Arthur Schnitzler
Der Weg ins Freie
Arthur Schnitzler

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Im Foyer traf er Skelton. »Also wieder zurückgekehrt?« fragte dieser.

»Nur auf ein paar Tage«, erwiderte Georg. Es stellte sich heraus, daß Skelton nicht recht gewußt hatte, was mit Georg vorging und ihn auf einer Art musikalischer Studienreise durch deutsche Städte geglaubt hatte. Nun war er ziemlich erstaunt zu hören, daß Georg sich auf Urlaub hier befände und sich die Neuinszenierung des »Tristan« sozusagen im Auftrag des Intendanten angesehen hätte.

»Ist es Ihnen recht?« sagte Skelton, »ich bin verabredet mit Breitner; im Imperial, weißer Saal.«

»Famos«, erwiderte Georg, »ich wohne dort.«

Doktor von Breitner rauchte schon eine seiner berühmten Riesenzigarren, als die beiden Herren an seinem Tisch erschienen. »Was für eine Überraschung«, rief er aus, als Georg ihn begrüßte. Ihm war es bekannt, daß Georg als Kapellmeister in Düsseldorf wirkte.

»Detmold«, sagte Georg, und er dachte: Sonderlich viel beschäftigen sich die Leute hier ja nicht mit mir... Aber was tut's.

Skelton erzählte von der Tristanvorstellung, und Georg erwähnte, daß er Ehrenbergs gesprochen hatte.

»Wissen Sie, daß Oskar Ehrenberg sich auf dem Weg nach Indien oder Ceylon befindet?« fragte Doktor von Breitner.

»So?«

»Und was glauben Sie mit wem?«

»Wohl in weiblicher Gesellschaft.«

»Ja, das natürlich, ich höre sogar, sie haben fünf oder sieben Weiber mit.«

»Wer – sie?«

»Oskar Ehrenberg... und – raten Sie einmal... Na, der Prinz von Guastalla.«

»Nicht möglich!«

»Komisch was? Sie haben sich heuer in Ostende oder in Spa sehr angefreundet. ›Cherchez‹... und so weiter. Wie es nämlich Frauenzimmer gibt, derentwegen man sich schlägt, so scheint es wieder andre zu geben, über die man sich gleichsam die Hände reicht. Sie haben nun gemeinschaftlich Europa verlassen. Vielleicht gründen sie ein Königreich auf irgend einer Insel, und Oskar Ehrenberg wird Minister.«

Willy Eißler war erschienen, blaßgelb im Gesicht, übernächtig und heiser. »Grüß Sie Gott Baron, verzeihen Sie, daß ich nicht paff bin, aber ich habe schon gehört, daß Sie da sind. Irgendwer hat Sie in der Kärtnerstraße gesehen.«

Georg bat Willy, seinem Vater vom Grafen Malnitz Grüße zu bestellen – er selbst hätte diesmal leider keine Zeit, den alten Herrn aufzusuchen, dem er – wie er mit bescheidner Koketterie bemerkte – seine Stellung in Detmold verdanke.

»Was Ihre Zukunft anbelangt, lieber Baron«, sagte Willy, »hab ich mir nie Sorgen gemacht, besonders seit ich im vorigen Jahr – oder ist es schon länger her? – Ihre Lieder von der Bellini hab singen hören. Aber daß Sie sich entschlossen haben Wien zu verlassen, das war eine gute Idee von Ihnen. Hier hätte man Sie jedenfalls noch einige Jahrzehnte lang für einen Dilettanten gehalten. Das ist schon einmal nicht anders in Wien. Ich kenne das. Wenn die Leute wissen, daß einer aus guter Familie ist, nebstbei Sinn für schöne Krawatten, gute Zigaretten und verschiedene andre Annehmlichkeiten des Daseins hat, so glauben sie ihm die Künstlerschaft nicht. Ohne ein Zeugnis von draußen werden Sie hier nicht ernst genommen... also bringen Sie nur bald einige glänzende mit, Baron.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Georg.

»Haben die Herren übrigens schon das Neueste gehört«, begann Willy wieder. »Leo Golowski, wissen Sie, der Einjährige, der den Oberleutnant Sefranek erschossen hat, ist frei.«

»Aus der Untersuchungshaft entlassen?« fragte Georg.

»Nein, ganz frei ist er. Sein Advokat hat ein Abolitionsgesuch an den Kaiser eingereicht, das ist heute günstig erledigt worden.«

»Unglaublich«, rief Breitner.

»Warum wundern Sie sich denn so, Breitner?« meinte Willy. »Es kann doch auch einmal etwas Vernünftiges geschehen in Österreich.«

»Duell ist nie vernünftig«, sagte Skelton, »und daher kann auch eine Begnadigung wegen Duells nicht vernünftig sein.«

»Duell, lieber Skelton, ist entweder etwas viel Schlimmeres oder viel Besseres als vernünftig«, erwiderte Willy. »Entweder ein ungeheuerlicher Blödsinn oder eine unerbittliche Notwendigkeit. Entweder ein Verbrechen oder eine erlösende Tat. Vernünftig ist es nicht und braucht es nicht zu sein. In Ausnahmefällen kann man mit der Vernunft überhaupt nichts anfangen. Und daß in einem Fall, wie der, von dem wir grad sprechen, das Duell unvermeidlich war, das werden auch Sie zugeben, Skelton.«

»Absolut«, sagte Breitner.

»Ich kann mir ein Staatswesen denken«, bemerkte Skelton, »in dem selbst Differenzen solcher Art vor Gericht ausgeglichen würden.«

»Solche Differenzen vor Gericht! O fröhlich!... Glauben Sie wirklich, Skelton, daß in einem Fall, wo es sich nicht um Besitz- und Rechtsfragen handelt, sondern wo sich Menschen mit einem ungeheuern Haß gegenüberstehen, glauben Sie wirklich, daß da mit Geld- oder Arreststrafen ein Ausgleich geschaffen werden könnte? Es hat schon seinen tiefen Sinn, meine Herren, daß Duellverweigerung in solchen Fällen bei allen Leuten, die Temperament, Ehre und Aufrichtigkeit in sich haben, stets als Feigheit gelten wird. Bei den Juden wenigstens«, setzte er hinzu. »Denn bei den Katholiken ist es bekanntlich immer nur die Frömmigkeit, die sie abhält sich zu schlagen.«

»Kommt sicher vor«, sagte Breitner schlicht.

Georg wünschte zu wissen, wie sich die Sache zwischen Leo Golowski und dem Oberleutnant abgespielt hätte.

»Ja richtig«, sagte Willy, »Sie sind ja ein Zugereister. Also der Oberleutnant hat das ganze Jahr hindurch diesen Leo Golowski erheblich kuranzt und zwar...«

»Die Vorgeschichte kenn ich«, unterbrach Georg, »zum Teil aus direkter Quelle.«

»Ach so. Also am ersten Oktober war die Vorgeschichte, um bei diesem Ausdruck zu bleiben, zu Ende; das heißt, Leo Golowski hat das Freiwilligenjahr hinter sich gehabt. Und am zweiten in der Früh hat er sich vor die Kaserne hingestellt und ruhig gewartet, bis der Oberleutnant aus dem Tor gekommen ist. In diesem Moment ist er auf ihn zugetreten, der Oberleutnant greift nach seinem Säbel, Leo Golowski packt ihn aber bei der Hand, läßt sie nicht aus, hält ihm die andere Faust vor die Stirn – und damit war das Weitere so ziemlich gegeben. Übrigens wird auch erzählt, daß Leo dem Oberleutnant folgende Worte ins Gesicht geschleudert haben soll... ich weiß nicht recht, ob's wahr ist.«

»Welche Worte?« fragte Georg neugierig.

»Gestern, Herr Oberleutnant, sind Sie mehr gewesen als ich, jetzt sind wir vorläufig einmal gleich – aber morgen um die Zeit wird wieder einer von uns mehr sein, als der andere.«

»Etwas talmudisch«, bemerkte Breitner.

»Das müssen Sie freilich am besten beurteilen können, Breitner«, erwiderte Willy und erzählte weiter: »Also am nächsten Morgen in den Auen bei der Donau war das Duell. Dreimaliger Kugelwechsel. Zwanzig Schritte ohne Avance. Wenn resultatlos, Säbel bis zur Kampfunfähigkeit... Die ersten Schüsse hüben und drüben fehlen, und nach dem zweiten... nach dem zweiten ist der Golowski richtig bedeutend mehr gewesen als der Oberleutnant – denn der war nichts, weniger als nichts; ein toter Mann.«

»Armer Teufel«, sagte Breitner.

Willy zuckte die Achseln. »Es ist halt einmal einer an den Unrechten gekommen. Mir tut er auch leid. Aber man muß doch sagen, es stände manches anders in Österreich, wenn alle Juden entsprechenden Falls sich so zu benehmen wüßten wie der Leo Golowski. Leider...«

Skelton lächelte. »Sie wissen Willy, vor mir darf man nichts gegen die Juden sagen, ich liebe sie. Und es täte mir leid, wenn man sich entscheiden wollte die Judenfrage durch eine Reihe von Zweikämpfen zu lösen, denn dann würde am Ende von dieser vortrefflichen Rasse kein einziges männliches Exemplar übrigbleiben.«

Am Ende des Gesprächs mußte Skelton zugeben, daß das Duell in Österreich vorläufig nicht abzuschaffen wäre. Aber er erlaubte sich die Frage, ob das gerade für das Duell und nicht vielmehr gegen Österreich spräche, da doch manche andere Länder, er wollte aus Bescheidenheit keines nennen, seit Jahrzehnten den Zweikampf nicht mehr kennten. Und ob er zu weit gehe, wenn er sich gestatte, Österreich, in dem er sich übrigens seit sechs Jahren wahrhaft zu Hause fühle, als das Land der sozialen Unaufrichtigkeiten zu bezeichnen. Hier wie nirgends anderswo gebe es wüsten Streit ohne Spur von Haß und eine Art von zärtlicher Liebe, ohne das Bedürfnis der Treue. Zwischen politischen Gegnern existierten oder entwickelten sich lächerliche persönliche Sympathien; Parteifreunde hingegen beschimpften, verleumdeten, verrieten einander. Nur bei wenigen fände man ausgesprochene Ansichten über Dinge oder Menschen, jedenfalls seien auch diese wenigen allzuschnell bereit, Einschränkungen zu machen, Ausnahmen gelten zu lassen. Man habe hier beim politischen Kampf geradezu den Eindruck, wie wenn die scheinbar erbittertsten Gegner, während die bösesten Worte hinüber und herüberflögen, einander mit den Augen zuzwinkerten: »Es ist nicht so schlimm gemeint.«

»Was glauben Sie, Skelton«, fragte Willy, »zwinkern sie auch, wenn die Kugeln hin und herfliegen?«

»Sie täten's wohl, Willy, wenn nicht der Tod hinter ihnen stünde. Aber dieser Umstand beeinflußt nicht die Gesinnung, sondern nur die Haltung, denk ich mir.«

Sie saßen noch lange Zeit zusammen und plauderten fort. Georg hörte allerlei Neuigkeiten. Er erfuhr unter anderm, daß Demeter Stanzides den Kauf des Gutes an der ungarisch-kroatischen Grenze abgeschlossen habe, und daß die Rattenmamsell einem freudigen Ereignis entgegensehe. Willy Eißler war gespannt auf das Ergebnis dieser Rassenkreuzung und vergnügte sich indes damit, Namen für das zu erwartende Kind zu erfinden, wie Israel Pius oder Rebekka Portiunkula.

Später begab sich die ganze Gesellschaft ins benachbarte Kaffeehaus, Georg spielte mit Breitner eine Partie Billard; dann ging er auf sein Zimmer. Im Bett notierte er sich eine Stundeneinteilung für den nächsten Tag und sank endlich in einen Schlaf, der tief und köstlich wurde.

Am Morgen mit dem Tee brachte man ihm die abends vorher bestellte Zeitung und ein Telegramm. Der Intendant bat ihn über einen Sänger zu berichten. Es war zur Befriedigung Georgs derjenige, den er gestern als Kurwenal gehört hatte. Ferner wurde ihm freigestellt »zur bequemen Ordnung seiner Angelegenheiten« drei Tage über den bedungenen Urlaub auszubleiben, da zufällig eine Änderung des Spielplans dies gestatte. Wirklich charmant, dachte Georg. Es fiel ihm ein, daß er seine eigene Absicht, um Verlängerung des Urlaubs zu depeschieren, vollkommen vergessen hatte. Nun hab ich ja noch mehr Zeit für Anna, als ich geglaubt hätte, dachte er. Man könnte vielleicht ins Gebirge. Die Herbsttage sind schön und mild. Auch wäre man jetzt überall ziemlich allein und ungestört. Aber, wenn wieder ein Malheur passiert! Ein – Malheur – passiert! – So und nicht anders waren ihm die Worte durch den Sinn geflogen. Er biß sich auf die Lippen. So stellte sich die Sache mit einem Male für ihn dar? Ein Malheur... Wo war die Zeit, da er, mit Stolz beinahe, sich als ein Glied in der endlosen Kette gefühlt hatte, die von Urahnen zu Urenkeln ging? Und ein paar Augenblicke lang erschien er sich wie ein Herabgekommener der Liebe, etwas bedenklich und bedauernswert.

Er durchflog die Zeitung. Durch einen kaiserlichen Gnadenakt war die Untersuchung gegen Leo Golowski eingestellt, gestern Abend war er aus der Haft entlassen worden. Georg freute sich sehr und beschloß Leo noch heute zu besuchen. Dann setzte er ein Telegramm an den Grafen auf und berichtete mit vornehmer Ausführlichkeit über die gestrige Aufführung. Als er auf die Straße trat, war es beinahe elf Uhr geworden. Die Luft war herbstlich kühl und klar. Georg fühlte sich ausgeschlafen, frisch und wohlgelaunt. Der Tag lag hoffnungsreich vor ihm und versprach allerlei Anregung. Nur irgend etwas störte ihn, ohne daß er gleich wußte, was es wäre. Ach ja,... der Besuch in der Paulanergasse, die trübseligen Räume, der kranke Vater, die verletzte Mutter. Ich werde Anna einfach abholen, dachte er, mit ihr spazieren gehen und irgendwo mit ihr soupieren. Er kam an einem Blumenladen vorbei, kaufte wundervolle dunkelrote Rosen, und mit einer Karte, auf die er schrieb: »Tausend Morgengrüße, auf Wiedersehen«, ließ er sie an Anna senden. Als er dies getan hatte, war ihm leichter. Dann begab er sich durch die Straßen der innern Stadt zu dem alten Hause, in dem Nürnberger wohnte. Er stieg die fünf Stockwerke hinauf. Eine huschelige, alte Magd mit dunklem Kopftuch öffnete und ließ ihn in das Zimmer ihres Herrn treten. Nürnberger stand am Fenster mit leicht gesenktem Kopf, in dem braunen, hochgeschlossenen Sacco, das er daheim zu tragen liebte. Er war nicht allein. Von dem Schreibtisch aus einem alten Armstuhl erhob sich eben Heinrich, ein Manuskript in den Händen. Georg wurde herzlich empfangen.

»Sollte Ihr Eintreffen in Wien mit der Direktionskrise in der Oper im Zusammenhang stehen?« fragte Nürnberger. Er ließ diese Bemerkung nicht ohne weiteres als Spaß gelten. »Ich bitte Sie«, sagte er, »wenn kleine Jungen, die ihre Beziehungen zur deutschen Literatur bis vor kurzem nur durch den regelmäßigen Besuch eines Literatenkaffees zu dokumentieren in der Lage waren, als Dramaturgen an Berliner Bühnen berufen werden, so sähe ich keinen Anlaß zum Staunen, wenn der Baron Wergenthin, nach der immerhin mühevollen, sechswöchentlichen Kapellmeisterkarriere an einem deutschen Hoftheater, im Triumph an die Wiener Oper geholt würde.«

Georg stellte zur Steuer der Wahrheit fest, daß er nur einen kurzen Urlaub erhalten, um seine Wiener Angelegenheiten zu ordnen; und vergaß nicht zu erwähnen, daß er gestern die neue Tristaninszenierung gewissermaßen im Auftrag seiner Intendanz gesehen habe; doch lächelte er dazu mit Selbstironie. Dann gab er einen kurzen und ziemlich humoristischen Auszug seiner bisherigen Erlebnisse in der kleinen Residenz. Auch das Konzert bei Hof berührte er spöttisch, als sei er fern davon, seiner Stellung, seinen bisherigen Erfolgen, den Theaterdingen, ja dem Leben überhaupt besondere Wichtigkeit beizumessen. So wollte er vor allem seine Position Nürnberger gegenüber gesichert haben. Dann kam das Gespräch auf die Haftentlassung Leo Golowskis. Nürnberger freute sich dieses unverhofften Ausgangs, lehnte es jedoch ab, sich darüber zu wundern, da in der Welt und ganz besonders in Österreich bekanntlich stets das Unwahrscheinlichste zum Ereignis werde. Dem Gerücht von Oskar Ehrenbergs Yachtfahrt mit dem Prinzen, das Georg als neuen Beweis für die Richtigkeit von Nürnbergers Auffassung vorbrachte, wollte er anfangs trotzdem wenig Glauben schenken. Doch gab er am Ende die Möglichkeit zu, da ja seine Phantasie, wie er seit langem wußte, von der Wirklichkeit immer wieder übertroffen würde.

Heinrich sah auf die Uhr. Es war Zeit für ihn sich zu empfehlen.

»Hab ich die Herren nicht gestört?« fragte Georg. »Ich glaube, Sie haben was vorgelesen, Heinrich, als ich kam.«

»Ich war schon zu Ende«, erwiderte Heinrich.

»Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich«, sagte Nürnberger.

»Ich denke nicht daran«, erwiderte Heinrich lachend. »Wenn die zwei ersten Akte im Theater so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen, lieber Nürnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu Ende spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien entsetzt aus dem Parkett ins Freie gestürzt. Den Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich Ihnen.«

»Donnerwetter!« rief Georg aus.

»Sie übertreiben wieder einmal, Heinrich«, sagte Nürnberger. »Ich habe mir nur erlaubt, einige Einwendungen vorzubringen«, wandte er sich an Georg, »das ist alles. Aber er ist ein Autor!«

»Es kommt alles auf die Auffassung an«, sagte Heinrich. »Es ist schließlich auch nichts andres als eine Einwendung gegen das Leben eines Mitmenschen, wenn man ihm mit der Hacke den Schädel einschlägt, nur eine ziemlich wirksame.« Er deutete auf sein Manuskript und wandte sich zu Georg. »Wissen Sie, was das ist? Meine politische Tragikomödie. Kranzspenden dankend verbeten.«

Nürnberger lachte. »Ich versichre Sie, Heinrich, aus dem Sujet wäre noch immer was ganz Famoses zu machen. Sie könnten beinah die ganze Szenenführung beibehalten und eine Anzahl von Figuren. Sie müßten sich nur dazu entschließen, bei Wiederaufnahme Ihres Planes weniger gerecht zu sein.«

»Das ist aber doch eigentlich schön«, sagte Georg, »daß er gerecht ist.«

Nürnberger schüttelte den Kopf. »Überall mag man es sein – nur nicht im Drama.« Und sich wieder an Heinrich wendend: »In solch einem Stück, das eine Zeitfrage behandelt, oder gar mehrere, wie es Ihre Absicht war, werden Sie mit der Objektivität nie was erreichen. Das Publikum im Theater verlangt, daß die Themen, die der Dichter anschlägt, auch erledigt werden, oder daß wenigstens eine Täuschung dieser Art erweckt werde. Denn natürlich gibt's nie und nimmer eine wirkliche Erledigung. Und scheinbar erledigen kann eben nur einer, der den Mut oder die Einfalt oder das Temperament hat, Partei zu ergreifen. Sie werden schon darauf kommen, lieber Heinrich, daß es mit der Gerechtigkeit im Drama nicht geht.«

»Wissen Sie, Nürnberger«, sagte Heinrich, »es ging vielleicht auch mit der Gerechtigkeit. Ich glaub, ich hab nur nicht die richtige. In Wirklichkeit hab ich nämlich gar keine Lust gerecht zu sein. Ich stell mir's sogar wunderschön vor ungerecht zu sein. Ich glaube, es wäre die allergesündeste Seelengymnastik, die man nur treiben könnte. Es muß so wohl tun, die Menschen, deren Ansichten man bekämpft, auch wirklich hassen zu können. Es erspart einem gewiß sehr viel innere Kraft, die man viel besser auf den Kampf selbst verwenden dürfte. Ja, wenn man noch die Gerechtigkeit des Herzens hätte... Ich hab sie aber nur da«, und er deutete auf seine Stirn. »Ich stehe auch nicht über den Parteien, sondern ich bin gewissermaßen bei allen oder gegen alle. Ich hab nicht die göttliche Gerechtigkeit, sondern die dialektische. Und darum...«, er hielt sein Manuskript in die Höhe, »ist da auch so ein langweiliges und unfruchtbares Geschwätz herausgekommen.«

»Weh dem Manne«, sagte Nürnberger, »der sich erdreistete derartiges über Sie zu schreiben.«

»Na ja«, erwiderte Heinrich lächelnd. »Wenn's ein anderer sagt, kann man nie den leisen Verdacht unterdrücken, daß er recht haben könnte. Aber nun muß ich wirklich gehen. Grüß Sie Gott, Georg. Ich bedaure sehr, daß Sie mich gestern verfehlt haben. Wann reisen Sie denn wieder ab?«

»Morgen.«

»Aber man sieht Sie doch noch vor Ihrer Abreise? Ich bin heute den ganzen Nachmittag und Abend zu Hause, kommen Sie, wann es Ihnen paßt. Sie werden einen Menschen finden, der sich mit Entschlossenheit von den Zeitfragen ab und wieder den ewigen Problemen zugewandt hat: Tod und Liebe... Glauben Sie übrigens an den Tod, Nürnberger? Hinsichtlich der Liebe frag ich schon gar nicht.«

»Dieser für Ihre Verhältnisse doch etwas zu billige Witz«, sagte Nürnberger, »läßt mich vermuten, daß Sie sich durch meine Kritik, trotz Ihrer sehr würdigen Haltung...«

»Nein, Nürnberger, ich schwöre Ihnen, ich bin nicht verletzt. Ich habe sogar eher ein angenehmes Gefühl, daß die Sache abgetan ist.«

»Abgetan? Warum denn? Es ist doch immerhin möglich, daß ich mich geirrt habe und daß gerade diesem Stück, das ich für minder gelungen halte, auf dem Theater ein Erfolg beschieden wäre, der Sie zum Millionär machen kann. Ich wäre trostlos, wenn durch meine vielleicht ganz unmaßgebliche Kritik...«

»Gewiß, gewiß, Nürnberger, das müssen wir nun schon einmal alle und in jedem einzelnen Fall auf uns nehmen, daß wir uns geirrt haben können. Und nächstens schreib ich doch wieder ein Stück und zwar mit folgendem Titel: Mir macht niemand was weiß und ich mir selber erst recht nicht... und Sie, Nürnberger, werden der Held sein.«

Nürnberger lächelte. »Ich? Das heißt, Sie werden einen Menschen hernehmen, den zu kennen Sie sich einbilden, werden diejenigen Seiten seines Wesens zu schildern versuchen, die Ihnen gerade in den Kram passen – andre unterschlagen, mit denen Sie nichts anfangen können, und am Ende...«

»Am Ende«, unterbrach ihn Heinrich, »wird es ein Porträt sein, aufgenommen von einem irrsinnigen Photographen durch einen verdorbenen Apparat, während eines Erdbebens und bei Sonnenfinsternis. Einverstanden oder fehlt noch was?«

»Die Charakteristik dürfte erschöpfend sein«, sagte Nürnberger.

Heinrich nahm Abschied in überlauter Lustigkeit und entfernte sich mit seinem zusammengerollten Manuskript.

Als er fort war, bemerkte Georg: »Seine Laune kommt mir doch ein bißchen gekünstelt vor.«

»Finden Sie? Ich hab ihn in der letzten Zeit immer auffallend gut gestimmt gefunden.«

»Wirklich gut gestimmt? Glauben Sie das ernstlich? Nach dem, was er erlebt hat?«

»Warum nicht? Menschen, die sich so viel, fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigen wie er, verwinden ja seelische Schmerzen überraschend schnell. Auf solchen Naturen, und wohl nicht nur auf solchen, lastet das geringfügigste physische Unbehagen viel drückender, als jede Art von Herzenspein, selbst Untreue und Tod geliebter Personen. Es rührt wohl daher, daß jeder Seelenschmerz irgendwie unserer Eitelkeit schmeichelt, was man von einem Typhus oder einem Magenkatarrh nicht behaupten kann. Und beim Künstler kommt vielleicht dazu, daß aus einem Magenkatarrh absolut nichts zu holen ist... wenigstens vor kurzem stand das noch ziemlich fest... aus Seelenschmerzen hingegen alles, was man nur will, vom lyrischen Gedichte bis zu philosophischen Werken.«

»Es gibt doch wohl Seelenschmerzen recht verschiedener Art«, erwiderte Georg. »Und es ist doch noch etwas anderes, wenn uns eine Geliebte betrügt oder verläßt... und selbst wenn sie eines natürlichen Todes stirbt, als wenn sie sich unseretwegen umbringt.«

»Sie wissen ganz bestimmt?« fragte Nürnberger, »daß Heinrichs Geliebte sich seinetwegen umgebracht hat?«

»Hat Ihnen denn Heinrich nicht erzählt...?«

»Allerdings. Aber das beweist nicht viel. In Hinsicht auf Dinge, die uns selber angehen, sind wir immer Tröpfe, auch die Klügsten unter uns.«

Solche Bemerkungen aus Nürnbergers Munde hatten für Georg etwas seltsam Beunruhigendes. Sie gehörten in die Reihe jener, die Nürnberger nicht ungern vernehmen ließ und die, wie Heinrich sich einmal ausgedrückt hatte, den Sinn jedes menschlichen Verkehrs, ja aller menschlichen Beziehungen geradezu aufhoben.

Nürnberger sprach weiter: »Wir kennen nur zwei Tatsachen. Die eine, daß unser Freund einmal mit einer jungen Dame ein Verhältnis gehabt und die andere, daß diese junge Dame sich ins Wasser gestürzt hat. Von allem, was dazwischen liegt, ist uns beiden so gut wie nichts und Heinrich wahrscheinlich nicht viel mehr bekannt. Warum sie sich umgebracht hat, können wir alle nicht wissen, und vielleicht hat die Arme selbst es auch nicht gewußt.«

Georg sah durchs Fenster, erblickte Dächer, Schornsteine, verwitterte Röhren und ziemlich nah den hellgrauen Turm mit der durchbrochenen Steinkuppel. Der Himmel darüber war blaß und leer. Es fiel Georg plötzlich auf, daß Nürnberger noch mit keinem Wort nach Anna gefragt hatte. Was mochte er wohl vermuten? Am Ende, daß Georg sie verlassen und sie sich schon mit einem andern Liebhaber getröstet hätte? Warum bin ich nach Wien gefahren, dachte er flüchtig, – wie wenn seine Reise keinen andern Zweck gehabt hätte, als sich von Nürnberger Aufschlüsse über das Dasein erteilen zu lassen, die nun schlimm genug ausgefallen waren. Es schlug zwölf. Georg nahm Abschied. Nürnberger begleitete ihn bis an die Tür und dankte ihm für den Besuch. Mit Herzlichkeit, als hätte das frühere Gespräch über Georgs neuen Aufenthaltsort überhaupt keine Geltung zu beanspruchen, erkundigte er sich nach der Beschäftigung, den Arbeiten, den neuen Bekannten Georgs und erfuhr jetzt erst, welchem Zufall Georg seine plötzliche Berufung nach der kleinen Stadt zu verdanken hatte.

»Das ist's ja, was ich immer sage«, bemerkte er dann, »nicht wir sind's, die unser Schicksal machen, sondern meist besorgt das irgendein Umstand außer uns, auf den wir keinerlei Einfluß zu nehmen in der Lage waren, ja den wir nicht einmal in den Kreis unserer Berechnungen einbeziehen konnten. Ist es schließlich... bei aller Schätzung Ihres Talents darf ich es wohl sagen – ist es Ihr Verdienst oder das des alten Eißler, von dessen Verwendung in Ihrer Sache Sie mir einmal erzählt haben, daß Sie telegraphisch nach Detmold beschieden wurden und dort so rasch Ihren Wirkungskreis gefunden haben? Nein. Ein Unschuldiger, Ihnen Unbekannter mußte eines plötzlichen Todes sterben, damit Sie dort den Platz frei finden durften. Und welche andern Dinge, auf die Sie gleichfalls keinen Einfluß nehmen und die Sie nicht vorhersehen konnten, mußten eintreten, um Sie von Wien leichten Herzens, ja um Sie überhaupt von hier scheiden zu lassen?!«

»Wieso leichten Herzens?« fragte Georg befremdet.

»Leichteren Herzens, als unter andern Umständen, mein ich. Wenn das kleine Geschöpf am Leben geblieben wäre, wer weiß ob Sie...«

»Sie können überzeugt sein, auch dann wär ich fortgefahren. Und Anna hätte es geradeso natürlich gefunden, wie sie es jetzt findet. Glauben Sie das nicht? Vielleicht wär ich sogar leichtern Herzens abgereist, wenn jene Sache anders ausgegangen wäre. Anna war es ja, die mir zugeredet hat anzunehmen. Ich war durchaus nicht entschlossen. Sie ahnen gar nicht, was für ein gutes und kluges Wesen Anna ist.«

»O ich zweifle nicht daran. Nach allem, was Sie mir gelegentlich von ihr erzählt haben, hat sie sich ja anscheinend auch in ihre Situation mit mehr Würde gefunden, als junge Damen aus ihren Kreisen bei solchen Gelegenheiten sonst aufzubringen pflegen.«

»Lieber Herr Nürnberger, die Situation war ja nicht so furchtbar.«

»Ach, sagen Sie das nicht. Wenn sie auch durch Ihre Noblesse und Rücksichtnahme sehr gemildert war, seien Sie überzeugt, das Fräulein hat gewiß öfter in dieser Zeit das Unregelmäßige in ihrer Situation empfunden. Es gibt wohl kein weibliches Wesen, und dächte es noch so kühn und überlegen, das in einem solchen Fall nicht lieber den Ring am Finger trüge. Und es spricht eben wieder für die kluge und vornehme Gesinnung Ihrer Freundin, daß sie Sie das niemals hat merken lassen und daß sie auch die bittre Enttäuschung am Ende dieser gewiß nicht ausschließlich süßen neun Monate mit Fassung und Ruhe hingenommen hat.«

»Enttäuschung ist ein mildes Wort. Schmerzen wäre vielleicht das richtigere.«

»Es war wohl beides. Doch wie meistens wird wohl auch hier die brennende Wunde des Schmerzes schneller verheilt sein, als die quälende, bohrende der Enttäuschung.«

»Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Nun daran, lieber Georg, werden Sie doch nicht zweifeln, daß Sie sehr bald, am Ende schon heute, verheiratet wären, wenn das kleine Wesen am Leben geblieben wäre.«

»Und Sie glauben, daß jetzt, weil wir kein Kind haben... ja Sie scheinen der Ansicht zu sein, daß... daß... es überhaupt aus ist? Sie sind vollkommen im Irrtum, aber vollkommen, lieber Freund.«

»Lieber Georg«, erwiderte Nürnberger, »wir wollen lieber beide von der Zukunft nicht reden. Weder Sie noch ich wissen es, wo in diesem Augenblick ein Faden zu unserm Schicksal gesponnen wird. Sie haben auch in dem Augenblick, als jener Kapellmeister vom Schlag gerührt wurde, nicht das geringste verspürt. Und wenn ich Ihnen jetzt Glück wünsche zu Ihrer weiteren Laufbahn, so weiß ich nicht, auf wen ich mit diesem Glückwunsch vielleicht den Tod herabgefleht habe.«

Auf dem Flur nahmen sie Abschied. Auf die Stiege rief Nürnberger Georg nach: »Lassen Sie gelegentlich was von sich hören.«

Georg wandte sich noch einmal um: »Und Sie, tun Sie desgleichen!...« Er sah nur noch die abwehrend-resignierte Handbewegung Nürnbergers, lächelte unwillkürlich und eilte hinab. An der nächsten Ecke nahm er einen Wagen. Auf dem Weg zu Golowskis dachte er über Nürnberger und Bermann nach. Was für ein seltsames Verhältnis das zwischen ihnen war! Vor Georg erschien ein Bild, das er ähnlich irgend einmal in einem Traum gesehen zu haben glaubte. Die zwei saßen sich gegenüber; jeder hielt dem andern einen Spiegel vor, darin sah der andere sich selbst mit einem Spiegel in der Hand, und in dem Spiegel wieder den andern mit dem Spiegel in der Hand und so fort in die Unendlichkeit. Kannte da einer noch den andern, kannte einer noch sich selbst? Georg wurde schwindlig zumute. Dann dachte er an Anna. Sollte Nürnberger wieder einmal recht behalten? War es denn wirklich aus? Konnte es überhaupt jemals enden? Jemals?... Das Leben ist lang! Aber waren schon die nächsten Monate bedenklich? Micaela vielleicht... Nein. Das war nicht schwer zu nehmen, wie immer es kommen sollte. Und zu Ostern war er ja wieder in Wien, dann kam der Sommer; man blieb zusammen. Und dann? Ja was dann? Vermählung? Herrn Rosners und Frau Rosners Schwiegersohn, Josefs Schwager! Ach, was ging ihn die Familie an. Anna war es doch, die seine Frau sein würde, das gütige, sanfte, kluge Wesen.

Der Wagen hielt vor einem ziemlich neuen, häßlichen, gelb angestrichenen Haus, in einer breiten, einförmigen Gasse. Georg hieß den Kutscher warten und trat ins Tor. Im Innern sah das Haus recht verwahrlost aus; Mörtel war an vielen Stellen von den Mauern abgebröckelt, und die Stiegen waren schmutzig. Aus einigen Küchenfenstern roch es nach schlechtem Fett. Auf dem Gang im ersten Stock unterhielten sich zwei dicke Jüdinnen in einem für Georg unerträglichen Jargon, und die eine sagte zu einem Buben, den sie an der Hand hielt: »Moritz, laß den Herrn vorbei.« Warum sagt sie das, dachte Georg. Es ist ja Platz genug. Offenbar will sie sich mit mir verhalten. Als wenn ich ihr schaden oder nützen könnte. Und ein Wort Heinrichs aus einem verflossenen Gespräch fiel ihm ein: »Feindesland«.

Ein Dienstmädchen ließ ihn in ein Zimmer treten, das er sofort als das Leos erkannte. Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch, das Klavier offen, auf dem Divan eine geöffnete Reisetasche, die noch nicht ganz ausgepackt war. In der nächsten Minute öffnete sich die Tür; Leo trat herein, umarmte den Gast und küßte ihn so rasch auf beide Wangen, daß der so herzlich Begrüßte gar nicht dazu kam, verlegen zu werden. »Das ist lieb von Ihnen«, sagte Leo und schüttelte ihm beide Hände.

»Sie können sich gar nicht denken, wie ich mich gefreut habe...«, begann Georg.

»Ich glaub's Ihnen... aber bitte kommen Sie mit mir weiter, wir sind nämlich noch beim Essen – aber gleich fertig.«

Er führte ihn ins Nebenzimmer. Die Familie war um den Tisch versammelt. »Ich glaube, meinen Vater kennen Sie noch nicht«, bemerkte Leo und stellte die beiden einander vor. Der alte Golowski stand auf, legte die Serviette fort, die er um den Hals gebunden hatte, und reichte Georg die Hand.

Dieser wunderte sich, daß der alte Mann vollkommen anders aussah, als er sich ihn vorgestellt hatte; nicht patriarchalisch, graubärtig und ehrwürdig, sondern glattrasiert und mit breit verschlagenen Mienen glich er am ehesten einem alternden Provinzkomiker. »Ich freu mich sehr, Herr Baron, Sie kennen zu lernen«, sagte er, und in seinen listigen Augen stand zu lesen: »Ich weiß doch alles.«

Therese stellte hastig die üblichen Fragen an Georg, wann er gekommen wäre, wie lange er bliebe, wie es ihm ginge; er antwortete geduldig und liebenswürdig, und sie sah ihm neugierig-lebhaft ins Gesicht. Dann fragte er Leo nach dessen Absichten für die nächste Zeit.

»Vor allem werd ich fleißig Klavier spielen müssen, um mich vor meinen Schülern nicht zu blamieren. Die Leute sind ja sehr nett gegen mich gewesen. Bücher hab ich gehabt, soviel ich wollte. Aber ein Klavier haben sie mir doch nicht zur Verfügung gestellt.« Er wandte sich an Therese: »Das solltest du in einer deiner nächsten Reden unbedingt geißeln. Diese schlechte Behandlung der Untersuchungshäftlinge muß abgestellt werden.«

»Gestern um die Zeit«, sagte der alte Golowski, »war ihm wirklich noch nicht zum Lachen.«

»Wenn du vielleicht glaubst«, meinte Therese, »daß der Glücksfall, der dir begegnet ist, meine Ansichten ändern wird, so irrst du dich gewaltig. Im Gegenteil.« Und zu Georg gewandt fuhr sie fort: »Theoretisch bin ich nämlich absolut dagegen, daß sie ihn herausgelassen haben.« Sie sprach wieder zu Leo hin: »Wenn du den Kerl, wie es ja dein gutes Recht gewesen wäre, einfach totgeschlagen hättest, ohne diese ekelhafte Duellkomödie, wärst du nie frei geworden, säßest deine fünf bis zehn Jahre ab, heilig. Weil du dich aber auf dieses grauenvolle, vom Staat konzessionierte Hazardspiel um Leben und Tod eingelassen, weil du dich also vor der militärischen Weltanschauung geduckt hast, bist du begnadigt worden. Hab ich nicht recht?« wandte sie sich wieder an Georg.

Der nickte nur und dachte an den armen jungen Menschen, den Leo erschossen und der eigentlich gar nichts anderes gegen die Juden gehabt hatte, als daß sie ihm so zuwider gewesen waren, wie schließlich den meisten Menschen – und dessen Schuld im Grunde nur darin bestanden hatte, daß er an den Unrechten gekommen war. Leo strich seiner Schwester übers Haar und sagte: »Siehst du, wenn du das, was du hier in diesen vier Wänden gesagt hast, nächstens öffentlich aussprächest, dann würdest du mir imponieren.«

»Na und du mir«, erwiderte Therese, »wenn du dir morgen samt dem alten Ehrenberg ein Billett nach Jerusalem löstest.«

Sie standen vom Tisch auf. Leo lud Georg ein, mit ihm in sein Zimmer zu kommen.

»Stör' ich euch?« fragte Therese. »Ich möcht nämlich auch was von ihm haben.«

Sie saßen alle drei in Leos Zimmer und plauderten. Leo schien sich der wiedergewonnenen Freiheit unbedenklich und reuelos zu freuen, was Georg sonderbar berührte. Therese saß auf dem Divan, in einem dunkeln anliegenden Kleid und sah heute zum erstenmal wieder der jungen Dame ähnlich, die in Lugano als die Geliebte eines Kavallerieoffiziers unter einer Platane Asti getrunken und nachher einen anderen geküßt hatte. Sie bat Georg Klavier zu spielen. Noch nie hatte sie ihn gehört. Er setzte sich hin, spielte einiges aus Tristan und phantasierte dann mit glücklicher Eingebung. Leo sprach seine Anerkennung aus.

»Wie schade, daß er nicht dableibt«, sagte Therese und kreuzte, an der Wand lehnend, die Hände über ihrer hohen Frisur.

»Zu Ostern komm ich wieder«, erwiderte Georg und sah sie an.

»Aber doch nur, um wieder zu verschwinden«, sagte Therese.

»Das wohl«, entgegnete Georg, und es fiel ihm plötzlich auf die Seele, daß hier nicht mehr seine Heimat war, daß er nun überhaupt keine mehr hatte, für lange Zeit.

»Wie wär's«, sagte Leo, »wenn wir im Sommer eine gemeinsame Wanderung unternähmen? Sie, Bermann und ich. Ich verspreche Ihnen, daß wir Sie nicht durch theoretische Gespräche langweilen werden, wie im vorigen Herbst einmal... erinnern Sie sich noch?«

»Ach«, sagte Therese und reckte sich, »es kommt so wie so nichts dabei heraus. Taten! meine Herren!«

»Und was kommt bei Taten heraus?« fragte Leo. »Sie sind höchstens Privaterlösungen für den Moment.«

»Ja, Taten, die man für sich selbst begeht«, sagte Therese. »Nur was man fähig ist, für die andern zu leisten, ohne Rachsucht, ohne Eitelkeit persönlicher Natur, namenlos womöglich, nur das nenn ich eine Tat.«

Georg mußte endlich fort. Was hatte er noch alles zu besorgen!

»Ich begleite Sie ein Stück«, sagte Therese zu ihm.

Leo umarmte ihn noch einmal und sagte: »Es war wirklich schön von Ihnen.«

Therese verschwand, um Hut und Jacke zu holen. Georg begab sich ins Nebenzimmer; die alte Frau Golowski schien ihn erwartet zu haben. Mit einem sonderbar ängstlichen Gesicht trat sie auf ihn zu und gab ihm ein Kuvert in die Hand.

»Was ist das?«

»Der Schein, Herr Baron, ich habe ihn nicht der Anna geben wollen... es hätt sie vielleicht zu sehr aufgeregt.«

»Ach ja...« Er steckte das Kuvert ein und fand, daß es sich seltsamer anfühlte, als andre...

Therese erschien mit einem spanischen Hütchen, zum Fortgehen bereit. »Da bin ich. Auf Wiedersehen, Mama. Zum Nachtmahl komm ich nicht nach Haus.«

Sie ging mit Georg die Treppe hinab, sah ihn vergnügt von der Seite an.

»Wohin darf ich Sie führen?« fragte Georg.

»Nehmen Sie mich nur mit, irgendwo steig ich halt aus.« Sie stiegen ein, der Wagen fuhr davon. Sie fragte ihn um allerlei, worauf er schon in der Wohnung Antwort gegeben hatte, als nähme sie an, daß er jetzt, mit ihr allein, aufrichtiger sein müßte, als vor den andern. Sie erfuhr nichts anderes, als daß er sich in der neuen Umgebung wohl fühlte und daß seine Arbeit ihm Befriedigung gewährte. Ob sein Erscheinen eine große Überraschung für Anna bedeutet hätte? Nein, das nicht, er hatte sie ja verständigt. Und ob es denn wahr sei, daß er zu Ostern wiederkommen wollte? Es sei seine bestimmte Absicht...

Sie schien verwundert. »Wissen Sie, daß ich mir fest eingebildet hatte...«

»Was?«

»Man würde Sie niemals wiedersehen.«

Er erwiderte nichts, etwas betroffen. Dann fuhr es ihm durch den Sinn: Wär es nicht vernünftiger gewesen...? Er saß ganz nahe neben Therese, fühlte die Wärme ihres Körpers wie damals in Lugano. In welchem ihrer Träume mochte sie jetzt leben? In dem wirr-düstern der Menschheitsbeglückung, oder in dem heiter-leichten eines neuen Liebesabenteuers? Sie sah angelegentlich zum Fenster hinaus. Er nahm ihre Hand, die sie ihm nicht entzog, und führte sie an die Lippen. Plötzlich wandte sie sich zu ihm und sagte harmlos: »So, nun lassen Sie halten, hier steig ich am besten aus.«

Er ließ ihre Hand los und sah Therese an.

»Ja, lieber Georg, wohin geriete man«, sagte sie, »wenn man sich nicht...«, sie verzog spöttisch den Mund, »für die Menschheit zu opfern hätte. Wissen Sie, was ich mir manchmal denke...? Vielleicht ist das alles nur eine Flucht vor mir selbst.«

»Warum... warum fliehen Sie?«

»Leben Sie wohl, Georg.« Der Wagen hielt. Therese stieg aus, ein junger Mann blieb stehen, starrte sie an; sie verschwand in der Menge. Ich glaube nicht, daß sie auf dem Schafott enden wird, dachte Georg. Er fuhr in sein Hotel, aß zu Mittag, zündete sich eine Zigarette an, kleidete sich um und begab sich zu Ehrenbergs.

Im Speisezimmer, beim schwarzen Kaffee, mit den Damen des Hauses waren James, Sissy, Willy Eißler und Frau Oberberger anwesend. Georg nahm zwischen Else und Sissy Platz, trank ein Gläschen Benediktiner und beantwortete alle Fragen, die seinem neuen Wirken galten, geduldig und mit Humor. Bald begab man sich in den Salon, und nun saß er eine Weile im erhöhten Erker mit Frau Oberberger, die heute wieder ganz jung aussah und vor allem über Georgs persönliche Erlebnisse in Detmold näheres zu hören wünschte. Sie glaubte ihm nicht, daß er nicht mit sämtlichen Sängerinnen Verhältnisse angeknüpft hatte, wie ihr überhaupt das Theaterleben nur als Anlaß und Vorwand für galante Abenteuer zu gelten schien; jedenfalls bestand sie darauf, über Vorgänge hinter den Kulissen, in den Garderoben und in der Direktionskanzlei Ungeheuerlichkeiten zu vernehmen. Als Georg nicht umhin konnte, sie durch seine Berichte von der bürgerlich anständigen, beinahe philiströsen Lebensweise der Bühnenmitglieder und durch die Schilderung eines eigenen arbeitsvollen Daseins zu enttäuschen, begann sie sichtlich zu verfallen, und bald saß ihm eine gealterte Frau gegenüber, in der er dieselbe erkannte, die ihm im verflossenen Sommer zuerst in der Loge eines weiß-roten Theaterchens und später in einem nun fast vergessenen Traum erschienen war. Dann stand er mit Sissy neben der marmornen Isis, und während des harmlosen Plauderns suchte jeder in den Augen des andern die Erinnerung einer glühenden Stunde unter den tiefen Nachmittagsschatten eines dunkelgrünen Parks. Aber beiden schien sie heute wie in unzugängliche Tiefen versunken. Endlich saß er mit Else an dem kleinen Tischchen, auf dem Photographien und Bücher lagen. Auch sie stellte zuerst gleichgültige Fragen, wie alle andern.

Plötzlich aber, ganz unvermutet und etwas leiser fragte sie: »Wie geht's denn Ihrem Kind?«

»Meinem Kind...?« Er zögerte. »Sagen Sie mir, Else, warum fragen Sie mich eigentlich...? Es ist ja doch nur Neugier.«

»Sie irren sich, Georg«, erwiderte sie ruhig und ernst, »wie Sie sich ja meistens in mir geirrt haben. Sie halten mich für recht oberflächlich, oder weiß Gott was. Nun, es hat ja keinen Sinn, weiter darüber zu reden. Aber jedenfalls ist es nicht so ganz unbegreiflich, daß ich mich nach dem Kind erkundige. Ich möchte es gern einmal sehen.«

»Sie möchten es sehen?« Er war bewegt.

»Ja. Ich hätte sogar noch eine andre Idee... die Sie aber wahrscheinlich ganz verrückt finden werden.«

»Lassen Sie doch hören, Else.«

»Ich denke mir nämlich, wir könnten es zu uns nehmen.«

»Wer, wir?«

»James und ich.«

»Nach England?«

»Wer sagt Ihnen denn, daß wir nach England gehen? Wir bleiben hier. Wir haben schon eine Wohnung gemietet, im Cottage draußen. Es braucht's ja niemand zu wissen, daß es Ihr Kind ist.«

»Was für ein romanhafter Gedanke.«

»Gott, warum romanhaft? Anna kann's doch nicht bei sich haben und Sie doch erst recht nicht. Wo soll's denn während der Proben stecken? Im Souffleurkasten vielleicht?«

Georg lächelte. »Sie sind sehr gut, Else.«

»Ich bin gar nicht gut. Ich denk nur, warum soll denn so ein unschuldiges kleines Geschöpf dafür büßen, oder darunter leiden, daß... na ja, ich meine, es kann doch nichts dafür... schließlich... Ist es ein Bub?«

»Es war ein Bub.« Er machte eine Pause. Dann sagte er leise: »Es ist nämlich tot.« Und er sah vor sich hin.

»Was? Ach so, Sie wollen sich... vor meiner Zudringlichkeit schützen.«

»Else, wie können Sie denn... Nein, Else. In solchen Dingen lügt man nicht.«

»Also wirklich? Ja, wie ist denn das...«

»Es ist tot zur Welt gekommen.«

Sie sah zu Boden. »Nein, wie schrecklich!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie schrecklich!... Nun hat sie mit einemmal gar nichts mehr.«

Georg zuckte leicht zusammen, aber vermochte nichts zu antworten. Wie entschieden es für alle schien, daß die Geschichte mit Anna zu Ende war. Und ihn bedauerte Else gar nicht. Sie ahnte wohl nicht einmal, wie der Tod des Kindes ihn erschüttert hatte. Wie konnte sie es auch ahnen! Was wußte sie von der Stunde, da der Garten seine Farben, der Himmel sein Licht für ihn verloren hatte, weil sein wunderschönes Kind tot drin im Hause lag.


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