Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nachwort

Karl Schönherr steht gegenwärtig obenan unter unseren Dramatikern. Eine lange Reihe seiner Stücke – »Sonnwendtag«, »Erde«, »Glaube und Heimat«, »Volk in Not«, »Der Weibsteufel« – hat sich, weit über die Grenzen Österreichs und Deutschlands hinaus, dauernd eingelebt in unseren Schauspielhäusern. Sein reiches Lebenswerk beschränkt sich indessen nicht auf die Bühne: nicht geringeren Anteils als der Dramatiker ist der Erzähler wert; die Handzeichnungen und Studienköpfe seiner Geschichten wirken durch den Reiz derselben Naturgaben und Künstlermühen, wie die mächtigen Fresken seiner theatralischen Schöpfungen, und ein Blick auf seinen Werdegang zeigt, daß er seine Laufbahn nicht als Tragöde, sondern bescheiden mit mundartlichen Schnurren und heiteren und ernsten Bildern aus den Tiroler Alpen begann.

Der Dichter, geboren am 24. Februar 1867 zu Axams bei Innsbruck, ist der Sohn eines Lehrers; in dem Blatt »Wie der Vater starb« hat Schönherr erzählt, daß zum Begräbnis des Siegers in vielen Preisschießen viele altbefreundete Schützenbruder selbst über den Brenner in das ihm zuletzt zugeteilte Schulhaus von Schlanders im Vintschgau kamen. Die Witwe wurde mit einer jämmerlichen Jahrespension von sechzig Gulden abgefunden; als ihr der Dechant aber als weitere Gnade des Ortsvorstandes vorschlug, sich von ihren fünf Kleinen – Karl zählte dazumal neun Jahre – zu trennen, um die Kinder bei fremden Bauern unterzubringen, ging sie nicht darauf ein. Wie die tapfere Frau die Aufgabe löste, die Kleinen großzuziehen, hat Schönherr in dem lapidaren Satz erklärt: »Denkt euch nur, sie hat es wirklich fertiggebracht – die Mutter.« Das einzige Widmungsblatt seiner Werke – in den Dialektgedichten »Innthaler Schnalzer« – trägt denn auch die wohlverdiente Inschrift: »Meiner Mutter«. Sein Bruder wurde Geistlicher in Passeier, zwei Schwestern gingen ins Kloster nach Friesach, Karl besuchte die Gymnasien von Brixen, Hall, Bozen; dann bezog er die Universität Innsbruck, zuerst als studiosus philosophiae, der Germanistik bei Zingerle hörte; nach zwei Semestern sattelte er um und wurde Mediziner, der ein ergötzlich beschriebenes Colloquium bei dem Professor der Mineralogie, dem Dichter Adolf Pichler bestand. Unter harten Lebens- und Examensnöten – die in der Skizze »Der Student« und den Dramen »Sonnwendtag« und » Vivat academia!« Spuren zurückließen – setzte er seine Studien in Wien fort. Die Ferien führten ihn in die Heimat, wo es an hellen und dunklen Eindrücken nicht fehlte, den finstersten hat er in der erschütternden Schilderung »Herrgotts Schwiegermutter« festgehalten. Die strenge Klostersatzung verwehrte seiner verzweifelnden Mutter, an das Sterbebett der typhuskranken Tochter zu treten. Er hat auch sonst offenen Auges, wie seine Stücke und Skizzen bezeugen, tieffühlend Jammer und Elend, Arme-Leut'-Not, die Lieblosigkeit der Begüterten gegen Auszügler und Bresthafte geschaut und, wie vor ihm Dickens und Turgenjeff in warnenden und rächenden Beispielen vor Augen gestellt. Auf dem Posthof seines Oheims in Ober-Innthal hat er absichtslos alle Heimlichkeiten der Lebensführung und Hantierungen der Älpler, Landpfarrer und Landgeistlichen, altangesessener Bauersleute aller Spielarten, landstreichender Vaganten und Frachtfuhrleute, die den Verkehr in abgelegenen eisenbahnlosen Gegenden in großem Umfang besorgten, von Grund aus kennengelernt, die religiösen und politischen Zeitkämpfe im Land der Glaubenseinheit mit jugendlichem Anteil verfolgt. In guter Stunde und Stimmung wagte er sich in Innsbrucker und Wiener Zeitungen mit Proben seiner Tiroler Gänge hervor: Scherzgedichte »Tiroler Marterln für abg'stürzte Bergkraxler« verlegte 1895 H. Haessel, der auch die »Innthaler Schnalzer« und die von Rosegger herzlich in einer Anzeige willkommen geheißenen Geschichten und Gestalten aus den Tiroler Alpen »Allerhand Kreuzköpf'« in Leipzig herausgab. An Schriftstellerei als Lebensberuf dachte Schönherr kaum; er hatte das Doktorat der Medizin gemacht, fand aber anfangs nur Armenpraxis, die ihm Patienten zuführte, denen er mit seinen letzten Groschen aushelfen mußte. Seine sehr bescheidenen literarischen Honorare bescherten nur kärgliche Zubußen. Sein erster Versuch auf der Bühne, das Volksschauspiel »Der Judas von Tirol« schlug bei der einzigen Aufführung im Theater an der Wien 1897 durch Schuld des Spielleiters fehl. Drei Jahre später lenkte seine einaktige »Tragödie braver Leute: Die Bildschnitzer« den Anteil einiger Kenner auf ihn; 1902 gewann er das Burgtheater mit dem fünfaktigen Schauspiel »Sonnwendtag«, das bei den Freunden seines Talentes die Überzeugung befestigte, daß hier eine neue Kraft sich rege, die nach Stelzhammer, Anzengruber und Rosegger Leben und Wesen des heimischen Menschenschlages auf ihre eigenste Weise geistig und künstlerisch neu und selbständig fasse. Hauptmann und Ibsen waren nicht ohne Einfluß: jener auf das Märchenstück »Das Königreich«, dieser auf das Schauspiel »Familie«. Wie wenig jedoch andere den Kern seines Schaffens berührten, bewies 1907 seine »Komödie des Lebens ›Erde‹«, die selbst seinen Parteigängern eine außerordentliche Überraschung bereitete. Schon der Vorwurf war ein Meistergriff: die Verkörperung eines mit seiner Scholle dermaßen verwachsenen Großbauern, daß seine dämonische Herrennatur niemanden neben sich aufkommen läßt und mit seinem tyrannischen Machtwillen alles, was ihm in den Weg treten möchte, den einzigen Sohn ebenso kraftvoll niederzwingt, wie Krankheit und Tod. Hätte Schönherr nichts geschaffen als diese einzige, auch in der Dichtung unzerstörbare Gestalt des alten Grutz, durch sie allein würde er zu den Mehrern des Reiches deutscher Kunst gehören. Ihm und uns waren aber noch andere, ebenso bedeutende Würfe beschieden. Nur übermenschliche Gewalten vermögen Landsleute des alten Grutz, aus freiem Entschluß von Haus, Hof, Heimat zu scheiden: in der »Tragödie eines Volkes: Glaube und Heimat« griff er 1914 in die furchtbaren Kämpfe der Reformation und Gegenreformation: dieselben Älpler, die sich, wie nachmals Grutz, eins, scheinbar untrennbar verbunden fühlen mit ihrer Muttererde, geben, auf die Probe gestellt, ihres Glaubens willen den eigenen Herd preis. Und derselbe Opfermut, der die Tiroler der Religionskriege beseelt, läßt sie Gut und Blut einsetzen in den Tagen der napoleonischen Fremdherrschaft: Schönherrs Heldenlied »Volk in Not« (1915) gesellt Andreas Hofer das dem Führer ebenbürtige Geschlecht der – in ihrer schlichten Größe weltberühmte Herrscherinnen überragenden – Adlerwirtin. In diesen beiden gewaltigen Volksschauspielen verstand es Schönherr, Tiroler aller Altersstufen in überlegen abgestuften und beherrschten Massen wirken zu lassen; in einer Reihe anderer, aus der Gegenwart geholter Charakterstücke übte er mit gleicher Sicherheit eine grundverschiedene Technik: im »Weibsteufel« (1915) und in der »Kindertragödie« (1919) hält er uns mit den Schicksalen von drei, in »Es« (1923) gar nur von zwei Personen mit zwingender Gewalt im Bann. Kein Wunder, daß mir nach dieser Fülle von Leistungen der neidlose, begeisterungsfähige Rosegger in einem seiner letzten Briefe, 11. Februar 1916, überschwenglich schrieb: »Ich halte Schönherr für den größten Dramatiker.«

Den Geschichten Schönherrs war Rosegger jederzeit wohlwollend begegnet: schon 1895 lobte er die »Kreuzköpf'«, ihren knappen, in jedem Wort beredten Stil, ihren kernigen Humor, »in dem mancher Tropfen Herzblut zuckt«. Und ein Menschenalter hernach rühmt er in dem letzten Buch, das er druckreif hinterließ, in einem besonderen Aufsatz seiner »Abenddämmerung« Schönherrs Erzählungen mit dem Kennerurteil: »Nicht ein Stadtmensch, der Bauerngeschichten schreibt, sondern ein Berglandblut, das aus sich selber schöpft. Ein Geber und ein Herrscher, ein Bauernaristokrat, wie sie besonders noch im Tirolerland wachsen.« Die Worte wären das beste, bündigste Motto für eine eindringende Würdigung der gesammelten Geschichten Schönherrs. Die Heiterkeit der »Kreuzköpf'« und »Bauernschwänke« wich immer schwermütigeren Stimmungen. Einem »Merkbuch« (1911) folgte das drohender betitelte »Schuldbuch« (1914), und der Scheinheiligkeit der Bauern und Städter hatte schon 1905 den Zerrspiegel ein Buch vorgehalten, das höhnisch Caritas benamst war. Die zutreffendste Überschrift all seiner Geschichten wäre angesichts seines steten Strebens nach Wahrhaftigkeit Veritas, und nicht die Schuld des aufrichtigen Malers ist es, wenn seine Urbilder einer häßlichen, entarteten Wirklichkeit entstammen. Daß und wie sehr sein Dichtergemüt darunter leidet, daß Caritas und Veritas, Barmherzigkeit und Wahrheit einander allzuoft widerstreiten, offenbaren ergreifend und rührend viele seiner grimmigsten Satiren.

Unser Band läßt Schönherr verschiedene Tonarten anschlagen. Er setzt lustig ein mit dem Mißgeschick eines läßlicher Streiche willen durch unbedachten Selbstverrat gerecht bestraften vorwitzigen Jungen in der »Ersten Beicht'«. Ebenso komisch ist das Gegenstück »Der Ehrenposten«, die drollige, durch ausgiebige Prügel besiegelte Betrauung eines ausbündigen Schlingels mit einer verantwortlichen, für die Zukunft einer Gemeinde bedeutsamen Sendung. Patriarchenluft atmen wir in dem Idyll »Der Hirt«, ein bis zum letzten Atemzug seiner Lebenspflicht treu dienender greiser Senner, parodistisch behandelt wird als »Hoffnung der Mutter« ein unverbesserlicher betagter Trunkenbold. An »Schnauzl« hängt das Herz eines vagabundierenden Bettlers so sehr, daß nur der Hunger seiner Kinder ihn nötigen kann, den armen Hund abzuschlachten: eine Tiergeschichte, die den Vergleich mit Marie Ebners »Spitzin« nicht zu scheuen hat. Mitgefühl mit dem Schmerz aller Kreatur bringt uns in den »Müttern« das Leid einer Frau und einer Katze gleich nahe, die beide ihres Jungen beraubt wurden. Wie hart Übermaß der Arbeitsplage Liebeslust und Ehestand eines vollsaftigen Paares, einer Wäscherin und eines Fuhrmannes, stört, sehen wir in den einander nicht rechtzeitig ablösenden Tagewerken und Nachtschichten von »Kaspar und Resi«. Ein Höchstes der Art und Kunst Schönherrs bedeuteten mir gleich beim ersten Abdruck in der »Österreichischen Rundschau« seine »Raufer«. In dem Zusammenstoß dieser »auf der Poscht« zur Sühne einer Familienbeschimpfung zu einer Keilerei auf Leben und Tod antretenden Bauernburschen lebt ungesucht der Kampfmut des Walthariliedes. In aller Roheit rührt sich echtes Heldenblut. Wenn sich diese Kerle zuletzt die trotz aller natürlichen Härte doch nur aus Knochen gebauten Schädel einschlagen, ahnt man, daß in der Stunde der Gefahr dieselben Gesellen Landesfeinde urgewaltig und erbarmungslos, wie Steinschlag und Lawinensturz um den Preis der Selbstvernichtung ins Verderben reißen werden. Und man empfindet, daß derselbe Dichter, der am Ende von »Glaube und Heimat« Laute reinster christlicher Selbstüberwindung anschlagen kann, im Ernstfall selbst dieser altgermanischen Kampfesfurie fähig sein wird, wie sein »Volk in Not«. In seinem Leben und Lebenswerk ein Zeuge und Bürge für die Kraft und Größe Tirols, ist Karl Schönherr in Gegenwart und Zukunft ein Stolz und Trost nicht nur seines engeren Vaterlandes. Ein Stamm, ein Volk, das einen Mann und Dichter solcher Art hervorbringt, wird aller Drangsale Herr werden.

Anton Bettelheim.


 << zurück