Johanna Schopenhauer
Gabriele
Johanna Schopenhauer

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Alle alten Schmerzen regten sich indessen von neuem in Adelberts Brust; Haß, Liebe, Verachtung im furchtbarsten Kampf. Vergebens strebte er, das verführerische Bild der Marquise aus seiner Phantasie zu verbannen, vergebens rief er zu Augusten wie zu einer Heiligen; Herminia schwebte die ganze Nacht hindurch in all ihrer blendenden Schönheitspracht vor seinen aufgeregten Sinnen. So hatte er nie sie gesehen, nie geahnet, daß sie so über allen Ausdruck entzückend ihm erscheinen könne. Er bemühte sich, ihres Leichtsinns, ihrer Treulosigkeit, der unverantwortlichen Art, mit der sie ihn verstieß, zu gedenken; er glaubte, sie zu hassen, er wähnte, sie zu verachten, und doch sah er noch immer die lockende Gestalt, gelagert unter Rosen, von Liebesgöttern umschwärmt. Er gedachte der Möglichkeit, sie wiederzusehen und eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken. Sehnsucht zog ihn zu ihr, Erinnerung in einem blutig zerrißnen Herzen hielt ihn zurück. Dieser Zustand erreichte eine so peinliche Höhe, daß er endlich, um ihm zu entgehen, den Entschluß faßte, zu fliehen, ohne jeden andern Verlust weiter zu achten, der aus dieser Flucht im Laufe der Geschäfte, welche ihn hergeführt hatten, für ihn entstehen konnte.

Herzlich froh endlich der peinigenden Ungewißheit entgangen zu sein, beschloß er nur die schickliche Stunde abzuwarten, um Gabrielen Lebewohl zu sagen und dann zu eilen, um in Augustens Armen gegen sich selbst Schutz zu finden; doch graute ihm innerlich, mit diesem Entschluß in der Seele, allein und müßig zu bleiben. Er rief mit Tagesanbruch deshalb seinen Bedienten, gab ihm mehrere auf die nahe Abreise Bezug habende Aufträge, fing selbst an, Papiere zu ordnen und einzupacken, um nur in erzwungener Tätigkeit sein Gefühl nicht zur Sprache kommen zu lassen, als plötzlich, er begriff selbst nicht recht wie, eine der gestrigen Amorinnen, in Gestalt eines artigen kleinen Mädchens von etwa zehn Jahren, ihm ein rosenduftendes Zettelchen in die Hand schob, bei dessen Anblick ihm beinahe, wie gestern beim Anblick der Schreiberin desselben, die Sinne vergingen. Das Briefchen war nicht versiegelt, es war nur zusammengedreht, genau wie jene Zettelchen, die Herminia sonst ihm heimlich zuzustecken pflegte, als den Liebenden noch der ganze Tag, den sie im Hause ihrer Eltern miteinander verlebten, zu kurz war für alles, was sie sich zu sagen hatten. Gedankenlos öffnete er das duftende Papier, ohne bestimmt zu wissen, was er tat. Hier der Inhalt desselben.

»Ich will nicht Vergebung, ich will nicht Mitleid, ich will nicht einmal andeuten, daß ich zu beiden wohl berechtigt wäre. Ich verbanne mich auf ewig aus meinem Vaterlande, die nächste Stunde trifft mich nicht mehr hier. Der verhaßte Anblick der armen Herminia soll nicht mehr den Abscheu des Mannes erregen, der – genug ich reise. Doch einmal, einmal noch möchte ich zum Abschiede die Hand ergreifen, die einst bestimmt war, mich durch das Leben zu geleiten, einmal noch, ehe ich auf immer gehe! Ich weiß es, dieser Wunsch wird mir nicht gewährt werden, aber ich spreche ihn aus, ich fürchte nicht den Schmerz einer Verweigerung, denn ich fürchte keine Schmerzen mehr. Marion würde ungesehen, unbemerkt den Weg zu mir zu leiten wissen, ich wage es nicht, noch eine Silbe hinzuzufügen. Bitten klingt ja wie Hoffnung, Herminia hat seit gestern keine mehr.«

Unschlüssig starrte Adelbert die lange nicht erblickten, wohlbekannten Schriftzüge an, dann hob er mechanisch den Blick zur Türe, dort stand Marion mit einem schlauen echt französischen Kindergesichtchen. Sie machte einen kleinen Knix, schob die nur angelehnte Türe auf und trippelte, den Blick rückwärts ihm zugewendet, die Treppe des Seitengebäudes hinab, auf welcher sie zu Adelberts Zimmer gelangt war. Gedankenlos schritt Adelbert ihr nach, über den Hof; auf der Straße erwachte er zwar wieder und war im Begriffe umzukehren, aber er bildete sich ein, sich der Feigheit einer solchen Flucht vor der Gefahr schämen zu müssen, und dieses Gefühl trieb ihn vorwärts.

 

Hippolit hatte indessen die Stunde sehr ungeduldig erwartet, in welcher er Gabrielens Wohnung aufsuchen konnte, um bei Adelberten einen Krankenbesuch abzustatten und vernahm mit nicht weniger Unmut als Erstaunen, daß der, welchen er, von Ärzten umgeben, im Bette zu finden geglaubt hatte, schon am frühen Morgen ausgegangen sei. Niemand wußte, wohin? Hippolit hatte bei diesem Besuche auf irgendeinen günstigen Zufall gerechnet, der ihm bedeutender, als eine bloße zeremonielle Visite, bei Gabrielen Zutritt verschaffen sollte, und verweilte jetzt unschlüssig auf der Treppe, darüber nachsinnend, ob es geratener sei, schon jetzt sich bei ihr melden zu lassen oder später wiederzukehren, als Moritz, ihm begegnend, seinen Bedenklichkeiten ein Ende machte, indem er ihn erst auf das freundlichste begrüßte und dann sogleich an das Ziel seiner Wünsche führte. Mit unendlichem Bedauern verließ der Baron dort aus Mangel an Zeit Hippolit, nachdem er diesen für den Mittag eingeladen, denn noch am nämlichen Morgen hatte er der Auktion eines Naturalienkabinetts, einer Vorlesung über die Möglichkeit, den Luftballon zu regieren, und einer Opernprobe beizuwohnen.

 

Schöner noch als im festlichen Schmuck des gestrigen Abends trat Gabriele Hippoliten im zierlich einfachen Morgenkleide entgegen. Ihr helles Auge ruhte mit sichtbarem Wohlgefallen auf ihm, ihr schöner Mund lächelte ihn freundlich an, während sie mit ihrer süßen melodischen Stimme für die ihrem Gastfreunde geleistete Hülfe ihm nochmals dankte. Er, sonst so vorlaut, aller Frauen Gunst so sicher, stand dabei fast unbehülflich da und suchte vergeblich nach einer passenden Antwort, er fürchtete, Gabrielen etwas zu erwidern, weil er sie dann nicht mehr hören würde, und fühlte dabei doch mit innerer Angst das Lächerliche seines fortwährenden Schweigens. Endlich suchte er gewaltsam den Zauber zu zerreißen, der seine Zunge fesselte, er strebte wieder in den gewohnten Ton zu gelangen, mit dem er bis jetzt noch immer bei den Frauen Glück gemacht hatte, und ward zuletzt aus bloßer Verlegenheit zuerst vorlaut, und endlich beinahe unverschämt. Mit erzwungener Bedeutung brachte er ziemlich ungeschickt einige witzig sein sollende Anspielungen auf den Kranken an, der solcher Teilnahme sich erfreuen könne, sprach dann von der Verpflichtung aller Männer, einem so ausgezeichneten Günstling des Glücks zu dienen, wenngleich sie eben dieser Auszeichnung wegen ihn alle tödlich hassen mußten. Das Unziemende solcher verbrauchten Scherzreden Gabrielen gegenüber, fiel ihm selbst auf und vermehrte seine Verlegenheit; er wollte es mildern und geriet immer tiefer hinein, bis sie ihn endlich unterbrach, nachdem sie ihm lange genug, zuletzt recht mitleidig ernsthaft zugehört hatte.

»Ich könnte mich stellen, als verstünde ich Sie nicht«, sprach sie, »oder ich könnte Sie auch verstehen und dann mit gutem Fug und Recht mich erzürnen, und eigentlich sollte ich dieses auch wohl, aber Ihr ganzes Wesen, vor allem Ihre Jugend lassen mich hoffen, daß Sie mir eben eine Lektion hersagten, die Ihr Kopf in der Welt, in der Sie bis jetzt lebten, auswendig lernte, von der aber in Ihrem Herzen keine Silbe steht. Ich freue mich um so mehr der Aussicht, Sie oft und lange in unserm Kreise zu sehen, dem es vielleicht gelingen wird, Ihnen das Leben und auch die Frauen aus einem andern Gesichtspunkt zu zeigen.« Hier schwieg sie, gleichsam eine Antwort erwartend, doch Hippolit, hochrot vor Zorn und Scham, vermochte kein Wörtchen aufzubringen und suchte nur in seinem Äußern noch das sonst gewohnte dreiste Selbstbewußtsein auszudrücken. »Stehen Sie nicht so wie ein zürnender Heros vor mir«, setzte daher nach einer kleinen Pause Gabriele lächelnd hinzu, »nehmen Sie lieber meine Äußerungen, wenn sie Ihnen auch nicht ganz gefallen sollten, so auf, wie ich die Ihrigen, das heißt, mit Duldung.«

Gleich nach diesem suchte sie dem Gespräch eine leichtere, gleichgültigere Wendung zu geben, aber es mißlang ihr. Hippolit war zu sehr aus dem Gleichgewicht gekommen, um es sogleich wiederzufinden und ergriff deshalb den ersten schicklichen Augenblick, um seinen Besuch zu beenden.

Von Gabrielen entfernt fühlte er mit tiefer Beschämung, daß er wie ein ausgescholtener Schulbube vor ihr dagestanden, vor ihr, die ohne den geringsten Versuch, ihm seine vorgefaßte Meinung von dem Verhältnis zwischen ihr und Adelbert zu benehmen, dennoch, wie völlig gerechtfertigt, stolz und klar sich erhob und zugleich eine Art Herrschaft über ihn übte, zu welcher er sich nicht bewußt war, sie berechtigt zu haben.

Ärgerlich und mit dem festen Vorsatze, kalt und unbefangen aufzutreten, stellte er zur Zeit der Mittagstafel zum zweiten Male sich in Gabrielens Zimmer ein, aber er konnte sich die Mühe sparen, denn sie begrüßte ihn nur mit einer leichten Verbeugung und setzte dann sehr lebhaft ihr Gespräch mit einem Fremden fort, der eben aus Rom kam und Ottokar dort gesehen hatte. Moritz hingegen, der seit gestern eine ganz eigene Zärtlichkeit für Hippoliten gefaßt zu haben schien, bemächtigte sich sogleich seiner, um ihm eine Sammlung von Mißgeburten zu zeigen, welche er am nämlichen Morgen in der Auktion gekauft hatte. So ward im einzelnen Gespräch beinahe eine Stunde von der nur aus acht oder neun Personen bestehenden Gesellschaft hingebracht. Gabriele blickte oft auf die Uhr, man erwartete sichtbar noch jemanden. Blaß und verstört trat endlich Adelbert herein, beantwortete sehr in der Kürze alle Fragen nach seinem Befinden, schob einige unverständliche Entschuldigungen seines späten Erscheinens dazwischen und versicherte dann wieder, nur der Blumenduft, einzig der Blumenduft im Kabinett der Marquise habe ihm gestern den Zufall zugezogen, von dem er sich jetzt völlig hergestellt fühle.

Hippolit fand an der Tafel neben dem Herrn des Hauses seinen Platz, Gabrielen und Adelberten gegenüber. Letzterer blieb sichtbar verstimmt und Gabriele betrachtete ihn mit augenscheinlicher Besorgnis. Dann aber wendete sie sogleich alle ihre Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu. Jeden und jedes wußte sie an seinen Platz zu stellen, hatte allen einzeln etwas Angenehmes zu sagen oder zu erzeigen; und das auf so natürliche Weise, als müßte es so und nicht anders sein. Sie war die Seele der Unterhaltung ohne damit prunken zu wollen, im Gegenteil, es war, als ob der Abglanz ihrer Anmut sich auf die verbreitete, welche sie umgaben. Wer ihr nahte, gewann an Liebenswürdigkeit, an Geist, Witz, Verstand, denn sie wußte jeden lichten Funken hervorzulocken, und seit sie in der großen Welt lebte, war, außer Hippoliten, vielleicht noch nie jemand anders als höchst zufrieden mit sich selbst von ihr geschieden.

Adelbert versank inzwischen in immer trüberes Nachsinnen, aus welchem er, sichtbar sich zusammennehmend, auffuhr, wenn man ihn anredete. Moritz hingegen war seelenvergnügt und eine Albernheit jagte die andere aus seinem Munde. Vergebens strebte diesmal Gabriele, das Gespräch abzuändern, Hippolit sah, wie sie alle Kraft ihres Geistes anwendete, um die Schwäche des Mannes, dem sie angehörte, zu verdecken, und die Nachtseite des Geschicks der schönen anmutigen Frau trat plötzlich in all ihrem hoffnungslosen Dunkel vor seine Seele. ›So‹, dachte er, ›so muß das holde Wesen unablässig arbeiten, sich anstrengen, sich quälen lebenslänglich, und warum? Um der Welt zu verbergen, was sie leidet! Um fremden Augen das Unwürdige der Fesseln zu entziehen, die sie zu Boden drücken und welche nur der Tod lösen kann!‹

Von unsäglichem Mitleide hingerissen, bemühte er sich von nun an, ihr zu helfen, und gewandt wie er war, gelang es ihm wirklich, den Faden der Unterhaltung behend zu ergreifen, ein Gespräch aufzubringen, welches unter seiner Leitung interessant genug ward, um selbst Moritzen zum Zuhören zu bewegen. Gabrielens dankbare Zufriedenheit, die er in ihren Augen las, lohnte ihn überreich, besonders da Moritz ihn einlud, morgen und an jedem Tage, sooft es ihm bequem sei, wiederzukehren; eine Erlaubnis, welche er sich vornahm, recht oft zu benutzen.

 

Mehrere Tage vergingen, während denen Adelbert und Hippolit die Rollen getauscht zu haben schienen. Ersterer war nur selten und nie in Gabrielens Nähe zu finden, wenn er vermuten konnte mit ihr allein zu sein. Er verließ mit dem frühesten das Haus und kehrte nur selten und spät wieder heim, während Hippolit dort fast jede Stunde des Tages verlebte und die Marquise nie anders, als umringt von fremden Zeugen, im geselligen Kreise sah. Er hatte sein Verhältnis zu ihr nie bindend gefühlt und auch sie konnte, nach der stillschweigenden Übereinkunft der Welt, in der sie zu leben gewohnt war, sich hierüber keine Illusion machen. Jetzt war das Band, welches ihn ihr verknüpfte, nicht gelöst, es war zergangen vor Gabrielens Erscheinung, wie Sommerwölkchen vor der Sonne in nichts sich auflösen, und er achtete übrigens die Marquise zu wenig, um ferner nach ihr, noch den Verbindungen zu fragen, die sie jetzt zu schließen für gut finden mochte.

Nicht listig absichtlich, sondern vom ehrlichen Wunsche geleitet, Gabrielens Geschick zu erleichtern, hatte Hippolit sich in kurzer Zeit ihrem schwachen Gemahl so lieb und wert zu machen gewußt, daß dieser ihn ungern von der Seite ließ und ihn mit Einladungen bestürmte, sein Haus als das seinige anzusehen. Je länger er Gabrielen sah, je deutlicher ward es ihm, daß diese Frau von allen, die er bis jetzt gekannt hatte, sich himmelweit unterschied, und so konnte es ihm nie einfallen, auf gewöhnlichem Wege sie zu gewinnen. Auch dachte er nie daran, planlos lebte er in ihrer Nähe fort, strebte auf jede Weise, sich dort zu erhalten, und sann nie darüber nach, warum er ihr nach und nach seine liebsten Gewohnheiten und Neigungen opferte, warum sie mit mächtiger Allgewalt ihn zu beherrschen beginne; es war ihm, als müsse alles dies so und nicht anders sein.

Gabrielen konnte es indessen nicht entgehen, wie zart und schonend der übrigens in allem so rücksichtlos handelnde Jüngling es vermied, die Lächerlichkeiten eines Mannes zu bemerken, der alt genug war, um sein Vater sein zu können. Sie sah, wie oft er gegen die Spottlust der übrigen jungen Leute ihn in Schutz nahm und ihre holdeste Freundlichkeit lohnte ihm ein Betragen, welches sie für den untrüglichsten Beweis reiner Herzensgüte nahm. Der frühern jugendlichen Unbesonnenheit, mit welcher er in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft es gewagt hatte, sie zu beleidigen, wurde nicht mehr gedacht; oder wenn es geschah, so schämte Gabriele sich des Ernstes, mit dem sie eine kindische, nichts bedeutende Ungezogenheit gerügt hatte. So gewöhnte jeder Tag sie immer mehr an die Gegenwart Hippolits, den sie zuletzt oft im Scherz ihren Edelknaben nannte.

Adelbert hingegen verlebte diese Zeit in stetem Schwanken zwischen Himmel und Hölle, bald in der wollustatmenden Nähe der Marquise alles außer ihr vergessend, bald niedergeschmettert von Reue und Selbstverachtung, wenn ein sorgender Blick aus Gabrielens Augen wie ein Strahl aus der schuldlosen, seligen Heimat ihn traf. Herminia hatte, als er, von Marion geführt, ihr Zimmer betrat, mit unwiderstehlichem Zauber den ganzen vollen Freudenkranz ihrer beider Jugend neubelebt, in Himmelsfarben glühend ihm zu zeigen gewußt. Ohne die frühere Schuld, welche diesen Kranz zerriß, wegleugnen zu wollen, aber auch ohne Reue darüber in Worten auszudrücken, hatte sie vor dem Beleidigten sich nicht gebeugt. Aber, während sie vorgab, ihm Lebewohl auf ewig zu sagen, mußte er wähnen, in ein von Liebe, Reue, Schmerz zerrissenes Gemüt zu blicken, das in kalter Selbstverleugnung sich verloren gab, und nur bedacht schien, sich und seine Qualen ihm zu entziehen. Entschlossen, die Treubrüchige mit kalter wortarmer Vergebung verachtend niederzuschmettern, war er gekommen, nur wenige Minuten vergingen und er lag zu ihren Füßen, sie entschuldigend, gegen ihre eignen Anklagen sie in Schutz nehmend, die jetzt erst laut zu werden begannen. Diese ihre erste Zusammenkunft endete von seiner Seite mit dem feierlichen Versprechen, noch am nämlichen Abend wiederzukehren, um dann gefaßter, mit Bewußtsein den Augenblick ewiger Trennung zu feiern und so in Zukunft sein Bild liebend vergebend und mild in ihrer Erinnerung leben zu lassen.

Zur unglücklichsten Stunde hielt Adelbert sein Wort. Der vereinte Zauber früherer Unschuld und jetziger blendend strahlender Schönheit, in Reue, in Verzweiflung, in aller Glut der hingebendsten Liebe, riß ihn hin, er vergaß alles, auch die Augusten geschworene Treue. Ihr bescheidnes Bild trat weit zurück in den verborgensten Winkel seines Herzens, schmerzlich fühlte er es dort, ohne es sich selbst zu bekennen.

In bitterer Selbstverachtung gab er von nun an jede Hoffnung der möglichen Rückkehr zum Bessern auf. Er wollte nur Betäubung und fand sie; er sah und hörte nur Herminien, wie sie einzig in seiner Liebe leben und atmen zu können schwur, ihre Versicherungen, ihn nie ganz vergessen zu haben, ihr Geloben künftiger ewiger Treue, er glaubte alles und nichts. Im Wahnsinn äußern Sinnenrausches, gefoltert von innern Vorwürfen in jeder Minute helleren Selbstbewußtseins, mied er aufs geflissentlichste alles, was ihn zu diesem bringen konnte, vor allem Gabrielen.

Herminia hatte bei Adelberts Wiedersehen wirklich eine Regung jener Gefühle empfunden, die einst ihre Jugend beglückten. Sie sah ihn zum edlen stolzen Manne herangereift, sogar die Narbe über der Stirn, welche früher ihr so entsetzlich dünkte, weit davon entfernt, ihn zu entstellen, erhob jetzt sein Gesicht zu dem eines Helden. Seine Erschütterung bei ihrem Anblick verriet ihr die Gewalt, welche sie noch immer über ihn üben konnte und Gabrielens unverhohlene Teilnahme an seinem anscheinend plötzlichen Übelbefinden ließen sie sogleich in dieser eine wahrscheinlich beglückte Nebenbuhlerin ahnen. Gabrielens von allen gefeierter Name erregte schon ihre Eifersucht, ehe sie selbst sie noch sah, jetzt, da Hippolit ihr um jener willen untreu zu werden drohte, ward sie ihr ganz unerträglich. Sechs in den gefährlichsten Umgebungen verlebte Jahre hatten Herminien sehr tief herabgezogen; Wechsel und Intrige waren in dieser Zeit ihrem leidenschaftlichen Wesen zum Bedürfnis geworden, und unbekannt mit jeder bessern Regung, beurteilte sie alle und somit auch Gabrielen nach sich. Sie glaubte sogar, sich nicht besser an dieser rächen zu können, als indem sie Adelberten von ihr abzuwenden und wieder in die alten Fesseln zu ziehen suchte. Zugleich hoffte sie dadurch Hippolits Eifersucht rege zu machen und so auch ihn wiederzugewinnen, den sie, ohne ihn zu lieben, dennoch nicht freigeben wollte, besonders nicht an Gabrielen. Alles dieses vereint bestimmte sie zuerst zu jener mühevollen Vorstellung, mit der sie Adelberten umgarnte, aber es ging ihr bald mit dieser Rolle, wie jeder guten Schauspielerin mit der ihrigen, sie gewann sie lieb, so daß sie selbst nicht mehr Täuschung und Wahrheit voneinander zu unterscheiden wußte und das Spiel immer weiter trieb, zuletzt hauptsächlich nur um des Spieles willen.

Nicht mit jener quälenden Empfindung, welche Herminia in ihr erregen wollte, aber doch schmerzlich besorgt, sah Gabriele Adelberten sich täglich ihr mehr entfremden. Sie sah die Angst, die ihn in ihrer Nähe ergriff, sie bemerkte, wie geflissentlich er jedes Gespräch mit ihr vermied, ohne erraten zu können, wodurch sie sein Zutrauen verscherzt habe. Auch zeigte er sich ihr durchaus nicht feindselig, aber ihr Beisein übte über ihn eine sichtlich vernichtende Gewalt. Das Geschäft, welches ihn in die Residenz geführt hatte, vernachlässigte er durchaus und brachte dennoch fast alle seine Zeit außer dem Hause zu. Sie begriff nicht, wo? Und womit? Bei der Marquise traf sie ihn selten, denn sie besuchte diese nur, wenn sich dort Gesellschaft versammelte, und dann pflegte Adelbert gewöhnlich zu fehlen. Tausend Vermutungen drängten sich Gabrielen entgegen, doch keine brachte sie der Wahrheit nahe; ihr Gefühl widerstrebte jedem heimlichen Nachforschen, aber dieses unerklärliche Betragen des Gemahls ihrer Auguste lastete recht schwer auf ihrem Gemüte.

Zwischen der Marquise und der Gräfin Rosenberg war indessen seit Gabrielens Ankunft eine Spannung entstanden, welche, und vielleicht bald, in einen förmlichen Riß auszuarten drohte. Herminie haßte Gabrielen zu sehr, um diesen Haß nicht auch der Gräfin sichtbar werden zu lassen, besonders seit es mit jedem Tage ihr entschiedener wurde, daß Hippolit um jener willen ihr unwiederbringlich verloren sei. Die Gräfin hingegen nahm Gabrielen stets in Schutz; sie hatte sie auf ihre Art lieb gewonnen, sie wußte sich nicht wenig damit, daß eine so glänzende Erscheinung aus ihrem Hause ausgegangen, unter ihren Augen gebildet sei. Nichts konnte ihr ein beifälligeres Lächeln ablocken, als wenn man Züge von Ähnlichkeit zwischen der Tante und der Nichte entdeckt haben wollte; auch konnte sie Gabrielen nicht entbehren, ihre stete Gegenwart machte die geselligen Abende der Gräfin zu den gesuchtesten und glänzendsten der Stadt, unerachtet schwache Nerven jetzt sehr oft das Nichterscheinen der Marquise entschuldigen mußten; zum Teil, weil diese die Abendstunden lieber mit Adelberten allein zubrachte, mehr aber noch, weil sie das Rivalisieren mit Gabrielen scheute. Außer sich wäre sie gewesen, wenn sie gewußt hätte, wie wenig die Gesellschaft im Salon der Gräfin ihre Gegenwart vermißte. Ihr erstes blendendes Auftreten war zwar nicht vergessen, aber man gedachte dessen nur als eines angenehmen und zugleich fremden Schauspiels, welches sich indessen seiner Art nach doch nicht ganz mit deutschem Sinn und deutscher Sitte vereinen ließ, während Gabrielens sich stets gleichbleibende anspruchslose Liebenswürdigkeit auf Geist, Sinn und Herz immerwährend wohltuend wirkte.

 

Unerachtet der tausend Schwachheiten, zu welchen ungemessene Eigenliebe und Lust zu glänzen die Gräfin Rosenberg verführen mochten, hielt dennoch niemand fester als sie an das, was sie ihre Grundsätze nannte. Achtung vor äußerem Anstande, Sitte und gutem Ruf, diese Kardinaltugend vornehmer Leute besaß sie in hohem Grade; sie war eine abgesagte Feindin alles offenbaren Unrechts, und Adelberts Verhältnis zu Herminien mußte ihr großes Mißfallen erregen, sobald sie es für das erkannte, was es war. Hippolits jetziges Benehmen gegen die Marquise machte sie zuerst aufmerksam darauf. Sie sah, wie er, der sonst nur in den Blicken der Marquise d'Aubincourt zu leben schien, ihr jetzt mit unverkennbarer Kälte begegnete, wie zuvorkommend er Adelberten jedesmal, wenn beide bei ihr zusammentrafen, den Platz neben ihr einräumte, und sie hatte selbst zu lange und in zu mannichfaltigen Verhältnissen in und mit der Welt gelebt, um nicht, wenngleich diesesmal ungerechterweise, den Grund einer so auffallenden Veränderung im Betragen ihrer Hausgenossin zu suchen. Die dunkle Seite desselben blieb ihrem Scharfblick nicht lange verborgen, und grenzenloser Zorn ergriff sie bei Entdeckung, daß die Marquise es wage, unter ihren Augen, in ihrem Hause und gleichsam unter ihrem Schutze mit dem Gemahl einer ihrer nächsten Verwandtinnen ein solches Verhältnis zu unterhalten. Hätte die Gräfin Rosenberg den ersten Regungen ihres empörten Gemüts zu folgen gewagt, so wäre die Marquise in der nächsten Stunde durch öffentliche Kundmachung ihres Betragens vor der Welt auf das Beschämendste bestraft worden; aber sie war von jeher gewohnt, nur mit der äußersten Umsicht vorzuschreiten, und jedes, nicht durch Bewunderung erregte Aufsehen zu scheuen wie den Tod. Der Familienstolz, welcher einst den Baron von Aarheim so mächtig beherrschte, war auch der Brust seiner Schwester nicht fremd, und das Bekenntnis, daß Auguste, ihre Verwandtin, um einer andern willen verlassen werden konnte, schien ihr unwürdig und entehrend. Schmerzlich vermißte sie jetzt Ernestos gewohnte leitende Hand, doch dieser Freund war fern, auf dem Wege nach Italien, wohin Ottokars wiederholte Einladungen ihn zogen, und so blieb der Gräfin nichts übrig, als an seiner Stelle Gabrielen zu Rat und Mitwirkung aufzufordern, um mit ihrer Hülfe die Marquise ohne äußeres Aufsehen zu entlarven, zu entfernen und hernach Adelberten reuig und gebessert Augusten wieder zuzuführen.

Gabriele stritt lange und heftig für Adelberten gegen die Beschuldigungen der Gräfin, ehe sie sich entschließen konnte, solche als Wahrheit anzuerkennen, und selbst dann bemühte sie sich noch, sein Vergehen in gemildertem Lichte zu sehen. Weder sie, noch ihre Tante hatten die leiseste Ahnung davon, daß er in der Marquise d'Aubincourt Herminien wiedergefunden habe; um so auffallender mußte ihnen diese plötzlich entstandene Leidenschaft erscheinen, aber auch um so leichter die Möglichkeit, solche zu besiegen. Adelberts schleunige Entfernung von der gefährlichen Zauberin, welche ihn umstrickt hielt, schien beiden Frauen nach langem Beraten das einzige Mittel, ihn wieder zu sich selbst, zu Augusten zurückzuführen und der innigste Wunsch dieser womöglich die über dem Glück ihres Lebens schwebende Gefahr gänzlich zu verbergen, bestimmte Gabrielen, sich an Frau von Willnangen zu wenden, um durch diese Adelberts schleunige Zurückberufung zu bewirken. Denn so sehr sie auch den freundlichen Greis, Adelberts Oheim, liebte und ehrte, so wußte sie dennoch nicht, inwieweit man in einer für Augustens Zukunft so wichtigen Sache auf dessen Leitung sich verlassen könne, und durfte demnach es nicht wagen, das Muttergefühl der geliebten Freundin zu schonen.

Mildernd, begütigend, aber doch eindringend und ernst machte Gabriele sie mit Adelberts trauriger Verirrung so schonend als möglich bekannt. Die Marquise zeigte sie ihr, so wie sie ihr selbst erschien, als ein für den ersten Augenblick höchst einnehmendes blendendes Geschöpf, reich an allem, was reizt, gefällt und verführt, aber eigentlich doch arm an innerem Werte, mit keiner einzigen der Eigenschaften begabt, die einst Augusten das Herz ihres Gatten gewannen.

»Auguste wird ihn wieder gewinnen«, setzte Gabriele dieser Beschreibung hinzu. »Sie muß ihn wieder gewinnen, um auf ewig ihn zu halten, sobald es uns nur gelingt, ihn dem magischen Kreise dieser neuen Armida zu entrücken, deren Nähe ihn allen seinen Freunden und sich selbst zum Unkenntlichen verwandelt.« Um nicht zu ängstlich bei diesem Hauptzweck ihres Briefes allein zu verweilen, versuchte es weiterhin Gabriele, der Frau von Willnangen ein heiteres lebendiges Bild ihres jetzigen Lebens und des glänzenden Horizonts zu geben, an welchem sie selbst ein Stern erster Größe war. »Sie sehen«, schrieb sie ferner, »aus Ihrer sonst so furchtsamen Gabriele ist nach und nach ein ziemliches Weltkind geworden; doch fürchten Sie nicht zu viel für meinen häuslichen Sinn. Ach liebe liebe Mutter! Ich sehne mich oft so, daß mir die Tränen in die Augen treten, nach einer einzigen Stunde, wie ich deren so unzählig viele bei Ihnen, mit Ihnen, mit Augusten, mit Ernesto verlebt habe. Wissen Sie noch den Abend, wo wir sangen: Dolce dell' anima, speme del mio cor? Wie laut, wie töricht flatterte damals dieses Herz, das jetzt so leise sich regt! Alles ist anders wie in jenen Tagen und doch im Grunde dasselbe. Was je mir teuer war, ist noch das Leben meines Lebens; jede Freude, jedes Gelingen, jeden guten Vorsatz knüpfe ich an ein liebes Bild; aber dies Bild glänzt weit, weit von mir in meinem Jugendlande. Ich träume davon, wie schlafende Kinder mit Engelbildern spielen, aus einer fernen, goldenen, himmlischen Heimat, und wenn ich erwache, lächelt der Abglanz des Morgenrotes meines Lebens noch immer freundlich in meinen Werkeltag hinein.

Wirklich, ich komme mit meinen vierundzwanzig Jahren mir oft recht alt, recht matronenhaft vor, und ich glaube, ich erscheine auch andern so; meinem Zöglinge wenigstens gewiß, denn ich muß es nur bekennen, ich gebe mich jetzt mit der Erziehung ab und zwar bei einem recht verwahrlosten Kinde, das ich dem Untergange entreißen will. Freilich ist es schon einundzwanzig Jahre alt, aber erschrecken Sie nicht darüber, mein Zögling gebärdet sich gewöhnlich, als zähle er deren kaum sieben; er ist unbändig, ungehorsam und wieder lenksam, folgsam und gut wie es kommt. Er verbindet alle Arten und Unarten eines Kindes mit jeder glänzenden Eigenschaft der reifern Jugend. Denken Sie ihn hoch, schlank, schön wie Achill; schmiegsam, biegsam, fast kindliche Grazie in jeder Bewegung, mit dunkeln Locken und schwarzen blitzenden Augen, wie Mignon. So wunderlich wie in seinem Äußern eint sich der Widerspruch auch in seinem Innern. Er ist stolz, auch wohl hochmütig verachtend, eitel, argwöhnisch, süffisant-ausgelassen und oft recht von Herzen betrübt. Alles das teils durch das Leben, welches er bis jetzt lebte, teils durch die Leute, mit denen er in Verbindung geriet, mehr aber noch, wie er mir nicht vertraute, aber erraten ließ, durch früh erlittenen Verrat, Mißhandlung und Betrug von seiten derer, welchen es Pflicht war, ihn zu lieben. Von Natur ist er mild, bescheiden, heiter, vertrauend, jeder Aufopferung fähig, aber diese edleren Eigenschaften treten nur zuweilen hervor und werden oft verdüstert. Er ist sehr unterrichtet, sogar gelehrt, wie es mich dünkt. Er weiß von Kunst zu reden, bläst die Flöte, zeichnet, skizzenhaft, aber geistreich. Doch alles dies ist ihm nur ein Erlerntes, er weiß es nicht zu brauchen, er weiß nur damit zu glänzen. Er geht umher wie ein Nachtwandler in eines Königs Palast, man muß ihn bei Namen rufen, damit er die Herrlichkeit gewahr werde, die ihn umgibt, aber man muß ihn dabei auch recht sorglich festhalten, um ihn vor dem Falle zu schützen und auf die rechte Bahn zu bringen.

Dies zu versuchen, habe ich mir nun vorgenommen. Ich fand ihn am Scheidewege, oder vielmehr, daß ich es nur gestehe, ich fand ihn schon eine ziemliche Strecke über die Grenze hinaus verlockt. Ein wunderliches Begegnen brachte ihn mir nahe; zuerst war er ungezogen, ich schalt, wie billig, er schämte sich etwas ungeschickt, vielleicht zum ersten Male in seinem Leben bei solchem Anlasse, und mitten durch alles dieses blickte so viel Gutes, ja selbst Edles hervor, daß er mein innigstes Bedauern erregte und ich den Wunsch fühlen mußte, ihm wieder zurecht zu helfen. Die Frauen mögen an seinem Verderben nicht wenig schuld sein. Nun es sei gewagt. Vielleicht gelingt es mir, wieder zu erbauen, was andere meines Geschlechts zerstörten. Hippolit scheint Vertrauen zu mir gefaßt zu haben, und das ist schon viel.

Möge es Ihnen ein Beweis seiner Herzensgüte sein, daß er zu meinem eignen Erstaunen das Wohlwollen meines Gemahls sich in so hohem Grade zu erwerben gewußt hat, daß dieser ihn immer um sich haben möchte und Hippolit deshalb beinah wie einer unserer Hausgenossen anzusehen ist; nur daß er nicht bei uns wohnt. Manche kleine körperliche Schwäche des Alters beginnt, früh wie mich dünkt, Herrn von Aarheims Dasein zu trüben, ohne daß ich deshalb ernstlich um ihn besorgt zu sein Ursache hätte. Er wäre gewiß weit öfterer leidend und grämlich als er es ist, doch Hippolit macht ihn vieles vergessen, denn er umspielt ihn in Jugendlust und heiterer Lebensfülle. Der allmählich zum Greise heranalternde Mann scheint oft zu wähnen, er habe in ihm einen lieben Sohn wiedergefunden, der seine grauen Locken ehrt und seine kleinen Schwachheiten schonend erträgt. Wie sehr ich dabei an häuslicher Ruhe und Lebensfreiheit gewinne, werden Sie, die Sie uns so genau kennen, leicht ermessen und sich nicht darüber wundern, daß Hippolit, in diesem freundlichen Verhältnis zu uns, mir selbst ein Verwandter zu sein dünkt, der Anspruch hat an mich, daß ich für ihn tue, was ich kann.«

 

Einige Wochen waren nach Absendung dieses Briefes vergangen und Gabriele sah längst der Antwort entgegen, als eines Abends sich ein kleiner gewählter Kreis zum musikalischen Verein in ihrem Zimmer versammelt hatte.

Umflossen von Licht, Glanz und Schönheit saß die Marquise auf dem Divan unter einer strahlenden Girandole von Kristall. Vor ihr stand die reich geschmückte große Pariser Harfe, hinter ihr über sie hingebeugt Hippolit, dessen Flöte die Töne begleitete, welche sie mit Meisterhand dem goldenen Saitengewebe entlockte. Die ganze Gesellschaft im Saal war in der Andacht des Zuhörens und des Anschauens versunken. Nur Adelbert saß einsam und abgewendet in der fernsten Ecke desselben. Mit den soeben verklungenen einfachen Tönen eines alten oft gehörten Liedes hatte Gabriele eine Welt von Schmerz und Sehnsucht in seinem Busen aufgeregt. Die Melodie des Liedes war eine von jenen, welche wie Töne aus der Heimat in uns wiederklingen und den Worten so fest sich anschließen, daß es unmöglich wird jene ohne diese oder diese ohne jene zu denken. Hier ist das Lied:

Noch einmal muß ich vor Dir stehn,
Noch einmal in Dein Auge sehn
So lieb und klar;
Die Hand, so fest und wahr,
Noch einmal fassen inniglich
Die liebe Hand und Dich – und Dich!

    Drum wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Dann wär schon alles recht,
    Und wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Wie's Gott dann schicken möcht!

Ich muß Dir sagen noch einmal
All meine Freud, all meine Qual;
Du kennst sie beid,
Mein Glück und auch mein Leid,
Doch ich muß sagen Dir aufs neu
All meiner Seele Lieb und Treu!

    Drum wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Dann wär schon alles recht,
    Und wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Wie's Gott dann schicken möcht!

Muß hören noch ein einzig Mal
Den süßen vollen Glockenschall
Von Deiner Stimm,
Denn – ging's mir noch so schlimm –,
Wenn sie von Deinen Lippen weht,
Wird meine Klage still Gebet.

    Drum wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Dann wär schon alles recht,
    Und wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Wie's Gott dann schicken möcht!

Will rufen all mein schmerzlich Glück
Mir noch ein einzig Mal zurück;
Will lauschen sacht:
Wie Du an mich gedacht?
Noch einmal muß auf Erden mein,
Nur einmal noch der Himmel sein.

    Drum wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Dann wär schon alles recht,
    Und wenn ich nur erst bei Dir wär,
    Wie's Gott dann schicken möcht!

Diesen Worten, diesen Tönen hatte Adelbert unzähligemal im innigsten Gefühl seines Glücks an Augustens Seite zugehorcht, wenn Gabriele, wie eben jetzt, mit ihrer süßen rührenden Stimme sie sang; und nun erfüllten sie das Gemüt des einsam Verirrten mit einer unendlichen Sehnsucht nach dem häuslichen glücklichen Herd. Dabei ward ihm, als trennten weite Meere, unüberwindliche Klüfte ihn von den Seinen, als werde er nimmer und nimmer sie wiedersehen. Allmählich versank er so in immer trostlosere Wehmut und beachtete weder das Spiel der Marquise noch alles, was ihn umgab. Ein leises Öffnen der Türe bewog ihn endlich mechanisch die Augen zu erheben und zu seinem unsäglichen Schrecken erblickte er dicht vor sich die ehrwürdige Gestalt seines, viele Meilen weit entfernt geglaubten Oheims, des General Lichtenfels. Blitzschnell fuhr Adelbert bei dem unerwarteten Anblick in die Höhe, er wollte ihn begrüßen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst; bleich, wie entgeistert, blieb er auf seinem Platze regungslos stehen, den stieren Blick auf den eben Eingetretenen geheftet, der ihn indessen ebensowenig bemerkte, als er selbst von der, ganz der Musik zugewendeten Gesellschaft bemerkt ward.

Leise auftretend, durchschritt der General das Zimmer der Länge nach, bis er dicht vor der Marquise still stand, nur durch die Harfe von ihr geschieden. Mit immer zorniger werdendem Ernste betrachtete er sie, jede Sekunde überzeugte ihn immer fester, sie sei wirklich die, für welche er sie im ersten Augenblicke erkannt hatte, bis endlich eine Pause in der Musik entstand. Die Marquise, welche bis dahin ihr Harfenspiel ganz unbefangen fortgesetzt hatte, wendete sich jetzt gegen ihre Zuhörer, um in den Augen derselben die dankbarste Bewunderung zu lesen, und ihr erster Blick fiel auf die hohe, drohende Gestalt, die, ganz nahe vor ihr, über die Harfe weg, sie anstarrte. Gelähmt vom Schrecken bei der unerwarteten Erscheinung, die auch sie nur zu wohl wiedererkannte, fühlte sie dennoch die dringende Notwendigkeit, hier ruhig und besonnen zu bleiben. Sogar ein Gedanke der Möglichkeit, unerkannt durchzuschlüpfen, fuhr ihr durch den Kopf, wenn sie Fassung genug behielt, ferner für eine Französin zu gelten, deren große Ähnlichkeit mit der ehemaligen Braut seines Neffen den General verwirre. Aber ein Seitenblick auf Adelbert, der wie vernichtet dastand, brach ihr den Mut, und als nun vollends der General die wohlbekannte Stimme donnernd erhob, sank sie erbleichend auf den Divan zurück und vermochte es kaum noch, auf ihrem Sitz sich aufrecht zu erhalten.

Erzürnt, tief empört, vom Augenblick hingerissen, vergaß der General alle ihm sonst eigene Milde und Schonung und begann eine laute lange Strafpredigt. Der ganze Zusammenhang von Adelberts Verirrung war ihm klar geworden wie der Tag, sowie er in der Marquise Herminien wieder fand, und er überströmte die ihm jetzt zwiefach strafbar Erscheinende mit Fragen, mit Vorwürfen, mit Anklagen, welche den dabei Gegenwärtigen ihre früheren und jetzigen Verhältnisse in dem allerungünstigsten Lichte offenbaren mußten. Die duldende Verlegenheit der Marquise galt bei allen für das vollkommenste Eingestehen jeder Beschuldigung, besonders da sie in der Angst der früheren Verstellung vergaß, und plötzlich in sehr reinem geläufigen Deutsch ihren Widersacher zu besänftigen und manche Anklage von sich abzuwenden suchte. Die Szene ward immer verwirrender und Gabriele, die, wenn sie gleich auf diese Art es nicht gewollt hatte, sich doch bewußt war, sie veranlaßt zu haben, geriet in immer drückendere Verlegenheit. Denn jetzt erhob sich auch die Gräfin, um die Angeklagte vollends zu zerschmettern.

Mit richtendem Ernst, stolz und hoch wie eine Königin, betrachtete sie sie einige Sekunden, dann wandte sie sich an Gabrielen mit der laut ausgesprochenen Bitte, ihr zu verzeihen, daß sie, auf beispiellose Art getäuscht, sich durch ihre gewohnte arglose Gefälligkeit habe verleiten lassen, eine Dame bei ihr einzuführen, mit deren Verhältnissen sie, wie sie jetzt gewahr werde, dazu nicht bekannt genug gewesen sei. Mit einer verbeugenden Bewegung, welche die nämliche Bitte auch den übrigen Anwesenden wiederholte, verließ sie alsdann das Zimmer, nur begrüßte sie noch vorher die Marquise mit einem nachlässig vornehmen: »Madame! J'ai l'honneur de Vous saluer«, und umarmte nochmals ihre verlegen dastehende Nichte.

Auch Adelbert hatte sich früher, ohne bemerkt zu werden, entfernt.

Jedes Bestreben, dem General Einhalt zu tun, war vergeblich. Mitleidig versuchte es endlich Gabriele, der Marquise wenigstens den Weg zur Flucht zu bahnen, aber dieser war nicht zu helfen, sie saß regungslos auf dem Divan, von der einen Seite durch die große Harfe eingeengt, von der andern durch den General, der sich selbst immer zorniger sprach und seinen Anschuldigungen immer schonungslosere Worte gab. Hippolit hatte sich indessen lange fruchtlos bemüht, die bei diesem widerwärtigen Vorgange nicht persönlich interessierten Zuschauer zum Weggehen zu bewegen, alle bildeten aber einen neugierigen Kreis und niemand hatte die mindeste Lust, zu wanken oder zu weichen. Doch jetzt, da die Gräfin das Beispiel gab, konnte man sich nicht mehr anständig weigern, ihr zu folgen. Die Gesellschaft brach also mit ihr auf, und Hippolit ergriff nun das einzige Mittel, das ihm übrigblieb, um diese unangenehme Szene gänzlich zu beenden. Er nahte sich der Marquise, schob die schwere Harfe beiseite, und unerachtet der General, den er nicht kannte, noch immerfort sprach, bot er ihr den Arm, um sie an ihren Wagen zu geleiten. Doch es schien, als ob das Regen der Gesellschaft um sie her, sie plötzlich aus ihrer Bewußtlosigkeit erwecke; sie stand auf, wies mit einer verachtenden Bewegung Hippolits dargebotenen Arm von sich und wandte sich dann gegen den General, der nun seinerseits auch über das Unerwartete wie verwundert verstummte.

»Ihr Alter, Herr General! gibt Ihnen das Privilegium, unartig zu sein, daher verzeihe ich Ihnen«, sprach Herminia sehr vernehmlich. »Ob Sie aber Ihr heutiges Betragen sich selbst und denen, welche Sie dazu aufreizten, werden verzeihen können, das mögen Sie bei kälterem Blute selbst entscheiden. Morgen, wenn Sie das Fieber verschlafen haben, in welches die Ermüdung der Reise Sie versetzt hat, werden bei hellerem Bewußtsein Ihnen vielleicht die Gründe klar werden, welche diese Dame und diesen Herrn veranlaßt haben können, Sie zu einer Szene zu verschreiben, deren Herbeiführung freilich den Forschungsgeist und das savoir faire derselben in der skandalösen Chronik der Stadt rühmlichst verewigen muß.« Mit einem höhnischen Lächeln verbeugte sie sich bei diesen Worten gegen Hippolit und Gabrielen und verließ dann das Zimmer. Hippolit folgte ihr dennoch, um sie sicher bis an den Wagen zu geleiten, während Gabriele beim General blieb, der zornbleich und von der heftigen Gemütsbewegung erschöpft in einen Armsessel gesunken war, aus dem er aber mit dem Ausdruck eines schreckhaften Sichbesinnens bald wieder auffuhr.

»Auguste!« rief er, »Auguste! Daß ich diese vergessen konnte! Aber wie war es möglich, ein solches Zusammentreffen vorauszusehen? Wir meinten es gut, Frau von Willnangen und ich; ungern mochte ich Adelberten vor Beendigung seines Geschäfts von hier abrufen. Augustens Wiedersehen, so hofften wir, sollte schnell die Fesseln der Buhlerin lösen. Wer konnte die Möglichkeit denken, in der Marquise d'Aubincourt Herminien zu finden?«

»Um Gottes willen, wo ist Auguste?« rief Gabriele.

»Die Arme«, erwiderte der General, der noch immer seine gewöhnliche Fassung nicht wieder gewonnen hatte; »die Arme! Sie weiß von nichts. Auf mein Bitten begleitete sie mich, Adelberten, wie sie glaubt, zu seinem heutigen Geburtstage durch ihre Gegenwart freudig zu überraschen. Wir vernahmen beim Aussteigen aus dem Wagen, hier sei Konzert, Gott weiß, ich ahnete nichts von der Szene, die nun erfolgt ist. Ich glaubte nicht, die Marquise in dieser Gesellschaft zu finden. Gut nur, daß Auguste sich nicht in Reisekleidern zeigen mochte.«

»Wo ist sie? Wo ist sie?« fragte Gabriele noch ängstlicher und zog hastig die Klingelschnur, um Annetten herbeizurufen.

»In Adelberts Zimmer«, erwiderte der General, »sie wollte eiligst sich umkleiden.«

Pfeilschnell flog jetzt Gabriele, die Freundin aufzusuchen, der General folgte ihr; unten von der Treppe herauf hörten sie unterwegs Hippolits und Adelberts Stimmen, wie im heftigen Wortwechsel ertönen und auch der Marquise Stimme ward vernehmbar.

Zu jeder andern Zeit würde dies alles Gabrielen sehr beunruhigt haben, jetzt achtete sie kaum darauf und dachte nur an Augusten. Sie fand sie wirklich in Adelberts Zimmer allein, zwar mit allem Geschehenen unbekannt, aber doch zitternd vor einem namenlosen Unglück, das ihr um so furchtbarer erschien, je weniger sie imstande war, ihm eine Gestaltung zu geben.

Adelbert war vor einigen Minuten heftig bewegt und, wie sie meinte, freudig über ihren unvermuteten Besuch in das Zimmer gestürzt. Mit offenen Armen war sie ihm entgegen getreten, er aber hatte mit vorgestreckten Händen sie von sich abgewehrt, hatte furchtbar sie angestarrt und war dann davon geflohen wie ein Verzweifelnder. Auguste war ihm gefolgt, aber er in dem ihr fremden Hause schnell ihr aus dem Gesicht geschwunden. Mit Mühe hatte sie sich in das Zimmer zurückgefunden und dann versucht sich zu erholen, um Gabrielen aufsuchen zu können, als diese mit dem General zu ihr eintrat.

 


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