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Der Ehrenposten

Eines Tages in der Zeit, da wir Knirpse noch auf der Schulbank unsere ersten Hosen abwetzten, ging plötzlich die Tür des Schulzimmers weit auf:

Herein traten feierlich-klobig der Gemeindevorsteher mit seinen Räten; dem Metzger, dem Gerber und dem Hufschmied. Sie waren alle im Festtagsgewand und teilten dem verdutzten Schulmeister den Grund ihres Kommens mit.

»Warum wir da sein, Schulmeister? Das wirst gleich erfahr'n!«

Die Gemeinde hätte sich endlich nach langem Prozessieren mit dem Nachbardorf über die Gemeindewaldgrenze gütlich geeinigt und so wolle man denn heute in gegenseitigem Einvernehmen feierlich die Setzung des Grenzsteines vornehmen. Und da sei es seit urdenklichen Zeiten immer der Brauch gewesen, zu dieser Zeremonie auch je einen Schulknaben aus den strittigen Gemeinden als Zeugen beizuziehen.

»Von wegen dessen,« nahm nun der Hufschmied das Wort, »auf daß der Bub nachher in viel'n und vielen Jahren, wenn von uns heutigen Gemeindemandern längst kein Huf oder Knochen mehr übrig ist, er unter unseren Kindskindern noch als lebendiger Zeug' umgeht, und eben dessen, wenn einmal der Markstein verschwinden sollt, daß er sagen kann: Da, auf dem Fleck, haben unsere Vatersvatern den Markstein gesetzt, und da muß er wieder her ..., so wahr mir Gott helf, bin als Schulbub selber dabeigewesen!«

Natürlich pflegt man für einen solchen Ehrenposten stets einen besonders gesunden, strammen Jungen auszuwählen, der nach menschlichem Ermessen Aussicht hat, möglichst lange als lebendige Marksteinchronik unter den »Kindskindern« umzugehen.

Nach solch einem Jungen hielten nun die Gemeindeleute in der Klasse Umschau. Besonders der Metzger ließ seine scharfen, kälberkundigen Augen prüfend über die Reihen fliegen.

Der Schulmeister schob natürlich sofort den »Ersten« der Klasse vor. Der war lang und dürr wie ein Halm.

Sagte der Metzger zum Vorsteher: »Vorsteher! Brauchst du vielleicht ein' Spaziersteck'n? I brauch' kein!«

Schob den Primus verächtlich beiseite und ließ seine Augen weiter im Saale schweifen. In den hinteren Bänken schien ihn plötzlich etwas zu »verinteressieren«.

Der Lehrer schob den Zweiten vor.

Der Metzger besah ihn mit halbem Auge, machte wohl auch einen prüfenden Griff, wie Metzger beim Einkauf zu tun pflegen, und winkte hochmütig ab. Sein Blick blieb immer eindringlicher da irgendwo in den hinteren Bankreihen haften.

Der Lehrer schob den Dritten, Vierten vor; der Reihe nach die Besten der Klasse. Aber der Metzger ließ nun schon kein Auge mehr von den hinteren Bänken, plötzlich schob er den Schulmeister samt seinen guten Schülern beiseite, zwängte sich mühevoll bis zur letzten Reihe vor und hob mit sicherem Griffe, wie der Hirt ein Schaf aus der Herde, einen zappelnden Jungen aus der Eselsbank. Er hielt ihn einen Augenblick wie wägend in der Luft, und stellte ihn dann schmunzelnd, fürsorglich auf den Boden.

»Bübl, wie heißt?« fragte er mit überquellender Zärtlichkeit.

»Bergerhansl!«

Der Bergerhansl war ein kleiner Knirps, aber ein großer Lump. Zu finden war er überall; in der Schule und Kirche ganz hinten, bei den Spitzbübereien ganz vorne. Er strotzte vor Gesundheit, wie die meisten Lumpen. Seine Backen waren rot und fleischig und auf seinem Kugelkopf wuchs ihm ein ganzes Stoppelfeld strohgelber Haare.

Der Metzger wandte sich an den Vorsteher und die Räte: »Mander! Da haben wir, was wir suchen! Bei dem Stückl bleiben wir!«

Der Vorsteher und seine Räte besahen mit steigendem Wohlgefallen das »Stückl!«

»Eine gute Kreuzung,« nickte der Hufschmied.

»Und breit g'stellt und kurzstocket ... und kugelkopfet ... ja, bei dem bleiben wir! Der lebt noch hundert Jahr' nach der Ewigkeit!«

Der Lehrer war wie vor den Kopf geschlagen: »Was! Der Hansl? Der allerletzte in der Eselsbank; der größte Lump; mein Sargnagel ... und der einen Ehrenposten?«

Aber niemand hörte auf den Schulmeister.

Der Vorsteher klopfte dem Hansl wohlwollend auf die Schulter. Die schwere Hand der Gemeinde ruhte schützend über dem Hansl.

»Bei dem bleiben wir! Und jetzt vorwärts! Der Schulmeister soll auch mit ... Schrift und Urkund' aufsetzen!«

So stiegen wir alle zum Waldrand empor. Der Hansl wurde von den Bauern beinahe mit Ehrfurcht behandelt. Sie hatten ihn in die Mitte genommen und führten ihn stolz wie ein junges Preisstierlein. Und der Hansl, im Vollgefühle seiner Ehrenstellung, pustete und blies die Backen auf; stolzierte daher wie der Hahn auf dem Mist.

Wir andern machten lange Hälse und waren dem Hansl neidig. Wir mußten alle hinter dem größten Lumpen der Klasse gehen.

Der Lehrer schlich geknickt ganz hinterdrein und sagte in einem fort: »Es gibt kein' Gerechtigkeit!«

Sowie nur einer von uns dem Hansl etwas zu nahe an die Hacken kam, riß ihn gleich der Vorsteher am Ärmel zurück: »Bleibt's ein bissel zurück! Nit dem Bübl auf die Fersen treten!«

Droben waren sie alle schon versammelt, die »Großkopfeten« vom Nachbardorf. An der Grenzstelle war ein tiefes Loch gegraben und daneben lag der granitene »Markstein«. Nun alles beisammen war, wurde der Grenzstein feierlich unter lautloser Stille eingeschaufelt.

Dann hieß es: »Hansl! Voran!«

Der Hansl sollte sich nun den Platz scharf ins Gedächtnis prägen. Mit den Händen auf dem Rücken stand er da, protzig, aufgedonnert, als hätte er auch schon seit Jahr und Tag Sitz und Stimme in der Gemeinde. Es gehörte gerade nicht viel Talent dazu, sich die Stelle zu merken. Genau drei Schritte nach links vom Markstein befand sich ein kleiner Tümpel, genannt die »Krotenlack'n«, und wieder genau sechs Schritte rechts vom Grenzstein stieg ein kleiner, bewaldeter Hügel auf, der »Guggenbüchel«.

»Hansl,« meinte der Metzger, nicht frei von Sorge: »Wirst dir wohl den Platz auch merken? Die Sach' kann einmal wichtig werden für unsere Kindskinder, wenn der Markstein einmal verwittern sollt'; oder wenn ihn vielleicht gar ung'segnete Händ' einmal heimlich ausgraben und versetzen sollten; man weiß ja nie, was für Leut' nach uns kommen! Wirst dir den Platz wohl merken?«

»Ha!« lachte der Hansl verächtlich. »Drei Schritt links von der Krotenlack'n und sechs Schritt rechts vom Guggenbüchel steht der Markstein! Das vergiß i mit achtzig Jahr noch nit!«

»Hansl,« sagte der Vorsteher, »geh ein dutzendmal die Stell' ab. Markstein – Krotenlack'n, Markstein – Guggenbüchel! Und zähl' die Schritt laut vor, auf daß es dir ja gewiß im Hirn bleibt! Die Sach' könnt' für unsere Nachfahren einmal wichtig werden!«

Der Hansl tat, wie ihm geheißen; zählte im Gehen mit heller Stimme: »Eins ... zwei ... drei; drei Schritt von der Krotenlack'n! Zwei ... drei ... vier ... fünf ... sechs; sechs Schritt vom Guggenbüchel!« So ging es eine Weile fort. Die Bauern nickten befriedigt: »Ja ... ja! Der merkt's!«

Da hörte der Hansl im Waldschlag eine Meise pfeifen: »Uje, ein' Spiegelmeisel! Ziwui ... Ziwui ... Ziwui ...«

Er zählte wohl mechanisch weiter und maß die Schritte ab: »Drei Schritt links von der Krotenlack'n – sechs Schritt rechts von Guggenbüchel!«

Aber mit dem Herzen war er bei der Spiegelmeise und nicht beim Markstein, wie das die Bauern im Interesse der »Kindskinder« so sehnlich wünschten.

Der Metzger, der kein Auge vom Hansl ließ, merkte zuerst die Zerstreutheit. Seine Stirn begann sich zu umwölken.

»Teufelsbub! Er ist nit bei der Sach'!«

»Was tun wir?« seufzte der Vorsteher. »Er ist nit bei der Sach'.«

Der Hufschmied ergriff das Wort: »Von wegen dessen, weil i von mir selber weiß, daß so ein Bübl nie und nimmer den Platz vergißt, wo's einmal was Gutes zum Ess'n kriegt hat, und dem daß sogar ein Roß sich jahrlang Ort und Stell' vermerkt, wo man ihm ein Stückl Zucker 'geben hat, von wegen dessen hab' i zur Gedächtnusstärkung für den Marksteinzeug'n was Gutes mit'bracht!«

Der Hufschmied nestelte aus der Tasche ein mächtiges Trumm Gugelhupf hervor und sagte zum Hansl: »Bübl, iß!«

Zu uns sagte er: »Geht's ein bissl z'ruck! Laßt das Bübl mit Ruh' essen!«

Der Hansl bleckte die Zähne; verzog vor Wonne den Mund bis an die Ohren: »Das ist einmal ein Tag, ha, ha! Ha! Das Platzel vergiß i nie mehr! Drei Schritt links von der Krotenlack'n und sechs Schritt rechts vom Guggenbüchel!«

Und aß und kaute und schluckte.

Der Vorsteher packte eine Flasche Wein aus der inwendigen Joppentasche und schenkte ein Glas voll ein: »Zur Gedächtnisstärkung! Da, Bübl, trink!«

Der Hansl schnalzte vor Lust: »Gesundheit! Sollt's alle leb'n! Der Schulmeister auch daneb'n!«

Und soff das Glas auf einen Zug hinunter.

Der Metzger trat auf den Hansl zu und zog den Geldbeutel: »Bübl! Eins, zwei, drei Schritt links von der Krotenlack'n ... gelt? Damit du's besser merkst – halt die linke Hand auf!«

Und zählte dem freudestrahlenden Hansl drei funkelnagelneue Zwanziger auf die Hand. Einen für jeden Schritt.

»Und sechs Schritt rechts von Guggenbüchel,« fuhr der Metzger fort. »Bübl! Halt die rechte Hand auf!«

Ob sie der Hansl aufhielt!

Der Metzger legte ihm, der Schrittzahl entsprechend, nacheinander sechs – Doppelkreuzer auf:

»Merkst d' dir's jetzt, Bübl?«

Jetzt, da sich die Sache erst rentiert hätte, Kam der plötzlich mit dem Kupfer. Filziger Metzger!

»Hm, ... ja!« sagte der Hansl gereizt nebenhin und zuckte beleidigt die Achsel: »Ich werd's schon vielleicht merken! Besonders die drei Schritt links von der Krotenlack'n!«

Die Schäbigkeit des Metzgers wollte dem Hansl nicht aus dem Kopf. Neun Zwanziger könnte er in der Tasche haben!

Auf Geheiß des Vorstehers mußte er wieder memorierend den Platz abschreiten: »Drei Zwanziger links von der Krotenlack'n – zwei Schritt rechts vom Guggenbüchel ...«

»Wieviel Schritt, Hansl?« fuhr sorgenvoll der Metzger auf.

»Er merkt's nit,« seufzte bekümmert der Hufschmied. Die Bauern steckten besorgt die Köpfe zusammen und berieten abseits in aller Heimlichkeit.

»Was tun? Er merkt's nit!«

Niemand wußte Rat.

Der Gerber hatte, solange er im Rate der Gemeinde saß, noch keinen ganzen Satz gesprochen. Aber jetzt lief ihm die Galle über: »Was tun?« grollte er. »Ich bin ein gemeiner Gerber, weiter nichts. Und wenn man beim Gerber daheim ein' jungen Hund hat, der's mit Gewalt nit merken will, daß die Stub'n kein Eckstein ist, nachher gibt ihm der Gerber kein' Gugelhupf und kein' Wein und kein' Zwanzger! Er führt ihn an die Stell', wo er was ang'stellt hat, und gerbt ihm tüchtig das Fell. Und gut ist's gewesen, und g'merkt hat sich's noch jeder junge Hund seiner Lebtag – wenn man auch nur ein g'meiner Gerber ist!«

Und zog sich grollend zurück, um jahrelang wieder zu schweigen.

Der Vorsteher erklärte: »Mander! Der Gerber hat recht! Wir bleiben beim Gerber!«

Der Metzger, ein Mann der Tat, schnitt sich im nächsten Haselbusch unauffällig ein Stöckchen zurecht und verbarg es in seinem hohen Röhrenstiefel. Dann trat er auf den Hansl zu!

»Bübl, wieviel Schritt?« fragte er kniffig-freundlich.

Je länger der Hansl nachdachte, um so mehr wurmte ihn die Schäbigkeit des Metzgers, der ihm die sechs Schritte rechts nur mittels Kupfer ins Gedächtnis löten wollte. Das wollte ihm der Hansl nur zu verstehen geben: »Drei Schritt links von der Krotenlack'n, das vergiß ich in hundert Jahren nit! Aber da rechts« – meinte er sehr gedehnt und rümpfte die Nase – »hm ... da fehlt mir noch was!«

Und erhoffte sich nun die rückständigen Zwanziger.

Statt dessen packte ihn der Metzger derb an und führte ihn wie »einen jungen Hund, der etwas angestellt hat«, schrittweise vom Markstein zur Krotenlack'n. Nach jedem Schritt blieb er stehen und zog dem verblüfften Hansl mit dem Stöckchen eins über das Leder.

»Bübl! Merkst d' dir's?«

Der Hansl schrie, als stecke er am Spieß: »Au weh, i merk's schon ... i merk's in alle Ewigkeit! Drei Schritt links von der Krotenlack'n – sechs Schritt rechts vom Guggenbüchel –«

Aber die Sache dünkte nun einmal dem Metzger viel zu wichtig für Kind und Kindeskinder. Und so ging er ohne Besinnen mit dem Hansl auch den Passionsweg vom Markstein zum Guggenbüchel zurück und gab bei jedem Schritt mit vollen Händen; versicherte aber immerfort: »Bübl! Mach' dir nichts draus! Es ist ja ein Ehrenposten. Geschieht nur weg'n der Gedächtnusstärkung!«

Der Hansl schrie: »I bedank' mich für die Ehr'!«

Der Metzger fuhr aber fort, in Hansls Gehirn unlösbare Erinnerungsknoten zu schürzen.

Wir freuten uns über die Knoten alle sehr – der Schullehrer mit inbegriffen – und gönnten es dem Hansl von ganzem Herzen.

Der Metzger versorgte nicht eher wieder die Gerte in seinem Stiefel, bis er fest überzeugt war, die Lage des Grenzsteines sei nun, wenn auch auf Umwegen, dem Hansl auf Lebzeiten in das Gedächtnis eingebleut.

Der Vorsteher und die Räte gingen nun zufrieden heim und sahen frohen Blicks in die Zukunft: »Jetz' wird der Hansl wohl mit Gottes Hilf', wenn's einmal not tun sollt', für die Nachfahren ein brauchbarer, verläßlicher Marksteinzeuge sein!«


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