden über ein Kunstwerk und über die Kunst selbst so klar, so bedeutsam, und, bei so tiefer Kenntnis, so anspruchslos reden gehört. Immer lebendiger stieg in mir eine freudige wenngleich dunkle Ahnung auf, er kam mir so bekannt vor, mir war, als sei in ihm ein alter lang entbehrter Freund mir begegnet, von dem ich nichts vergessen hatte als den Namen. Nennt ihn Ihr Herz Ihnen nicht, Gabriele? Der immerfort emsig Zeichnende nannte ihn endlich, obgleich er deutsch mit ihm sprach: ›Signor Ernesto‹.

Mit einem lauten Freudenschrei hätte ich mich gern in seine Arme gedrängt, als ich mit diesem Namen ihn nennen hörte, doch bei aller Freundlichkeit liegt in seinem klugen dunkelblauen Auge, in einem scharfen Zuge seines Mundes, besonders wenn er halblächelnd spricht, etwas, das gebietet, in seiner Gegenwart sich zu bemeistern. Und so nahm ich mich denn zusammen, zog mein Taschenbuch hervor und überreichte ihm die Karte, mit welcher Ihre Güte mich für den Fall eines Zusammentreffens mit ihm ausrüstete. O Gabriele! Wie hängt alles ewig an Ihnen, was einmal Sie erkannte! Hätten Sie den freudigen Strahl gesehen, der über das Gesicht des strengen ernsten Mannes sich verbreitete, während er die wenigen, von Ihrer Hand an ihn gerichteten Zeilen las! Es war, als ob ein heller Abglanz Ihrer eignen Anmut von der kleinen Karte ausginge und die scharf gezogenen Züge des würdigen, von Silberlocken umgebenen Antlitzes verklärte.

Als sei auch ihm ein längst vermißter Liebling seines Herzens unverhofft wiedergekehrt, so freudig begrüßte Ernesto mich nun. Er ergriff meinen Arm, beurlaubte sich leichthin von dem Zeichnenden, mit dem er, wie ich jetzt sah, in keiner genauem Verbindung stand und begleitete mich in meinen Gasthof, wo sogleich die Pferde wieder abgesagt und alle Anstalten zum längern Verweilen in Mailand getroffen wurden.

Mir traten die Tränen ins Auge, als er mit mir allein auf meinem Zimmer, sich nun recht teilnehmend nach Plan und Zweck meiner jetzigen Reise zu erkundigen begann; freilich nicht eher, als bis er mich über Sie, Ihr Leben, Ihre nähern Verhältnisse, Ihre Gesundheit, Ihr Aussehen recht inquisitorisch abgehört hatte. So väterlich wie er hat noch keiner zu mir gesprochen; stets war ich elternlos, von meiner ersten Jugend an, wenngleich nicht verwaiset durch den Tod. In diesem Augenblick fühlte ich recht lebendig, welch ein Glück ich so lange entbehrte, ohne je es gekannt zu haben. Mein Herz schloß sich auf im wahrhaft kindlichen Vertrauen zu dem weiseren, wohlmeinenden Freunde. Sie werden es verzeihen, Gabriele, Sie müssen es verzeihen, wenn, indem ich von Ihnen sprach, Auge und Ton ihm vielleicht mehr als meine Worte gestanden. Wie wäre es möglich gewesen, diesen hellen Blick zu täuschen, der mir fühlbar bis in das tiefste Herz drang! Seit langen Monden zum ersten Mal hörte ich Ihren Namen, und wie? O Gabriele! Wie ward er ausgesprochen! Jedes Wort Ernestos war der Nachhall meines eignen Gefühls.

Noch hatte ich keine Stunde mit ihm verlebt, als ich schon vor der Möglichkeit zu zittern begann, daß er, den ich nie wieder zu lassen sehnlichst wünschte, vielleicht auf der Rückreise wäre, nach Deutschland, zu Ihnen – Gabriele, zu Ihnen! Doch meine Furcht war vergebens, das zeigte sich bald. Ein bedeutendes Geschäft, das er für einen Freund hier abzumachen versprach, hatte ihn nach Mailand geführt; es war jetzt vollendet und er im Begriffe nach Florenz zu gehen, wo er den größten Teil des Sommers zu verleben gedachte.

Nun habe ich mir ihn gewonnen. Ich habe mich fest an ihn geklammert und er stößt mich nicht zurück, denn Gabrielens Name ist der Talisman, der ihn mir verbindet.

Langsam will er mit mir noch einmal Italien durchziehen, vielleicht wandern wir bis Syrakus, ehe er mir Rom zeigt. Wahrscheinlich komme ich erst im folgenden Jahre dorthin, gegen die Zeit der großen kirchlichen Feste, welche die Ostertage herbeiführen.

So habe ich denn wieder eine Bestimmung, der ich entgegengehe. Ernesto leitet mich wie er will, er nimmt meiner sich an, weil ich von Ihnen gesendet ihm erscheine. Er hängt an Ihnen mit Jünglingsfeuer und somit auch an allem, was nur auf die entfernteste Weise Ihnen angehört. Wie besorgt ist er um Ihr Wohl! So wie die seine, denke ich mir die Liebe eines Schutzgeistes. Er ist ein seltner Mensch, aber trüge er auch keine Spur seines hohen, ungewöhnlichen Wertes, so müßte ich dennoch seinen Schritten folgen, denn ich kann mit ihm von Gabrielen sprechen und fürchte weder Hohn noch Mißverstehen.«

 

Aus Florenz

»Nun weiß ich, wie es dem Schweizer ist, den, fern vom geliebten Vaterlande, ein Ton aus seinen heimatlichen Bergen traf und alle Qualen des Heimwehs über ihn rief! Ich stand an Ernestos Seite im Garten des Palastes Boboli, oben auf der höchsten Terrasse. Die Sonne ging unter; als wäre der Ätna umgestürzt und schütte alle seine Gluten aus, so flammte es in Westen und zwischen diesem Abendgolde und dem Ätherblau prangte der Horizont im herrlichsten durchsichtigen Grün, wie ich noch nie es sah. Die fernen Apenninen glühten dunkelviolett zu uns herüber, zu unsern Füßen glänzte die Stadt, das Schloß, der Garten und das ganze reiche herrliche Tal, welches der Arno durchströmt, alles wie verklärt im Lichte der brennenden Himmelspracht. Nur einen solchen Abend hier an Ihrer Seite! Ich konnte den Wunsch dem Freunde nicht verhehlen, er teilte ihn mit mir, und ein liebes beruhigendes Gespräch, das nach Schloß Aarheim uns versetzte, hatte sich zwischen uns beiden entsponnen, als plötzlich der Ton Ihrer Stimme, Ihrer Stimme, Gabriele, mein Ohr traf. Was ich rief, was ich tat, weiß ich nicht, nur daß Ernesto mich beim Arm ergriff und sehr ernst mich zur Ruhe ermahnte. Dies brachte mich wieder in leidliche, äußere Fassung, obgleich ich seine Worte nur halb verstand.

Eine Gesellschaft Herren und Damen, lustwandelnd wie wir, näherte sich uns vom Pavillon her unter lautem Lachen und Gespräch, und immer tönte noch der Klang der süßen Stimme in ihrer Mitte. Ich zitterte und als ich aufmerksamer hinblickte, glaubte ich zu vergehen. Sie waren es, Sie selbst, Gabriele, Sie traten hervor, Sie eilten auf uns zu. ›Signor Ernesto!‹ riefen Sie in so bekanntem Ton! Und doch waren Sie es nicht. Nein! Wo hatte ich meine Augen gehabt? Sobald man die Gestalt genauer betrachtete, war, außer dem Ton der Sprache, kein Zug von Ähnlichkeit zwischen Ihnen und der blendendschönen Frau, die jetzt dicht vor mir stand. Diese dunkle Lockenpracht, dies weitgeöffnete hohe blaue Auge voller Blitze, wie verschieden von der lichten Strahlenglorie, die Gabrielens schönes Haupt umwallt, von dem sanften Mondlicht der frommen braunen Augen, die, gleich lieben freundlichen Sternen, süßberuhigend uns leuchten? Und dennoch hatte diese, Ihnen so ganz entfremdete Erscheinung auch etwas in ihren Bewegungen, dem ich unverwendeten Blicks zusehen mußte, weil es eben wie der Ton ihrer Stimme mir Gabrielen vor die Sinne zauberte. Es zog mich an und stieß mich zurück, entzückte und betrübte mich, hundertmal in wenigen Minuten.

Nachdem die Dame ziemlich lange mit Ernesto geplaudert und ich weiß nicht, welche Vernachlässigungen ihm mit scherzhaftem Tone vorgeworfen hatte, wandte sie den fragenden Blick mir zu und Ernesto konnte es nun nicht vermeiden, mich ihr vorzustellen. Er tat es mit einer Art von Verlegenheit, die ich bis jetzt noch nie an ihm bemerkt hatte und ich mir nicht zu erklären weiß. Nach italienischer Sitte nannte er sie mir nur Signora Aurelia und erst da wir wieder allein waren, erfuhr ich, daß sie die Tochter der Gräfin Rosenberg und Ihnen nahe verwandt sei. So war mir denn der Zauber der Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden durch dieses Familienband erklärt. Ihre Cousine ist im Begriffe, mit einer englischen Familie eine Reise nach Griechenland anzutreten, weil ihr in Italien das Klima nicht zusagt. Ihr Gemahl lebt in Rom. Haben Sie ihn jemals gesehen? Ernesto vermeidet, von ihm zu sprechen; es muß eine eigne Bewandtnis mit diesem Menschen haben.

 

Was Ernesto durch Gründe, Bitten, Zureden nicht erhalten konnte, hat Aurelia ohne ein Wort darüber zu verlieren bewirkt. Ich gehe wieder in die Welt, die ich ewig meiden wollte, besuche Soireen, Akademien, Konversaziones; denn nur da kann ich ungestört in irgendeinem Winkel sitzen, mich mit verschlossenen Augen der süßesten Täuschung hingeben, während Aurelia zu den andern spricht. Ihr selbst mich zu nahen vermeide ich, soviel ich es schicklicherweise kann, weil sie stets von Gabrielen mit mir sprechen will. Letzthin hat sie einen ganzen Abend hindurch mich über Sie ausgefragt. Ausgefragt, das ist das rechte Wort – für dieses neugierige, anteilnehmende Auskundschaften. Mir war dabei zumute, als spräche jene Eugenia, die einst mit ähnlichen Redensarten mich dem Abgrunde entgegentrieb, von welchem nur die Hand eines Engels mich retten konnte.

Und doch hat diese Aurelia eine gewisse, mir so liebe Art, den Kopf ein wenig vorzubeugen und dann seitwärts aufzublicken! Im Gespräch hebt sie oft die zarte wunderschöne Hand, derengleichen es nur noch einmal in der Welt gibt, und regt die rosigen Fingerchen so, daß ich nicht müde werden kann, ihr zuzusehen. Oft höre ich ihrer Stimme zu und strenge mich an, auf ihre Worte nicht zu merken, dann träume ich mir, ein böser Zauber habe Gabrielen in diese Gestalt gebannt und die Zeit desselben wäre nun um; ich blicke auf zu ihr und bei jeder Ihnen abgestohlenen Bewegung wähne ich, jetzt müsse die fremde Gestalt verschwinden und meine Sonne mir aufgehen.

 

Was man so in der Welt liebenswürdig nennt, ist diese Aurelia, sobald sie es sein will, in hohem Grade. Zu ihrer Ehre sei es gesagt, daß dieses oft der Fall ist, und doch gibt es Momente, in welchen sie mir sogar hassenswert vorkommt, weil sie nicht Gabriele ist und sich doch unterfängt, ihr ähnlich zu scheinen. Dann graust mir vor ihr, wie vor einem Leben heuchelnden Wachsbilde.

Aber ist es nicht wunderbar, daß Ernesto, außer der Stimme, welche er allenfalls noch zugibt, mir jede weitere Ähnlichkeit Aureliens mit Ihnen durchaus ableugnet? Er sucht sogar und oft ziemlich auffallend mich von ihr fernzuhalten, als fürchte er für mich in ihrer gefährlichen Nähe. Ahnet er denn gar nicht, daß es nur der Schatten von Gabrielens Schatten ist, was zu ihr mich zieht?«


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