Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Wer einer Feuersbrunst oder der Raubsucht plündernder Feinde alle seine Habe hingegeben sah, der nimmt, was unverhofft ihm gerettet ward, so dankbar auf, als wäre es ein Geschenk. In der ersten Freude über das schon verloren Geglaubte dünkt man sich anfangs mit dem zehnten Teil seines Eigentums beinahe reicher als vorher im Besitze des ganzen, und nur allmählich gewöhnt man sich wieder, ein jedes gehörig zu würdigen.

Gleich einem solchen, dem Feuer oder den Feinden entrissenen Kleinode, betrachteten Gabrieles Freundinnen diesen ihren ersten Brief seit ihrer Vermählung. Mit innerem Zagen und mit widerstrebender Hand hatte Frau von Willnangen ihn entsiegelt; sie fürchtete in herzzerschneidenden Klagen ihres Lieblings die traurige Bestätigung aller der trüben Ahnungen lesen zu müssen, welche Gabrielens Geschick ihr in den dunkelsten Farben vorspiegelten. Was sie von ihr las, übertraf daher so ganz ihre Erwartung, daß wenig daran fehlte, sie hätte sich dadurch verleiten lassen, sie glücklich zu preisen. Freilich schwand dieser erste Freudentaumel früh genug, aber der tröstende Eindruck konnte dennoch nicht gänzlich verlöschen. Allen den lieben Sorgen, allen den mannichfaltigen Beschäftigungen, welche Augustens Ausstattung und Vermählung notwendig machten, unterzog sich Frau von Willnangen von nun an mit weit leichterem Herzen, und auch die junge Braut gab an Adelberts Seite sich dem Glücke unbefangener hin als zuvor. Gabrielens trauernde Gestalt war in manchen Momenten oft wie ein stiller Vorwurf zwischen Augusten und die Freude getreten. Die Überzeugung, daß die geliebte Freundin weit weniger beklagenswert sei, als sie es sich gedacht hatte, schien ihr jetzt erst die rechte Erlaubnis zu geben, es sich selbst zu gestehen, wie glücklich sie sich fühle.

Der General Lichtenfels und Adelbert teilten freudig die Hoffnungen, welchen Frau von Willnangen und ihre Tochter sich so unbedingt überließen, nur Ernesto ward sichtbar trübe und verstimmt nach Lesung des Briefes, der alle andern beruhigt hatte. Verstummend gab er ihn in die Hände der Frau von Willnangen zurück und antwortete nur mit einem halberstickten Seufzer und abgewandtem Blicke ihren, um Bestätigung des eignen frohen Gefühls bittenden Augen.

Nicht Gabrielens gegenwärtige Lage beängstigte so den treuen Beschützer ihrer Jugend. Er kannte die Elastizität ihres Gemüts, dessen Kraft zum Guten durch Übung, auch der schwersten Tugend, nur erhöht, nicht gemindert werden konnte und baute fest darauf. Aber seit er Gabrielens Brief gelesen hatte, vermochte er es nicht ein banges Vorgefühl künftigen Unheils von sich abzuschütteln. Er zitterte vor dem Gedanken, sie einst, vielleicht bald die tiefe Einsamkeit verlassen zu sehen, in welcher ihr jetzt alle ihre Tage in steter Dämmerung, von lieben Erinnerungen umgaukelt, hinschwanden. Denn Ruhe, ungestörte einförmige Ruhe, dieses trübe Surrogat des Glücks, war, seiner Überzeugung nach, alles, was die Freunde der armen Gabriele dieser von nun an noch wünschen konnten, damit nichts sie völlig aus dem schönen Traume erwecken möge, den sie, wie er fürchtete, schon halb erwacht, sich noch fortzuträumen bemühte.

 

Es hatte wirklich den Anschein, als ob Ernestos fromme Wünsche für Gabrielens Ruhe auf das pünktlichste in Erfüllung gehen sollten, denn sie lebte lange Zeit am schönen Ufer des Rheins, in abgeschiedener, beinahe klösterlicher Einsamkeit. Nie sah man sie außerhalb des Bezirks der zu ihrem Schlosse gehörenden Gartenanlagen, als in Herrn von Aarheims Gesellschaft, höchstens mochte sie es zuweilen an schönen Abenden wagen, allein oder nur von Annetten begleitet, in ihrer Gondel auf den goldig grünen Wellen des Stroms hinzugleiten. Argwohn und Eifersucht hatten ihren Gemahl gelehrt, sie von allen Seiten so schlau einzuengen, daß es gar keines ausdrücklichen Verbots von ihm bedurfte, um Gabrielen jede Verbindung mit der Außenwelt unmöglich zu machen. Daß man in seinem Schlosse nach englischer Sitte die Tageszeiten einteilte, die Frühstücksstunde auf den Mittag, die Mittagsstunde auf den Abend verlegte, damit war schon ein großer Schritt zur Absonderung von der ganzen Nachbarschaft geschehen, der größte aber dadurch, daß Moritz bei seiner Ankunft unterließ, mit seiner jungen Gemahlin die gewohnten Besuche zu machen, um sie vorzustellen.

Nichts wird strenger und sichrer geahndet, als eine solche absichtliche Verletzung der allgemein hergebrachten Sitte, besonders in kleinen Städten oder in einem nachbarlichen Kreise auf dem Lande. Man erklärt sich dadurch selbst in die Acht, und alle die, mit denen nicht sein zu wollen wir bezeigen, halten sich durch unser Verfahren berechtigt, wider uns zu sein.

Die arme Gabriele würde dieses schwer empfunden haben, hätte ihre natürliche Anspruchslosigkeit sie nicht verhindert, zu bemerken, wie man bei allen Gelegenheiten sogar ihre Existenz zu ignorieren beflissen war. Auch das allerunbedeutendste Geschöpf kann nicht so total übersehen werden, als sie es wurde, sooft ein seltner Zufall sie in die Nähe derer brachte, welche Herr von Aarheim ohne ihr Zutun beleidigt hatte. Dieser fühlte das zu seiner großen Kränkung sehr deutlich und strebte durch tausend kleine Künste es Gabrielen zu verbergen; aber er hätte diese Mühe füglich sparen können, denn Gabriele schien in ihrer Lebensweise nicht die mindeste Abweichung vom allgemein Üblichen zu finden. Briefe, welche sie von den Freunden ihrer Jugend empfing oder an sie schrieb, waren in ihrem gleichförmig-stillen Leben die einzige Auszeichnung eines Tages vor dem andern, und eine unbestimmte süße Sehnsucht bemächtigte sich ihrer allmählich in dieser ungestörten Einsamkeit. Oft saß sie stundenlang allein, das blühende Lockenköpfchen auf die weiße Hand gestützt, in dämmernden Träumen verloren. Hell und einzeln perlten Tränen unter den langen seidnen Augenwimpern hervor und fielen langsam herab, wie wenn der West eine tropfenschwere Rose wiegt. Ein namenloses süßes Weh durchzuckte schmerzlich und freudig ihr volles Herz, dann nannte sie leise Ottokars Namen und blickte verwundert, gleichsam sie zählend, auf die Tränen, die ihrem Auge entquollen, sie wußte nicht warum. Zum Glück wurden Frau von Willnangen und Ernesto durch den Ton, der in Gabrielens Briefen vorzuherrschen begann, auf die jetzige Stimmung ihres Lieblings sehr bald aufmerksam gemacht, und ihre warnende Stimme kam nicht zu spät, um die Träumerin zu erwecken.

Gabriele riß sich mit gewohnter Kraft plötzlich empor. Die Gefahr bei diesem süßen Verlieren in sich selbst entging von nun an ihrem klaren Blicke nicht, noch weniger die Notwendigkeit, in nützlicher Tätigkeit Schutz gegen jede Lähmung des Geistes zu suchen, deren leises Heranschleichen sie jetzt deutlich erkannte. Ein würdiger Gegenstand dieser Tätigkeit zeigte sich ihr, sowie sie nur Gewalt genug über sich gewann, den Blick auf das ihr Zunächstliegende zu wenden.

Seit Moritz so einsam auf dem Lande lebte, hatte er sich mit seiner gewohnten Oberflächlichkeit auf die praktische Ökonomie geworfen. Und sie bot seiner Vorliebe für neue Erfindungen ein unübersehbares Feld. Täglich ward etwas Neues unternommen, sein unruhiges, in sich selbst sich zersplitterndes Wesen erlaubte ihm aber nicht, irgend etwas vollenden zu lassen. Was gestern erbaut ward, mußte heute wieder eingerissen werden; Menschen und Tiere wurden stündlich von den notwendigsten Feldarbeiten abgerufen, um zur Frönung irgendeiner momentanen Laune ihres Gebieters ihre Kräfte herzuleihen. Die alten treuen Arbeiter, welche an dem Boden, den ihre Urgroßväter schon im Schweiße ihres Angesichts gebaut hatten, sich eine Art von Anrecht erworben zu haben glaubten, sträubten sich vergebens gegen dieses Verfahren; vergebens verteidigten sie ihre alte Art das Land zu bauen mit dem, dem Landmann eignen Widerwillen gegen alle Neuerungen. Die Starrsinnigen wurden des Dienstes entlassen und Fügsamere traten an ihre Stelle. Pflüge und Pflüger, Hirten und Herden, Pflanzen und Gärtner wurden mit unendlichen Kosten aus dem Auslande verschrieben, aus England, aus der Schweiz, aus Spanien sogar. Die Umgegend füllte sich mit fremdartigen Gestalten, Abenteuerer aller Art drängten sich herbei, welche Herrn von Aarheim mit den niedrigsten Schmeicheleien zu gewinnen wußten, und die ganze Nachbarschaft sah in stiller Schadenfreude zu, wie er, der sich das Ansehen gab, klüger sein zu wollen als alle, auf das gröbste hintergangen ward.

Alle diese Mißbräuche konnten Gabrielen nicht entgehen, sobald sie mit Ernst um sich blickte, und indem sie solche gewahrte, mußte sie zugleich die Verpflichtung fühlen, die gutmütige Schwäche ihres Gemahls nicht länger als untätige Zuschauerin mißbrauchen und verspotten zu lassen. Das Beispiel ihrer Mutter schwebte ihr vor, die mit sanfter Hand und klugem Auge der Verwaltung der Güter von Schloß Aarheim vorgestanden hatte, und das Gefühl, wie unendlich viel zur Erreichung dieses Vorbildes ihr noch mangle, durfte Augustens Tochter nicht abschrecken, ihm wenigstens von ferne nachzustreben. Zum Glück fand Gabrielens Unerfahrenheit bald einen verständigen und treuen Beistand in einem alten Wirtschaftsbeamten, dem einzigen aus der vorigen Zeit, der unter einem wüsten Haufen aus allen Teilen Europens zusammengelaufnen Gesindels noch dastand. Eine Art von Scheu vor seiner durch lange Dienstjahre bewährten Treue hatte Herrn von Aarheim abgehalten, ihn gleich den übrigen alten Dienern zu entlassen.

Die Gärten waren der erste Gegenstand, welchen Gabriele unter ihre besondere Obhut nahm. Dies schöne Gebiet gehört ohnehin, wenigstens zur Hälfte, in das Reich der Frauen, und Herr von Aarheim trug freudig seiner Gemahlin alle vom Gartenbau handelnden Bücher aus seiner Bibliothek selbst herbei, sobald sie nur den Wunsch äußerte, sich mit der Oberaufsicht desselben zu beschäftigen. Der Gedanke, daß Gabriele beginne, an seinen Verbesserungsplanen teilzunehmen, entzückte ihn um so mehr, da seiner Meinung nach gerade der Teil derselben, welchen sie erwählte, sie immer mehr von der Außenwelt trennen und in die Nähe des Schlosses bannen mußte.

Sie begann ihr neues Geschäft mit dem größten Eifer zu treiben. Die Tische in ihrem Zimmer waren bald mit Plänen zu Gartengebäuden, Anlagen und Treibhäusern aller Art bedeckt, sie kamen nach und nach unter ihren, durch vieles Zeichnen geübten Augen ins Dasein, und der große Garten ward unter ihrer Leitung sehr bald ein Paradies voll Duft und Blumen und Früchten. Herr von Aarheim, im Entzücken über das Gedeihen der exotischen Pflanzen, welche er mit großen Kosten aus fremden Ländern hatte kommen lassen, übersah es gern, daß Gabriele deshalb auch die einheimischen nicht verbannte und Weinstöcken und Obstbäumen nicht minder die ihnen zukommende Pflege angedeihen ließ, als dem Pisang oder der Ananas.

So verging das erste Jahr ihrer Ehe. Übung vermehrte Gabrielens Kraft und Moritz bemerkte mit Erstaunen die ernste Tätigkeit seiner jungen Gemahlin. Die Gewandtheit, die Sicherheit, die Ruhe, mit der sie alles vollbrachte, was sie unternahm, erregte seine Bewunderung, während ihr ganzes Betragen ihm eine Achtung einflößte, vor der das ängstliche Mißtrauen, mit welchem er sie bisher bewacht hatte, es wenigstens nicht wagte, sich zu zeigen. Seine innere Unruhe, die ihn von jeher rastlos in der Welt nach Neuigkeiten herumjagte, erwachte, sowie er in Hinsicht auf Gabrielen ruhiger zu werden begann, und unwiderstehlicher als je fühlte er in sich den Wunsch, ihr nachgeben zu dürfen. Des ökonomischen Steckenpferdes sowie der ländlichen Einsamkeit war er eigentlich längst überdrüssig geworden; nichts konnte ihm daher Erwünschteres kommen, als daß Gabriele späterhin ihre Neigung erklärte, sich nicht allein der Gärten, sondern auch der ganzen Verwaltung des Gutes anzunehmen. Er fand die Bereitwilligkeit zu bequem, mit der sie ihn so mancher, ihm jetzt höchst lästigen Sorge überhob, als daß er sie sich nicht recht gern hätte gefallen lassen sollen, um so mehr, da er sich dabei das Ansehen geben konnte, als erzöge er sich in seiner Gemahlin eine Schülerin seiner außerordentlichen ökonomischen Kenntnisse. Vielleicht war er auch eitel genug, sich dieses selbst einzubilden, während Gabriele, nach dem Rate ihres redlichen Inspektors allmählich alle schädlichen Neuerungen abstellte, welche Herr von Aarheim eingeführt hatte, und nur die bessern beibehielt, ohne daß dieser irgendeine Veränderung bemerkt hätte. Immer sorgloser, faßte er endlich gar den Mut, Gabrielen erst auf Tage, sodann auf Wochen sich selbst zu überlassen und zuletzt sie zur unumschränkten Regentin seines Gutes und seines Hauswesens zu machen, während er in den naheliegenden Städten umherzog oder sich auf kleinen mineralogischen Reisen in das Gebirge vertiefte.

Bald unter dem Vorwande des Heimwehs, bald ganz ohne Abschied in der Stille, verschwanden nun auch nach und nach die fremden Abenteurer, welche Herr von Aarheim früher um sich her versammelt hatte; eigentlich wohl, weil keiner von ihnen unter der Oberaufsicht des alten Inspektors mehr seine Rechnung fand. Die alten, von ihnen vertriebenen deutschen Gesichter erschienen wieder, doch Herr von Aarheim nahm von allen diesem keine Notiz. Wenn er zuweilen eine Säemaschine oder einen neuerfundenen Pflug in Aktivität erblickte, war er vollkommen zufrieden, gab sich das Ansehen, als sei er überzeugt, daß alles noch nach seiner Vorschrift betrieben werde und vermied jede Aufklärung oder Rechenschaft, welche Gabriele ihm zu geben stets bereit war. Sein ewig wechselnder Sinn hatte ihn eigentlich dem Himmel zugeführt, indem er ihn der Erde abwendete, und es war nicht sowohl Vertrauen in Gabrielens Kenntnisse als Überdruß und Ekel an seiner ehemaligen Lieblingsbeschäftigung, was zu diesem Benehmen ihn bewog. Quadranten, Globen, Ferngläser aller Art gaben jetzt seinen Zimmern das Ansehen eines Observatoriums, aus welchem Fellenberg, Thaer und Arthur Young völlig verbannt wurden, denn Astronomie war für den Augenblick sein Lieblingsstudium geworden. Diese neue Leidenschaft begann endlich, ihn so mächtig zu beherrschen, daß er, der früher die Reise nach Italien aufgegeben hatte, um Gabrielen nicht zu verlassen, sich jetzt mitten im Kriege nach England schlich, einzig um in Slough auf Herschels hohem Sessel in den Lüften zu schweben, mit einem Fernglase in dessen kolossalen Tubus zu gucken und dessen neuerfundenen Kometenjäger zu bewundern.

So waren drei Jahre verstrichen, und Gabriele hatte in steter Einsamkeit, fern von den Freunden ihrer Jugend, ihr zwanzigstes Jahr vollendet, doch war sie durch einen ununterbrochenen Briefwechsel mit Ernesto, Augusten, Frau von Willnangen, sogar mit der guten alten Frau Dalling die rege Teilnehmerin an allen ihren Leiden und Freuden geblieben. Ja, dieser Briefwechsel war es eigentlich, welcher noch Abwechslung und Bewegung in den Lauf ihres Lebens zu bringen vermochte, denn ihre eigene Existenz glitt so einförmig an ihr vorüber, daß das Schwinden der Tage ihr nur durch den Wechsel der Jahreszeiten bemerkbar werden konnte. Die Zeit, welche sie bei ihrer Tante verlebt hatte, die Tage voll Schmerz und Lust im Hause der Frau von Willnangen, ja selbst Ottokars Bild schwebten nur noch in dämmerndem Scheine vor ihrer Seele, wie die Tage der Kindheit vor dem innern Auge des lebensmüden Greises schweben, der liebend noch an ihnen hängt, obgleich er es nicht mehr vermag, sie noch deutlich aus der weiten Ferne zu erkennen. Im ruhigen Bewußtsein erfüllter Pflicht, aufrecht erhalten durch rege Tätigkeit, konnte Gabriele nicht in dumpfe Apathie versinken. Der Anblick der Natur, das Gelingen ihres Strebens ließ sie nicht unergötzt, aber kein frohes, glückliches Empfinden rötete je ihre Wangen höher, strahlte in ihrem Blick oder beschleunigte das ruhige Pulsieren ihres Herzens zu rascheren Schlägen. Sie war ruhig, so ruhig, daß sie fast keinen Wunsch mehr kannte, und dieses Gefühl teilte sie in ihren Briefen ihren Freunden mit. Ernesto selbst mußte endlich aufhören, für ihre Zukunft besorgt zu sein.

Solange Gabrielens Gemahl in England verweilte, setzte sie die eingezogene Lebensweise fort. Gewohnheit hatte sie ihr täglich werter gemacht, und bei Moritzens Heimkehr überraschten diesen überall Beweise ihres unermüdeten, stillen, wohlgeordneten Wirkens. Was er noch von seiner ehemaligen Eifersüchtelei beibehalten haben mochte, verschwand wie Eis an der Sonne vor dem ruhigen Blick und der über das ganze Wesen der schönen Frau ergossenen Würde, mit der sie freundlich, doch nicht heuchelnd ihm entgegentrat und ihn willkommen hieß. Die englische Manie hatte er ohnehin in England verloren, er kehrte heim, fest entschlossen, einen neuen Lebensplan zu ergreifen; nur schwankte er noch in der Wahl desselben, als bei Gabrielens Anblick ihn ein freudiger Übermut ergriff. Er fühlte plötzlich eine Art von Sehnsucht, vor aller Welt mit dem Glück glänzen zu können, dessen eigentlichen Wert zu würdigen er doch weit entfernt war. Sein alter Hang, von einem Extrem zum andern zu eilen, ward mächtiger in ihm als je zuvor, und er, der noch vor kurzem sogar den Sonnenstrahlen den Anblick seiner Gemahlin gern verwehrt hätte, begann jetzt sehr ernstlich darauf zu denken, wie er sie bereden könne, den kommenden Winter in Paris, mitten im Strudel der großen Welt mit ihm zu verleben.

Alle seine Gespräche gingen von nun an einzig darauf hinaus, ihren Widerwillen gegen eine solche Veränderung ihres Wohnorts zu bekämpfen, und je inniger sie an ihrer Einsamkeit zu hängen schien, je eifriger bezeigte er sich, sie ihr zu entreißen und sie den Täuschendsten Vergnügungen wieder zuzuführen.

Inzwischen wurde Herr von Aarheim in England nicht nur der englischen Lebensweise untreu, sondern auch seiner neuern Leidenschaft der Sternkunde. Der Landwirtschaft mochte er sich nicht wieder zuwenden, und so schwebte er wirklich vakant wie nach einem alten Glauben die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder zwischen Himmel und Erde, in tödlicher Langerweile, welche das ewige Disputieren mit Gabrielen über ihren künftigen Winteraufenthalt doch nicht ganz zu bannen vermochte. Ein Zufall brachte ihn endlich auf den Gedanken, die Sorge für Requisitionen, Einquartierungen und andere Kriegsübel, welche mit jedem Tage in der Gegend sich häuften, in eigner Person zu übernehmen und darin einen Zeitvertreib zu suchen.

Wie durch ein Wunderwerk lag bis jetzt sein Schloß, gleich einer glücklichen Insel, mitten in einem stürmischen Meer. Gabriele, welche die Grenzen der nächsten Umgebungen ihrer Wohnung selten zu überschreiten pflegte, hatte noch nie einen der Feinde erblickt, die ringsum, wenngleich nicht den Krieg selbst, doch manches Unheil und manche der Unruhen herbeiführten, welche diesen zu begleiten pflegen. Sie verdankte diese Schonung den wohlgetroffenen Maßregeln ihres Wirtschaftsinspektors, der als Elsässer der französischen Sprache kundig genug war, um jede Verhandlung übernehmen zu können, welche das Ausheben der Konskribierten, der Durchmarsch der Armeen und ähnliche Kriegslasten notwendig machten. Er hatte überdem ein sehr artiges Jagdhaus zum Empfange der Einquartierungen einrichten lassen, es lag nahe am Schlosse, doch außer dem Gesichtkreis desselben. Dort nahm er einstweilen selbst seine Wohnung und wußte bald durch freundliches Zuvorkommen, bald durch ernstes, gefaßtes Betragen jeden Unfug abzuwenden, welchen der Übermut der ungeladenen Gäste hätte stiften können.

Herr von Aarheim, seiner alten Weise getreu, alles besser wissen zu wollen, war weit davon entfernt zu begreifen, wie nützlich diese Einrichtung ihm bis jetzt gewesen sei. Unter dem Vorwande, daß die Gegenwart des Inspektors anderswo nötiger wäre, vertrieb er diesen aus dem Jagdschlosse, schlug dann selbst seine Wohnung darin auf und schuf sich ein eigenes System zur Erleichterung der Kriegslasten, sowohl für die Armee als den Landeigentümer. Dieses mochte seltsam genug ausgefallen sein, wenigstens war niemand mit den neuen Einrichtungen zufrieden, deren Ausführung Herr von Aarheim persönlich übernahm, und Unmut und Streit traten an die Stelle des ehemaligen gegenseitig guten Vernehmens. Endlich kam es sogar so weit, daß Gabriele durch ihr plötzliches Dazwischentreten ihren Gemahl einst von Mißhandlungen retten mußte, die er anfangs durch Knickerei und Übermut, dann durch feiges, ängstliches Betragen sich selbst zugezogen hatte. Ihre unerwartete glänzende Erscheinung machte zwar aller Fehde gleich ein Ende, und Moritz war herzlich froh, seine Persönlichkeit unverletzt gerettet zu sehen, aber ihn überlief dabei doch wieder ein kleiner eifersüchtelnder Schauer. Um den neugestifteten Frieden dauerhaft zu gründen, sah Gabriele sich genötigt, die fremden Offiziere jetzt in das Schloß selbst einzuladen. Sie folgten ihr mit allen Zeichen der höchsten Verehrung, kamen mit aller Galanterie ihrer Nation jedem Winke der schönen Frau zuvor, leisteten anscheinend jeder ihrer Äußerungen den pünktlichsten Gehorsam, fanden es aber auch zugleich höchst nötig, das Schloß des Herrn von Aarheim zum Mittelpunkt zu machen, von wo aus sie ihre Geschäfte in der Umgegend dirigierten und alle ihre Anstalten deuteten auf einen recht langen Aufenthalt in demselben.

Moritz war zu feig, um gegen diese Einrichtung etwas einzuwenden, aber ihm war dennoch gar nicht wohl dabei zumute. Vor allem quälte seine arme schwache Seele sich mit der Furcht, daß Gabriele bei dieser Gelegenheit sich leicht eine Herrschaft über ihren Gemahl anmaßen könne, welche in ruhigem Zeiten ihr wieder zu entreißen ihm schwer werden möchte. Unfähig, länger diese Besorgnisse zu tragen, kam er endlich auf den Gedanken, ihr, die er jetzt nicht mehr nach Paris zu führen verlangte, einen Besuch bei der Frau von Willnangen vorzuschlagen. Eine freudige Aufwallung färbte zum erstenmal seit langer Zeit Gabrielens Wangen und ihre Augen leuchteten vor Entzücken, als sie diesen Vorschlag vernahm. Dankbar ergriff sie ihn; mit der gewohnten ruhigen Einsamkeit hatte der Aufenthalt am Rhein ohnehin seinen höchsten Reiz für sie verloren; die Anstalten zur Reise wurden daher so schnell als möglich getroffen, das Gut der Barmherzigkeit des Himmels und der Aufsicht des treuen Inspektors empfohlen, und kurze Zeit darauf feierte Gabriele im Arme ihrer Freundinnen eine höchst selige Stunde des Wiedersehens.

 

Nicht in der Stadt, in welcher Frau von Willnangen früher lebte und wo Ottokars Bild Gabrielen auf jedem Schritt entgegen getreten wäre, wurde dieses Wiedersehen gefeiert. Die Gestaltung der Zeit, welche Gabrielen von den schönen Ufern des Rheins verbannte, hatte auch ihre Freundin bewogen, sich mit ihren Kindern auf das Gut des Generals Lichtenfels zurückzuziehen; Ernesto hatte den dringenden Bitten, seine Freunde zu begleiten, nicht widerstehen können. So lebten alle auf dem schönen Schlosse im fröhlichsten Verein, doch nicht wie sonst in rauschenden Festen.

Mit freudestrahlendem Blicke, wenngleich noch ein wenig bleich, hielt Auguste von dem Sofa, auf welchem sie ruhte, eine kleine, wenige Tage alte Gabriele der Freundin auf ihrem Arme entgegen. Neben ihr lag ein fünfzehn Monate älterer rosenwangiger Adelbert und jauchzte laut im lustigen Spiel mit dem Vater. Ein einziger Blick auf die häuslich frohe Gruppe verkündete Gabrielen das stille Glück dieser Menschen. Und als nun Auguste, nach dem ersten freudigen Verstummen des Wiedersehens, mit froher Redseligkeit die Ähnlichkeit der kleinen Gabriele mit der großen zu beweisen suchte, als Adelbert seinen Knaben tanzen, lachen und einzelne Töne stammeln ließ, um Gabrielen alle erstaunenswürdigen Künste desselben gleich in der ersten Stunde zu zeigen, da perlte eine helle Träne Gabrielen im Auge und ein leiser Seufzer hob langsam ihren Busen, an welchen sie Augusten fester drückte.

Mitleidig betrachtete Frau von Willnangen ihre Gabriele in diesem Moment, doch bald erglühte sie fast zornig bei Moritzens Eintritt, der gleich nach der ersten Begrüßung die Kleidung der Kinder zu untersuchen und zu tadeln begann, dann eine lange Rede über die neuesten Arten derselben hielt, welcher niemand zuhören mochte. Zuletzt verlangte er alle in das Schloß gehörenden Hunde zu sehen, um einen heraus zu finden, der Genie genug besäße zu lernen, wie er vermittelst eines Rades die Wiege des Neugeborenen in Bewegung setzen könne. »Er ist noch wie sonst!« seufzte Ernesto leise vor sich hin und hütete sich schonend, Gabrielens Blicken zu begegnen.

Keine Silbe über ihr gegenwärtiges Verhältnis, vielweniger eine Klage entschlüpfte beim längern Beisammensein Gabrielens Lippen, selbst im vertrautesten Gespräch mit ihren Freunden. Nur überflog zuweilen ein dunkleres Rot ihre Wangen, wenn Herrn von Aarheims Eigenheiten in zu grellem Lichte sich zeigten, und ihre Worte folgten dann schneller wie gewöhnlich aufeinander, in dem Bestreben, dem Gespräche, in welchem er zu unvorteilhaft erschien, eine andere Wendung zu geben. Selten mißlang ihr dieses, und ihre Freunde fühlten sich oft bewogen es zu bewundern, wie künstlich sie dann gerade die wenigen Gegenstände zur Sprache zu bringen wußte, über welche ihr Gemahl mit erträglicher Sachkenntnis sich zu äußern fähig war. Übrigens erschien sie ihnen in ihrem ganzen Betragen völlig unverändert, obgleich alle die Unmöglichkeit fühlten, zu fragen, was sie nicht von selbst gestand und was alle sich doch sehnten, zu erfahren. Nicht weil sie in geheimnisvolles Dunkel sich hüllte, verloren ihre Freunde den Mut dazu, sondern im Gegenteil, weil ihr ganzes Wesen so kristallhell vor ihnen stand, daß man keine Nachforschung wagen mochte, um es nicht zu trüben.

Endlich brach Gabriele selbst zuerst dieses Schweigen. Es war an einem jener dunkel-hellen warmen Herbstabende, wo alles zur wehmütigen Feier einer lieben Vergangenheit uns auffordert. Langsam, von keinem Lüftchen berührt, sinken die purpurfarbenen und goldenen Blätter einzeln von den Bäumen herab und ein seltsames Rauschen flüstert in den Wipfeln, während unten auf der Erde die tiefste Stille herrscht. Die Menschen rücken dann näher zusammen und haben einander lieber als sonst, denn alle fühlen ahnungsvoll die Gewißheit des vielleicht nahen Scheidens und der Vergänglichkeit aller Blüte und aller Pracht.

Gabriele, Frau von Willnangen, Auguste und Ernesto saßen in der Dämmerung allein unter den Säulen vor dem Hause. Der General und Adelbert hatten mit dem überlästigen Moritz schon am frühen Morgen zu einer Jagdpartie sich begeben, wie sie oft taten, um den Frauen ein ungestörtes Beisammensein zu gewähren. Vieles aus der Vergangenheit war unter den Daheimgebliebenen schon den Tag über leise zur Sprache gekommen und aller Gemüt weicher gestimmt. Da fragte Gabriele plötzlich wie an jenem verhängnisvollen Abende vor ihrer Vermählung: »Ernesto! Haben Sie keine Briefe aus Rom? Weiß Ottokar, welchen Gang das Geschick mit mir nahm?« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

»Er weiß es, er nimmt teil an Gabrielen, wie Gabriele an ihm. In wenigen Jahren, vielleicht noch früher, hofft er uns alle wiedersehen zu dürfen«, erwiderte Ernesto in einiger Bewegung über die unerwartete Frage. Doch fuhr er bald mit festerer Stimme fort, von Ottokars Lage zu sprechen und von dem Einflüsse des gegenwärtigen Ganges der Welt auf diese. Er erzählte, wie Ottokar fortwährend in Rom lebe; doch, für den Augenblick fern von allen öffentlichen Geschäften und Verbindungen; wie er seine Zeit einzig seiner Neigung zur Kunst widme und der fröhlichen Sorge für einen lieblichen Knaben, sein einziges Kind.

Die sichtbare Bewegung, in welche Gabriele bei dieser Nachricht geriet, bestimmte Frau von Willnangen, eine Frage nach Aurelien hinzuwerfen, um ihrer jungen Freundin Zeit zu geben, sich zu fassen. »Aurelia«, erwiderte Ernesto, »ist ihrem Gemahl als Mutter seines Sohnes viel werter geworden, ohne daß er deshalb größere Ansprüche an sie macht. Er erlaubt ihr gern, ihren Launen zu folgen, ihren Aufenthalt nach Belieben zu wählen, wenn sie nur zuweilen zu ihm zurückkehrt. Dieses tut sie und ist dann freundlich und angenehm, da sie bei Ottokar keinen Widerspruch antrifft. Im übrigen ist sie sich völlig gleich geblieben. Sie erklärt Rom für ein weites ödes Grab, in dem die Gespenster füglich bei hellem Tage herumwandeln könnten, und behauptet, die Lüneburger Heide sei in Anmut der römischen Campagna bei weitem vorzuziehen. Deshalb lebt sie bald in Neapel, bald in Florenz oder Venedig. Einen Sommer brachte sie in der Schweiz zu, einen Winter in Paris, wo die Gräfin Rosenberg nach einem kurzen Besuch in Deutschland, sich für immer niedergelassen zu haben scheint.«

Es ward noch vieles über Ottokars Leben in Rom gesprochen, von welchem Ernesto manche angenehme Einzelnheiten zu erzählen wußte. Im fernem Laufe des Gesprächs bemerkte Frau von Willnangen bedauernd, wie wenig Aurelia doch eigentlich beitrage, dieses Leben zu verschönern.

»Sie irren, teure Frau«, erwiderte schnell Gabriele, »oder vielmehr Sie vergessen, wie liebenswürdig Aurelia erscheinen kann, sobald sie es will, und bei Ottokar, diesem nachsichtigsten aller Menschen, muß sie immer es wollen. Gewiß bemerkt er ihre kleinen Schwächen nur, um durch sie ihr Freude zu bereiten und ist dann zwiefach glücklich in ihrem Ergötzen.« Alle hefteten bei diesen Worten aufmerksam und gerührt den Blick auf Gabrielen. Sie bemerkte es und fuhr mit glänzenden Augen weiter fort. »Ich danke Gott, daß keine neidische Regung je in meinem Gemüte Raum fand; auch danke ich Ihnen, Ernesto, daß Sie das freundliche Bild Ottokars mit seinem Knaben mir zum Tröste hinstellten an meinen einsamen Lebenspfad, dessen einziger Schmuck Mitgefühl ist und Erinnerung. Jetzt weiß ich, daß alles, was ich je liebte, glücklich ist, dort oben oder hier. Um mich her hat der Sturm ausgetobt, es ist und bleibt jetzt stille. Was kann ich mehr wollen? In meinem Gemüte regt sich kein Wunsch zu einem andern Glück, ich glaube sogar, daß ich keines andern fähig wäre, selbst nicht an Ottokars Seite. Darum bitte ich euch alle, meine Lieben! Seid in Zukunft ruhig um mich; ich wandle zwar einsam meinen Pfad, aber ich blicke von ihm in die hellerleuchteten Häuser meiner Freunde in Rom und hier und auch dort hinauf«, sprach sie mit einem zu dem eben aufgehenden Abendstern gehobenen Blicke. »Und so«, fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »und so fühle ich mich weder allein, noch betrübt und verlassen.« Ruhe des Himmels leuchtete bei diesen Worten aus Gabrielens Zügen und alle fühlten sich näher zu ihr hingezogen. Auguste schmiegte mit ihrem Knaben sich an sie, während Frau von Willnangen unter Tränen sie umarmte und Ernesto ihre Hand ergriff und liebend und bewundernd mit glänzenden Augen sie betrachtete.

Moritzens lärmende Ankunft scheuchte die Gruppe auseinander, seine Stirne umwölkte sich, sowie er sie erblickte, und noch am nämlichen Abend kündigte er den dritten Tag nach diesem als den zur Abreise unwiderruflich bestimmten an. Es war nicht Eifersucht, was zu diesem plötzlichen Entschluß ihn bewog, aber er vermochte es nicht, die bittere Empfindung niederzukämpfen, welche sich allemal seiner bemächtigte, wenn er Gabrielen im kleinen stillen Kreise ihrer Freunde erblickte, in Liebe sie umfassend und von ihnen umfangen. Ein dumpfes Bewußtsein, wie fremd und fern er selbst ihr bleiben müsse, obgleich es ihm vergönnt war, sie die Seine zu nennen, regte ihn stets zu einer Art Ingrimm gegen diese Freunde auf, und unerachtet der Gefälligkeit und Güte, mit der man ihm entgegenkam, ergriff er freudig die erste Veranlassung, ihnen mit Gabrielen zu entfliehen.

 

Am Morgen ihrer Abreise stand Ernesto vor dem Schlosse, unter den nämlichen Säulen, wo sie vor zwei Abenden noch alle im herzlichen Vereine versammelt waren. Sinnend blickte er dem Wagen nach, in welchem Moritz, triumphierend über Gabrielens Freunde, sie ihnen entführte, bis auch die letzte Staubwolke seinem Blick entschwand. Dann wandte er sich, schmerzlich aufseufzend, und gewahrte dicht neben sich Frau von Willnangen, die forschend ihn betrachtete.

»Sie sind betrübt«, sprach sie, »und ich bin es mit Ihnen, denn seit ich Gabrielens liebe Gestalt in diesen Räumen einmal erblickte, werde ich sie immer um so schmerzlicher vermissen. Da wir aber scheiden mußten, so gereicht es mir doch zum Troste, daß sie nicht mehr allein mit dem langweiligsten Narren der Welt in jenem alten Raubschloß am Rhein hausen wird. Sie geht, wenngleich nicht einer glücklichen, doch einer heiterern Existenz entgegen, wie ihre Jugend sie fordert. Sie scheinen meiner Meinung nicht zu sein, Ernesto? Sie der Geselligste, Lebensfrohste unter uns. Ich glaube fast, Sie fürchten den Eindruck, welchen die Vergnügungen der Residenz auf Gabrielen machen könnten, und ich gestehe es Ihnen, ich begreife weder Sie noch Ihre Sorgen. Was kann die große Welt einem so erprobten Gemüte, wie das von Gabrielen ist, anhaben? Ach! Leider wissen wir es ja, es gibt für sie weder Hoffnung noch Gefahr; der kurze Frühling meines armen Kindes ist dahin und wird nie wieder erwachen.«

Schweigend stand Ernesto eine Weile da, dann nahm er, nach seiner gewohnten Art, zu einem Gleichnis seine Zuflucht. »Hörten Sie nie«, sprach er zu seiner Freundin, »hörten Sie nie von jenem Baume, dessen beim ersten warmen Frühlingshauch erscheinende Blüten mit allen Wundern des frühen Lenzes sich befreunden? Mit Schneeglöckchen und Krokus, mit Himmelsschlüsseln und Veilchen und dann verschwinden, wenn die Sonne höher steigt? Der Sommer findet von ihnen keine Spur mehr, aber neue Blüten entstehen dann an der Stelle der verschwundenen, sie sind weniger glänzend, werden aber zu Früchten, zu süßen oder herben, je nachdem Sonne und Zeit dem Baum es gewähren, der so, nach dem gaukelnden Spiele seines Frühlings, die Bestimmung seines Daseins erreicht.«

»Das Bild nimmt sich recht artig aus«, erwiderte Frau von Willnangen, »aber entweder ist das Gleichnis unpassend oder ich verstehe es ebensowenig als Ihre jetzige Sorge. Sie selbst verwiesen mich ja tröstend auf Gabrielens Liebe zu Ottokar, Sie nannten sie den Schutzgeist, welcher durch die Wüsten und Steppen ihres Lebenspfades sie begleiten würde. Wie haben Sie denn nun plötzlich diesen Glauben verloren? Was fürchten Sie für Gabrielens Ruhe, selbst wenn Zeit und Entfernung ihr Gefühl für Ottokar gemildert hätten? Kann man denn zweimal lieben, wie Ihr Gleichnis es andeuten zu wollen scheint? Und wenn andere es könnten, kann es ein Wesen wie Gabriele?«

»Nein! Wahrlich nein!« rief Ernesto. »Ward Ottokar einst wahrhaft geliebt von Gabrielen, so liebt sie ihn bis zum letzten Hauch ihres Lebens und ist durch diese reine Liebe gesichert gegen Schmerz und Reue. Aber so sehr ich auch dagegen mich sträube, immer von neuem ergreift mich der Gedanke, den ich früher nur leise anzudeuten wagte, daß dies Gefühl für Ottokar nur des erwachenden geistigen Lebens erstes jugendliches Sich-Loswinden aus den Banden der Kindheit war. Was wir in früher Jugend die erste Liebe nennen, ist es selten oder nie. Ist doch auch die Morgenröte, in aller ihrer Pracht, noch nicht die Sonne, welche unsern ganzen Lebenstag erleuchten und erwärmen soll.«

Vergebens bestritt Frau von Willnangen diesen Gedanken Ernestos mit allen Gründen, welche ihr Herz und ihr Verstand ihr nur anzugeben vermochten. »Blicken Sie um sich«, erwiderte er ihr, »wie viele der zum Glück nicht zahlreichen Ehen, welche einer sogenannten ersten Liebe ihr Dasein verdankten, sind wahrhaft glücklich zu nennen? Könnte dies sein, wie es denn unleugbar ist, wenn nicht hier Täuschung, Mißverstehen seiner selbst, so leicht, ja fast unausweichbar wären? Lassen Sie es uns zum trüben Troste dienen, daß Gabriele vielleicht in Zukunft nicht glücklicher geworden wäre als sie jetzt es ist, wenn ein anscheinend günstigeres Geschick sie an Aureliens Platz gestellt hätte. Ich verkenne nicht Ottokars seltnen Wert, aber die Strahlenglorie mußte im Laufe des Lebens vor Gabrielens Blick dennoch schwinden, mit der sie selbst sein geliebtes Haupt sich zur Anbetung schmückte. Und wenn sie nun vollends vor dem mächtigern Glanz einer höhern, Gabrielen näher verwandten Erscheinung hätte erbleichen müssen? Und wenn nun diese Erscheinung ihr jetzt auf ihrem neuen Pfade begegnete? Ach! Frau von Willnangen, ich bin nicht Herr über die bange Vorempfindung, welche mich ergreift! Warum, warum mußte Gabriele ihrer sichern Einsamkeit entrissen werden?!«

 

Gabriele verlebte von nun an einige Jahre, getrennt von ihren Freunden, den Winter in einer großen lebensreichen Residenz, den Sommer in den besuchtesten Bädern. Sobald Moritzens verschrobener Sinn nur den Gedanken aufgefaßt hatte, daß alle Huldigungen, welche die Gesellschaft seiner Gemahlin darbringen mochte, auf ihn zurückfallen müßten, daß jeder ihrer Verehrer nur seinen Triumphzug verherrlichen könne, weil sie ihm allein angehöre, so hatte er weder Ruhe noch Rast, bis er Gabrielen auf eine Höhe gestellt hatte, von der sie seiner Überzeugung nach alles überstrahlen mußte. Überall, wo er länger sich aufhielt, war es seine erste Sorge, ein großes glänzendes Haus einzurichten. Gabriele mußte die Honneurs desselben machen, und Moritz tanzte vor Freude und rieb sich die Hände wund, wenn ihre Vorzüge recht blendend hervortraten. In allen Sprachen posaunte er das Lob seiner Frau, sogar in ihrem Beisein, ohne es zu achten, daß die peinlichste Verlegenheit sie in solchen Momenten fast zu Boden drückte. Alles Bitten und Ermahnen von ihrer Seite war an dem eitlen Toren verschwendet, er blieb bei seiner Weise mit all dem starren Eigensinn eines beschränkten Geistes, und Gabriele fand endlich keinen andern Ausweg, als dem Willen ihres Gemahls zu folgen und nur dabei durch noch einfachere Bescheidenheit und Anspruchlosigkeit den verhaßten Schein eitler Gefallsucht von sich abzuwenden. Es gelang ihr; sogar die Frauen haßten sie nicht, während alle Männer ihr huldigten und ihr Talent für die Welt bildete sich immer glänzender aus, je länger sie in dieser lebte. Von jener Blödigkeit, mit der sie im Hause der Tante erschien, konnte nicht mehr die Rede sein, noch weniger aber von jenem dreisten Blick, jenem arroganten Auftreten, die so oft die Stelle früher übertriebener Zurückgezogenheit ausfüllen. In kleinen gewählten Zirkeln wußte Gabriele durch ihr Gespräch mit der hinreißendsten Grazie die Aufmerksamkeit zu fesseln, doch besonders liebenswürdig war sie, wenn sie erzählte; dann lauschte ihr jedes Ohr und aller Blicke hingen an dem lebendigen Ausdrucke des schönen Gesichts. Aber sie wußte auch ihre glänzenderen Talente vor der Menge geltend zu machen, sobald es erforderlich war. Sie sang, spielte, tanzte, erschien sogar auf Privatbühnen, gewöhnlich weil Herr von Aarheim es wollte, zuweilen aber auch aus wahrer Lust an dem fröhlichen geselligen Treiben, das ihr die Tage ihres frühern Zusammenlebens mit Ottokarn zurückrief. Moritz genoß bei allen diesem mit dem allerbehaglichsten Gefühl die Gewißheit, der Gemahl der brillantesten Frau in der Residenz zu sein, während Gabriele dastand, als ahne sie nichts von der Höhe, zu welcher die allgemeine Bewunderung sie erhob. Auch wagte es niemand, sie unbescheiden darauf aufmerksam zu machen. Bei aller Frische des Jugendglanzes, der sie umstrahlte, gab die seltene Würde ihres Anstandes ihr etwas Matronenhaftes, und so, wie man in ihrem sechzehnten Jahr sie überall für noch weit jünger ansah, so schien jedermann jetzt in ihrem vierundzwanzigsten Jahre geneigt, sie für älter zu halten als sie war. Oder vielmehr, man dachte weder an Alter noch Jugend bei der, nicht weniger Achtung als Liebe einflößenden Erscheinung, für die es, wie für die himmlischen, keine Zeitrechnung zu geben schien.

 


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