Arthur Schnitzler
Der Weg ins Freie
Arthur Schnitzler

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Viertes Kapitel

Georg stand am Fenster. Gerade darunter wölbten sich die steinernen Rücken der bärtigen Riesen, die auf gewaltigen Armen das verwitterte Adelswappen eines längst versunkenen Geschlechtes trugen. Gegenüber, aus dem Dunkel uralter Häuser hervor, kam die Stiege geschlichen, bis vor das Tor der grauen Kirche, die im Flockenfall wie hinter einem wallenden Vorhang verdämmerte. Das Licht einer Straßenlaterne auf dem Platz schimmerte blaß durch den sinkenden Tag. Noch stiller an diesem Feiernachmittag als sonst ruhte unten die beschneite Straße, die mitten in der Stadt und doch abseits von allem Treiben hinzog. Und wieder einmal, wie stets, wenn er die breite Treppe des alten zum Mietshaus gewordenen Palastes emporgestiegen und in das geräumige, niedrig gewölbte Zimmer getreten war, fühlte Georg, seiner gewohnten Welt entronnen, sich wie zum andern Teile eines wundersamen Doppeldaseins eingegangen.

Er hörte einen Schlüssel in der Türe knirschen und wandte sich um. Anna trat ein. Georg schloß sie beglückt in die Arme und küßte sie auf Stirn und Mund. Die dunkelblaue Jacke, der breitrandige Hut, die Pelzboa, alles war ganz beschneit.

»Du hast ja gearbeitet«, sagte Anna, während sie ablegte, und wies auf den Tisch, wo neben der grünbeschirmten Lampe beschriebene Notenblätter lagen.

»Das Quintett hab ich mir durchgesehen, den ersten Satz. Es ist doch noch manches daran zu machen.«

»Aber dann wird's wunderschön sein.«

»Das wollen wir hoffen. Kommst du von Hause, Anna?«

»Nein, von Bittners.«

»Wie, heut am Feiertag?«

»Ja. Die zwei Mädeln haben durch die Masern viel versäumt, das muß nachgeholt werden. Ist mir übrigens sehr angenehm, schon aus finanziellen Gründen.«

»Die Riesensumme!«

»Und dann entgeht man wenigstens auf ein paar Stunden dem ›trauten Heim‹.«

»Na ja«, sagte Georg, legte Annas Boa über eine Sessellehne und strich zerstreut mit den Fingern über das Pelzwerk hin. Annas Bemerkung, aus der es, und nicht zum erstenmal, wie ein leiser Vorwurf gegen ihn herausklang, hatte ihn nicht angenehm berührt. Sie setzte sich auf den Diwan, führte die Hände an die Schläfen, strich leicht über das dunkelblonde, gewellte Haar nach rückwärts und blickte Georg lächelnd an. Er, beide Hände in den Saccotaschen, stand an die Kommode gelehnt und begann von dem gestrigen Abend zu erzählen, den er mit Guido und der Violinspielerin verbracht hatte. Seit einigen Wochen nahm die junge Dame, auf des Grafen Wunsch, bei dem Beichtvater einer Erzherzogin katholischen Religionsunterricht; sie ihrerseits hielt Guido an, Nietzsche und Ibsen zu lesen. Doch war als Resultat dieses Studiums, nach Georgs Bericht, bisher nichts anderes zu verzeichnen, als daß der junge Graf seine Geliebte nach jener wunderlichen Gestalt aus »Klein Eyolf« scherzhafterweise Rattenmamsell zu nennen pflegte.

Anna wußte über den gestrigen Abend wenig Heiteres mitzuteilen. Sie hatten Besuch gehabt. »Zuerst«, erzählte Anna, »die zwei Cousinen von Mama, dann ein Bureaukollege von Papa zum Tarokspielen. Auch Josef hat sich der Häuslichkeit ergeben, ist auf dem Diwan gelegen von drei bis fünf, dann ist sein neuester Spezi gekommen, Herr Jalaudek, der mir erheblich den Hof gemacht hat.«

»So, so.«

»Er war berückend. Ich sage nur: eine violette Krawatte mit gelben Tupfen, da kannst du dich verstecken. Übrigens hat er mir den ehrenvollen Antrag überbracht, in einer sogenannten Akademie beim ›wilden Mann‹, zugunsten des Währinger Kirchenbauvereins mitzuwirken.«

»Du hast natürlich zugesagt.«

»Ich habe mich mit meinem Mangel an Stimme und an Frömmigkeit entschuldigt.«

»Na was die Stimme anbelangt...«

Sie unterbrach ihn. »Nein, Georg«, sagte sie leicht, »die Hoffnung hab ich endgültig aufgegeben.«

Er sah sie an und suchte in ihrem Blick, der aber klar und frei blieb. Leise und dumpf klang die Orgel aus der Kirche herüber.

»Ja richtig«, sagte Georg, »das Billett für morgen zu ›Carmen‹ hab ich dir mitgebracht.«

»Dank schön«, erwiderte sie und nahm die Karte entgegen. »Gehst du auch?«

»Ja. Ich hab eine Loge im dritten Stock und lad mir den Bermann ein. Die Partitur nehm ich mir mit, wie neulich zu Lohengrin und üb' mich wieder im Dirigieren. Im Hintergrund natürlich. Du kannst dir nicht vorstellen, was man dabei lernt. Ich möcht dir übrigens was vorschlagen«, setzte er zögernd hinzu. »Willst du nicht nach dem Theater mit mir und Bermann nachtmahlen gehen?«

Sie schwieg.

Er fuhr fort. »Es wäre mir wirklich angenehm, wenn du ihn näher kennen lerntest. Er ist bei allen seinen Fehlern ein interessanter Mensch und...«

»Ich bin keine Rattenmamsell«, unterbrach sie ihn scharf und hatte gleich ihr bürgerlich strenges Gesicht. Georg verzog die Mundwinkel. »Das trifft mich nicht, liebes Kind, ich unterscheide mich auch in mancher Beziehung von Guido. Aber wie du willst.« Er ging im Zimmer hin und her, sie blieb auf dem Diwan sitzen. »Du gehst also heute Abend zu Ehrenbergs?« fragte sie dann.

»Du weißt ja. Ich habe schon zweimal abgesagt in der letzten Zeit. Ich konnte diesmal nicht recht... –

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Georg. Ich bin auch geladen.«

»Wo denn?«

»Auch bei Ehrenbergs.«

»Wirklich«, rief er unwillkürlich aus.

»Was wundert dich denn dran so sehr?« fragte sie spitz. »Offenbar wissen sie dort noch nicht, daß man mit mir nicht mehr verkehren kann.«

»Aber Anna, was hast du denn heut? warum bist du denn gar so empfindlich? Selbst wenn man wüßte... glaubst du, das würde die Leute hindern, dich einzuladen? Im Gegenteil. Ich bin überzeugt, Frau Ehrenberg bekäme geradezu Respekt vor dir.«

»Und klein Elschen würde mich vielleicht gar beneiden. Glaubst du nicht? Sie hat mir übrigens ganz nett geschrieben. Da ist ihr Brief, willst du ihn lesen?« Georg flog ihn durch, fand ihn von etwas absichtlicher Liebenswürdigkeit, äußerte sich nicht weiter und gab ihn Anna wieder.

»Da ist übrigens noch einer«, sagte Anna, »wenn er dich interessieren sollte.«

»Von Doktor Stauber? So? Wär es ihm recht, wenn er wüßte, daß ich ihn zu lesen bekomme?«

»Was bist du denn plötzlich so rücksichtsvoll?« Und wie strafend fügte sie hinzu: »Es wär ihm wahrscheinlich manches nicht recht.«

Georg las den Brief rasch für sich durch. In trockener, zuweilen etwas humoristisch gefärbter Art berichtete Berthold vom Fortgang seiner Arbeiten im Pasteurschen Institut, von Spaziergängen, Ausflügen und Theaterbesuchen und ließ es auch an Bemerkungen allgemeinem Charakters nicht fehlen; doch enthielt der Brief auf seinen acht Seiten keinerlei Anspielung auf Vergangenheit oder Zukunft. Georg fragte beiläufig: »Wie lang bleibt er denn noch in Paris?«

»Wie du siehst, schreibt er noch kein Wort vom Zurückkommen.«

»Deine Freundin Therese erwähnte neulich, daß seine Parteigenossen ihn gerne wieder hier haben möchten.«

»Ah, ist sie wieder im Kaffeehaus gewesen?«

»Ja. Vor zwei oder drei Tagen hab ich sie dort gesprochen. Ich amüsier mich wirklich sehr über sie.«

»So?«

»Anfangs ist sie nämlich immer sehr hochmütig, auch mit mir. Offenbar, weil ich auch mein Leben so mit Kunst und ähnlichen Dummheiten vertrödle, während es doch so viele wichtigere Dinge auf der Welt zu tun gibt. Aber wenn sie ein bissel wärmer wird, dann kommt's heraus, daß sie sich für alle möglichen Dummheiten geradeso interessiert, wie wir gewöhnlichen Menschen.«

»Sie wird leicht warm«, sagte Anna unbeweglich.

Georg ging auf und ab und sprach weiter. »Köstlich war sie ja neulich beim Fechtturnier im Musikvereinssaal. Wer war übrigens der Herr, mit dem sie oben auf der Galerie gesessen ist?«

Anna zuckte die Achseln. »Ich hatte nicht den Vorzug, dem Turnier beizuwohnen. Und übrigens kenn ich die Begleiter Theresiens nicht alle.«

»Ich nehme an«, sagte Georg, »es war ein Genosse, in jeder Beziehung. Sehr düster und ziemlich schlecht angezogen war er jedenfalls. Wie Therese nach Felicians Sieg applaudiert hat, hat er sich vor Eifersucht geradezu zusammengerollt.«

»Was hat dir Therese eigentlich von Doktor Berthold erzählt?« fragte Anna.

»O«, scherzte Georg, »man interessiert sich ja noch sehr lebhaft, wie es scheint.«

Anna antwortete nicht.

»Also«, berichtete Georg, »ich kann dir die Mitteilung machen, daß man ihn im Herbst für den Landtag kandidieren will, was ich übrigens sehr begreiflich finde, mit Rücksicht auf seine glänzenden Rednergaben.«

»Was weißt denn du! Hast du ihn schon sprechen gehört?«

»Natürlich, erinnerst du dich denn nicht! In Eurer Wohnung!«

»Du hast's wirklich nicht notwendig, dich über ihn lustig zu machen.«

»Aber das fällt mir ja gar nicht ein.«

»Ich hab's ja gleich bemerkt, er ist dir damals ein bißchen komisch vorgekommen. Er, und sein Vater auch. Du hast ja geradezu die Flucht ergriffen vor ihnen.«

»Ganz und gar nicht, Anna. Du tust sehr unrecht, mir solche Dinge zu insinuieren.«

»Sie mögen ja ihre Schwächen haben, beide, aber sie gehören wenigstens zu den Menschen, auf die man sich verlassen kann. Das ist auch etwas.«

»Hab ich das bestritten, Anna? Wahrhaftig, niemals hab ich dich so unlogisch reden gehört. Was willst du denn eigentlich von mir? Hätt ich vielleicht eifersüchtig werden sollen wegen dieses Briefes?«

»Eifersüchtig? Das fehlte noch, du mit deiner Vergangenheit.«

Georg zuckte die Achseln. In seinem Geist tauchten Erinnerungen auf, an ähnliche Wortzwiste im Verlaufe früherer Beziehungen, an jene plötzlichen rätselhaften Uneinigkeiten und Entfremdungen, die meist nichts anderes zu bedeuten gehabt hatten, als den Anfang vom Ende. Sollte er mit seiner klugen, guten Anna heute wirklich schon so weit sein? Verstimmt, beinahe traurig ging er im Zimmer auf und ab. Zuweilen warf er einen flüchtigen Blick nach der Geliebten, die schweigend in ihrer Diwanecke saß und leicht die Hände aneinanderrieb, als wäre ihr kalt. In das Schweigen des mit einmal trübselig gewordenen Raums klang die Orgel schwerer als zuvor, singende Menschenstimmen wurden vernehmbar, und die Fensterscheiben klirrten leise. Georgs Blick fiel auf den kleinen Weihnachtsbaum, der auf der Kommode stand und dessen Kerzen vorgestern Abend für ihn und Anna gebrannt hatten. Halb gelangweilt, halb zerstreut nahm er Zündhölzchen aus der Tasche und begann die kleinen Kerzen eine nach der andern anzuzünden. Da klang plötzlich Annas Stimme zu ihm her: »In einer ernsten Sache«, sagte sie langsam, »würde ich mich doch keinem andern anvertrauen, als dem alten Doktor Stauber.«

Befremdet wandte sich Georg nach ihr um, und blies ein brennendes Zündhölzchen aus, das er noch in der Hand hielt. Er wußte sofort, was Anna meinte, wunderte sich, daß er seit dem letzten Zusammensein selbst nicht mehr daran gedacht hatte, trat zu ihr hin und faßte ihre Hand. Nun erst schaute sie auf, undurchdringlich, mit bewegungslosen Zügen.

»Du Anna sag doch...«, er setzte sich an ihre Seite auf den Diwan, ihre beiden Hände in den seinen.

Sie schwieg.

»Warum redest du nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Es ist eben gar nichts Neues zu berichten«, erklärte sie dann einfach.

»So«, sagte er langsam. Es ging ihm durch den Sinn, ob nicht ihre heutige sonderbare Gereiztheit schon als ein Anzeichen des Zustandes zu deuten war, auf den sie anspielte, und Unruhe stieg in seiner Seele auf. »Aber sicher ist die Sache deswegen noch lange nicht«, sagte er in etwas kühlerm Tone, als er eigentlich wollte. »Und... und wenn auch –«, setzte er mit gekünstelter Lebhaftigkeit hinzu.

»Also du würdest mir verzeihen?« fragte sie lächelnd.

Er drückte sie an sich und war plötzlich ganz aufgeräumt. Eine lebhafte, etwas gerührte Zärtlichkeit flammte in ihm auf für das sanfte, gute Geschöpf, das er in den Armen hielt, und von dem ihm, er fühlte es tief, niemals ein ernstliches Leid kommen konnte. »Es wäre wahrhaftig nicht so schlimm«, sagte er heiter. »Du würdest eben Wien für einige Zeit verlassen, das ist alles.«

»Na, gar so einfach wär das allerdings nicht, wie du dir's plötzlich vorzustellen scheinst.«

»Warum nicht? Eine Ausrede ist bald gefunden. Im übrigen, wen geht's denn an? Uns zwei. Niemanden andern. Und was mich anbelangt, so weißt du, ich kann jeden Tag fort. Kann auch ausbleiben, so lange ich will. Ich habe noch nicht einmal einen Kontrakt fürs nächste Jahr unterschrieben«, setzte er lächelnd hinzu. Dann erhob er sich, um die Wachskerzchen auszulöschen, deren kleine Flammen beinahe ganz heruntergebrannt waren; und immer lebhafter sprach er weiter. »Es wäre sogar wunderschön. Denk doch, Anna! Ende Februar, oder anfangs März würden wir abreisen, in den Süden natürlich, nach Italien, ans Meer vielleicht. Würden an irgendeinem stillen Ort wohnen, wo kein Mensch uns kennt, in einem schönen Hotel mit einem Riesenpark. Und arbeiten könnt man da unten, Donnerwetter!«

»Also darum!« sagte sie, wie in plötzlichem Verstehen. Er lachte, nahm sie fester in seine Arme, und sie drängte sich an seine Brust. Von draußen kam kein Laut mehr. Orgel und Menschenstimmen waren verklungen. Vor den Fenstern schwebte der Schneevorhang nieder... Georg und Anna waren glücklich wie niemals zuvor.

Während sie im Dunkel ruhten, sprach er von seinen musikalischen Plänen für die nächste Zeit und erzählte ihr Heinrichs Opernstoff, soweit er es vermochte. Mit schimmernden Schatten füllte sich der Raum. Einen märchenhaften Königssaal durchrauschte ein Hochzeitsfest. Ein leidenschaftlicher Jüngling schlich sich ein und zückte seinen Dolch auf den Fürsten. Ein dunkles Urteil, geheimnisvoller als der Tod, wurde verkündet. Auf dämmernder Flut trieb ein träges Schiff unbekannten Zielen entgegen. Zu Füßen des Jünglings ruhte eine Prinzessin, die eines Herzogs Braut gewesen. Ein Unbekannter nahte auf leuchtendem Kahn mit seltsamer Botschaft; Narren, Sterngucker, Tänzerinnen, Höflinge schwebten vorbei. Schweigend hatte Anna gelauscht. Am Ende war Georg neugierig zu erfahren, was für einen Eindruck sie von den flüchtigen Bildern empfangen hätte.

»Ich kann's nicht recht sagen«, erwiderte sie. »Jedenfalls ist es mir heut noch ganz rätselhaft, wie aus dem ziemlich wirren Zeug jemals irgendwas Wirkliches werden soll.«

»Natürlich kannst du dir das heute noch nicht vorstellen besonders nach meiner Erzählung... Aber den musikalischen Hauch, der aus der Geschichte herausweht, den spürst du doch, nicht wahr? Ich hab mir sogar schon ein paar Motive aufnotiert, – und ich möchte sehr gern, daß Bermann sich bald ernstlich an die Arbeit machte.«

»An deiner Stelle, Georg... ich darf doch was sagen?«

»Natürlich, red nur.«

»Also ich an deiner Stelle würde doch zuerst einmal das Quintett abschließen. Es kann ja jetzt nicht mehr viel dran fehlen.«

»Viel nicht und doch... Übrigens darfst du nicht vergessen, daß ich in der letzten Zeit allerlei anderes angefangen habe. Die zwei Klavierstücke, dann das Orchesterscherzo – das ist sogar ziemlich weit gediehn. Aber es gehört unbedingt in eine Symphonie.«

Anna erwiderte nichts. Georg merkte, daß ihre Gedanken abschweiften, und er fragte sie, wohin sie ihm denn schon wieder entrückt sei.

»Nicht gar so weit«, entgegnete sie. »Mir ist nur so durch den Kopf gegangen, was alles geschehen sein kann, bis die Oper einmal wirklich fertig sein wird.«

»Ja«, sagte Georg langsam, beinahe etwas befangen, »wenn man so in die Zukunft blicken könnte.«

Sie seufzte ganz leise, und er drängte sich näher an sie, fast mitleidig. »Sei ruhig, mein Schatz, sei ruhig«, sagte er, »ich bin ja da... und ich werde immer da sein.« Er glaubte zu fühlen, wie sie dachte: Kann er nichts Besseres sagen?... nichts Stärkeres? nichts, das alle Angst, – und das sie für immer von mir nähme? Und unaufrichtig, wie mit dem Gedanken sich in eine Gefahr zu begeben, fragte er sie: »Woran denkst du?« Und noch einmal, als sie beharrlich schwieg: »Anna, woran denkst du denn?«

»An etwas sehr Sonderbares«, erwiderte sie leise.

»Woran?«

»Daß das Haus schon steht, wo es zur Welt kommen wird, – und wir haben keine Ahnung wo... daran hab ich denken müssen.«

»Daran«, sagte er seltsam berührt. Und mit neu aufflammender Zärtlichkeit sie an sein Herz pressend: »Ich werde euch nie verlassen, euch beide...«

Als es wieder licht im Zimmer wurde, waren sie sehr vergnügt, pflückten von den Ästen des kleinen Weihnachtsbaumes die letzten vergessenen Zuckersachen, freuten sich auf das Wiedersehen unter lauter gleichgültigen Menschen, das ihnen bevorstand, wie auf ein heiteres Abenteuer, lachten und redeten lustigen Unsinn.

Sobald Anna fortgegangen war, versperrte Georg die Notenblätter in der Tischlade, löschte die Lampe aus und öffnete ein Fenster. Leicht und dünn fiel der Schnee. Über die Stiege aus dem Dunkel kam ein alter Mann, und sein mühseliges Atmen tönte durch die unbewegte Luft herauf. Grau ragte die stumme Kirche gegenüber... Georg blieb eine Weile am Fenster stehen. Er war in diesem Augenblick beinahe überzeugt, daß Anna sich in ihrer Annahme täuschte. Wie eine Beruhigung fiel ihm jene Äußerung Leo Golowskis ein, daß Anna bestimmt wäre im Bürgerlichen zu enden. Wahrhaftig es konnte nicht in der »Linie ihres Schicksals« liegen, von einem Liebhaber ein Kind zu bekommen. Und nicht in der Linie des seinen lag es, Verpflichtungen ernster Art zu tragen, heute schon und vielleicht für alle Zeit an ein weibliches Wesen festgebunden zu sein; Vater zu werden in so jungen Jahren. Vater!... Schwer, beinahe düster sank das Wort in seine Seele.

Um acht Uhr abends trat er in den Ehrenbergschen Salon. Walzerklänge tönten ihm entgegen. Am Klavier saß der alte Eißler, dem der lange graue Vollbart fast bis auf die Tasten herabsank. Georg, der, um nicht zu stören, am Eingang stehenblieb, wurde von allen Seiten durch Blicke begrüßt. Der alte Eißler spielte mit weichem Anschlag und kräftigem Rhythmus seine berühmten Wiener Tänze und Lieder, und Georg hatte wie immer viel Freude an den süßen, wiegenden Melodien.

»Herrlich«, sagte Frau Ehrenberg, als der Alte sich erhob.

»Bewahren Sie sich die großen Worte für größere Gelegenheiten, Leonie«, erwiderte Eißler, dessen altes Vorrecht es war, alle Frauen und Mädchen bei ihren Vornamen zu nennen. Und es schien jeder wohl zu tun, ihn von diesem schönen alten Mann, mit der tiefen, klingenden Stimme aussprechen zu hören, in der es manchmal bebte wie ein sentimentales Echo aus bewegten Jugendtagen. Georg fragte ihn, ob alle seine Kompositionen im Druck erschienen wären.

»Die wenigsten, lieber Baron; ich selbst kann leider keine Noten schreiben.«

»Es wäre aber wirklich jammerschade, wenn diese charmanten Melodien ganz verloren gehen sollten.«

»Ja, das hab ich ihm auch oft gesagt«, nahm Frau Ehrenberg das Wort. »Aber er gehört leider zu den Menschen, die sich selber nie ganz ernst genommen haben.«

»O, das ist ein Irrtum, Leonie. Wissen Sie denn, wie ich meine musikalische Karriere begonnen habe? Eine große Oper hab ich komponieren wollen. Allerdings war ich damals siebzehn Jahre alt und in eine Sängerin rasend verliebt.«

Die Stimme der Frau Oberberger tönte vom Tische in der Ecke her: »Es wird eine Choristin gewesen sein.«

»Sie irren sich, Katharina«, erwiderte Eißler. »Choristinnen waren nie mein Fall. Es war sogar eine platonische Liebe, wie die meisten großen Leidenschaften meines Lebens.«

»Waren Sie so ungeschickt?« fragte Frau Oberberger.

»Manchmal wohl auch das«, erwiderte Eißler sonor und mit Anstand; »denn wahrscheinlich hätte ich gerade soviel Glück haben können wie ein Husarenrittmeister. Aber ich bedaure es nicht, ungeschickt gewesen zu sein. Ungetrübte Erinnerungen bewahren wir doch nur an versäumte Gelegenheiten.«

Frau Ehrenberg nickte beifällig.

»Man dürfte also nicht fehlgehen, Herr Eißler«, bemerkte Nürnberger, »wenn man in Ihrer Lebensgeschichte den getrübten Erinnerungen die größere Rolle zuweist.« Wieder nickte Frau Ehrenberg. Sie war entzückt, wenn man in ihrem Salon geistreich war.

»Warum sagten Sie«, fragte Frau Oberberger, »Sie hätten so viel Glück haben können wie ein Husarenrittmeister? Es ist gar nicht wahr, daß Offiziere besonders viel Glück bei den Frauen haben. Wenn meine Schwägerin auch einmal ein Verhältnis mit einem Oberleutnant gehabt hat...«

»Ich glaube nicht an platonische Liebe«, sagte Sissy und leuchtete durch den Saal.

Frau Wyner schrie leise auf.

»Fräulein Sissy hat wahrscheinlich recht«, sagte Nürnberger. »Wenigstens bin ich überzeugt, daß die meisten Frauen platonische Liebe entweder als Beleidigung auffassen oder als Ausrede.«

»Es sind junge Mädchen da«, erinnerte Frau Ehrenberg mild.

»Das merkt man schon daraus«, sagte Nürnberger, »daß sie mitreden.«

»Trotzdem möchte ich mir erlauben, zu dem Kapitel platonische Liebe eine kleine Anekdote zu erzählen«, sagte Heinrich.

»Nur keine jüdische«, warf Else ein.

»Gewiß nicht. Hören Sie nur. Ein kleines blondes Mädel...«

»Das beweist nichts«, unterbrach Else.

»Laß doch zu Ende erzählen,« mahnte Frau Ehrenberg.

»Also: ein kleines, blondes Mädel«, begann Heinrich von neuem, »hat einmal, im Gegensatz zu Fräulein Sissy, mir gegenüber die Überzeugung ausgesprochen, daß platonische Liebe tatsächlich existiere. Und wissen Sie, was sie mir als Beweis dafür angeführt hat... ? Ein eigenes Erlebnis. Sie hat nämlich einmal eine Stunde, wie sie mir erzählte, ganz allein in einem Zimmer mit einem Leutnant verbracht und...«

»Es ist genug«, rief Frau Ehrenberg angstvoll.

»Und«, schloß Heinrich unbeirrt und beruhigend, »es ist in dieser Stunde nicht das geringste vorgefallen.«

»Sagt das blonde Mädel«, ergänzte Else.

Die Tür öffnete sich, Georg sah eine fremde Dame eintreten, in einem hellblauen, viereckig ausgeschnittenen Kleid, blaß, einfach und vornehm. Erst als sie lächelte, ward ihm bewußt, daß die Dame Anna Rosner war, und er empfand irgend etwas wie Stolz auf sie. Als er der Geliebten die Hand reichte, fühlte er den Blick Elses auf sich gerichtet.

Man begab sich ins Nebenzimmer, wo der Tisch mit bescheidener Festlichkeit gedeckt war. Der Sohn des Hauses fehlte. Er befand sich in Neuhaus, in der väterlichen Fabrik. Herr Ehrenberg selbst aber saß plötzlich bei Tisch, als das Souper aufgetragen war. Erst kürzlich war er von seiner Reise heimgekehrt, die ihn tatsächlich bis Palästina geführt hatte. Als er von Hofrat Wilt nach seinen Erlebnissen gefragt wurde, wollte er zuerst nicht recht mit der Sprache heraus. Endlich ergab sich, daß ihn die Landschaft enttäuscht, die Strapazen der Reisen verstimmt, und daß er von den jüdischen Ansiedlungen, die sicherm Vernehmen nach im Entstehen waren, so gut wie nichts gesehen hatte. »Also wir haben begründete Hoffnung«, bemerkte Nürnberger, »Sie hier zu behalten, selbst für den Fall, daß der Judenstaat im Laufe der nächsten Zeit gegründet werden sollte?«

Unwirsch erwiderte Ehrenberg: »Hab ich Ihnen je gesagt, daß ich die Absicht habe auszuwandern? Ich bin zu alt dazu.«

»Ach so«, sagte Nürnberger, »ich wußte nicht, daß Sie sich die Gegend drüben nur Fräulein Else und Herrn Oskar zuliebe angesehen haben.«

»Lieber Nürnberger, ich werd mich da nicht mit Ihnen streiten. Der Zionismus ist auch wahrhaftig zu gut für ein Tischgespräch.«

»Ob zu gut«, sagte Hofrat Wilt, »wollen wir dahingestellt sein lassen, jedenfalls zu kompliziert, schon darum weil jeder was anderes darunter versteht.«

»Oder verstehen will«, fügte Nürnberger hinzu, »wie es übrigens mit den meisten Schlagworten und nicht nur in der Politik der Fall ist. Darum wird ja auf Erden so viel geschwätzt.«

Heinrich erklärte, daß ihm unter allen menschlichen Geschöpfen der Politiker gewissermaßen die rätselhafteste Erscheinung bedeute. »Ich begreife Taschendiebe«, sagte er, »Akrobaten, Bankdirektoren, Hoteliers, Könige... das heißt, ohne besondere Mühe gelingt es mir, mich in die Seelen aller dieser Leute hineinzuversetzen. Daraus folgt offenbar, daß es nur gewisser quantitativer, wenn auch ungeheurer Veränderungen meines Wesens bedürfte, um mich zu befähigen, in der Welt eine Akrobaten-, eine Königs-, eine Bankdirektorsrolle zu spielen. Dagegen fühl ich untrüglich: ich könnte mein Wesen ins Ungemessene steigern, und es würde doch nie das aus mir, was man einen Politiker nennt: ein Parteiführer, ein Genosse, ein Minister.«

Nürnberger lächelte über die Auffassung Heinrichs, nach der der Politiker eine besondere Menschenart bedeuten sollte, während es doch nur zu den äußern, nicht einmal unumgänglichen Erfordernissen seines Berufes gehörte, sich als besondere Menschenart aufzuspielen, seine Größe oder seine Nichtigkeit, seine Taten oder seine Trägheit hinter Titeln, Abstrakten, Symbolen zu verstecken. Was die Unbeträchtlichen oder Schwindelhaften unter ihnen vorstellten, das lag ja auf der Hand: es waren einfach Geschäftsleute, oder Hochstapler, oder Schönredner. Die Bedeutenden aber, die Tätigen, – die Genialen ganz gewiß, die waren in der Tiefe ihrer Seele nichts anderes als Künstler. Auch sie versuchten ein Werk zu schaffen und eines, das in der Idee geradeso Anspruch auf Unvergänglichkeit und Endgültigkeit erhob, wie irgendein anderes Kunstwerk. Nur, daß eben das Material, aus dem sie bildeten, kein starres, kein relativ bleibendes war, wie Töne oder Worte sind, sondern daß es nach lebendiger Menschen Art, sich ununterbrochen in Fluß und Bewegung befand.

Willy Eißler erschien, entschuldigte sich bei der Hausfrau, daß er sich verspätet hatte, nahm zwischen Sissy und Frau Oberberger Platz und grüßte seinen Vater wie einen lieben, alten Freund nach langer Trennung. Es stellte sich heraus, daß die beiden, trotzdem sie zusammen wohnten, sich seit mehreren Tagen nicht gesehen hatten. Willy erhielt Komplimente zu seinem Erfolg in der Aristokratenvorstellung, wo er mit der Gräfin Liebenberg-Rathony in einem französischen Proverbe einen Marquis gespielt hatte. Frau Oberberger fragte ihn, immerhin laut genug, daß es die Nächstsitzenden verstehen konnten, wo seine Rendezvous mit der Gräfin stattfänden und ob er sie im gleichen Absteigquartier empfinge wie seine bürgerlichen Flammen. Die Unterhaltung wurde lebhafter, Gespräche gingen hin und her und verschlangen sich da und dort. Georg aber fing abgerissene Worte auf, auch aus einer Unterhaltung zwischen Anna und Heinrich, in der von Therese Golowski die Rede war. Dabei sah er, wie Anna zuweilen einen neugierig dunkeln Blick zu Demeter Stanzides herüberwarf, der heute im Frack mit einer Gardenia im Knopfloch erschienen war; und ohne eigentliche Eifersucht zu verspüren, fühlte er sich sonderbar bewegt. Ob sie in diesem Augenblick wohl daran dachte, daß sie vielleicht ein Kind von ihm unter dem Herzen trug? »Die Untiefen...« fiel ihm wieder ein. Plötzlich sah sie zu ihm herüber, mit einem Lächeln, als käme sie von einer Reise heim. Er war innerlich wie befreit und spürte mit einem leisen Schrecken, wie sehr er sie liebte. Dann führte er sein Glas an die Lippen und trank ihr zu. Else, die bisher mit ihrem andern Nachbar, Demeter, geplaudert hatte, wandte sich nun an Georg; in ihrer absichtlich beiläufigen Art mit einem Blick auf Anna bemerkte sie: »Hübsch sieht sie aus. So frauenhaft. Das hat sie übrigens immer an sich gehabt. Musizieren Sie noch mit ihr?«

»Manchmal«, entgegnete Georg kühl.

»Vielleicht bitt ich sie, vom neuen Jahr an wieder mit mir zu korrepetieren. Ich weiß nicht, wieso es bis jetzt nicht dazu gekommen ist.«

Georg schwieg.

»Und wie steht es denn eigentlich« – sie wies mit einem Blick auf Heinrich – »mit Eurer Oper?«

»Mit unsrer Oper? Noch gar nichts steht's damit. Wer weiß, ob was draus wird.«

»Natürlich wird nichts draus werden.«

Georg lächelte. »Warum sind Sie denn heut gar so streng mit mir?«

»Ich ärgere mich halt über Sie.«

»Über mich? Warum denn...?«

»Daß Sie den Leuten immer wieder Anlaß geben, Sie als Dilettanten zu betrachten.«

Georg war ins Herz getroffen, verspürte sogar einen leisen Groll gegen Else, faßte sich aber rasch und erwiderte: »Ich bin ja vielleicht nichts anderes. Und wenn man kein Genie ist, so ist es schon besser, man ist ein ehrlicher Dilettant, als... als ein aufgeblasener Künstler.«

»Wer verlangt denn, daß Sie gleich das Größte leisten? Aber deswegen muß man sich doch nicht so gehen lassen, wie Sie's tun, innerlich und äußerlich.«

»Ich versteh Sie wirklich nicht, Else. Wie können Sie behaupten... Wissen Sie denn auch, daß ich im Herbst nach Deutschland gehe, als Kapellmeister?«

»Die Karriere wird daran scheitern, daß Sie nicht um zehn Uhr früh bei den Proben sein werden.«

In Georg wühlte es noch immer. »Wer hat mich denn übrigens einen Dilettanten genannt, wenn ich fragen darf?«

»Wer? Gott, es ist doch schon in der Zeitung gestanden.«

»Ach so«, sagte Georg beruhigt, denn er erinnerte sich jetzt, daß ein Kritiker ihn nach dem Konzert, in dem Fräulein Bellini seine Lieder gesungen, als »dilettierenden Aristokraten« bezeichnet hatte. Georgs Freunde hatten damals erklärt, diese animose Besprechung habe ihren Grund darin, daß er dem betreffenden Herrn, der als sehr eitel bekannt war, keinen Besuch gemacht hätte.

So war es nun einmal! Immer waren äußere Gründe dran schuld, wenn die Leute einen ungünstig beurteilten. Auch die Gereiztheit Elsens heute, was war sie im Grunde anderes, als Eifersucht...

Die Tafel wurde aufgehoben. Man begab sich in den Salon. Georg trat zu Anna, die am Klavier lehnte und sagte leise zu ihr: »Schön siehst du aus.«

Sie nickte befriedigt.

Dann fragte er weiter: »Hast du dich mit Heinrich gut unterhalten? Worüber habt ihr denn gesprochen? Über Therese? Nicht wahr?«

Sie antwortete nicht, und Georg merkte mit Befremden, wie ihr plötzlich die Augenlider zufielen, und sie zu wanken begann.

»Was... was haben Sie denn?« fragte er erschrocken.

Sie hörte ihn nicht und wäre niedergesunken, wenn er sie nicht rasch bei den Handgelenken gefaßt hätte. Frau Ehrenberg und Else waren im selben Augenblick bei ihr.

Haben sie uns beobachtet? dachte Georg.

Schon hatte Anna die Augen wieder offen, zwang sich zu einem Lächeln und flüsterte: »O es ist nichts, ich vertrage die Hitze manchmal so schlecht.«

»Kommen Sie«, sagte Frau Ehrenberg mütterlich, »vielleicht legen Sie sich einen Augenblick hin.«

Anna schien verwirrt, erwiderte nichts, und die Damen des Hauses geleiteten sie ins Nebenzimmer.

Georg sah um sich. Den Gästen schien nichts aufgefallen zu sein. Der Kaffee wurde herumgereicht. Georg nahm eine Tasse und rührte zerstreut mit dem Löffel herum. Am Ende, dachte er, wird sie doch nicht im Bürgerlichen enden. Aber zugleich fühlte er sich innerlich so entfernt von ihr, als ginge ihn persönlich die Sache nichts an. Frau Oberberger stand neben ihm. »Also wie denken Sie eigentlich über platonische Liebe, Sie sind ja Fachmann?« Er erwiderte zerstreut, sie redete weiter, in ihrer Art; ohne sich zu kümmern, ob er zuhörte, ob er antwortete. Plötzlich war Else wieder da. Georg erkundigte sich nach Annas Befinden, teilnehmend und höflich.

»Eine schwere Erkrankung dürfte es wohl nicht sein«, sagte Else und sah ihm fremd ins Gesicht.

Demeter Stanzides trat heran und bat sie zu singen. »Wollen Sie mich begleiten?« wandte sie sich an Georg. Er verneigte sich und setzte sich ans Klavier.

»Also was denn?« fragte Else.

»Was Sie wollen«, erwiderte Wilt, »nur nichts Modernes.« Nach dem Souper liebte er es, wenigstens in künstlerischen Dingen, den Reaktionär zu spielen.

»Justament«, sagte Else und reichte Georg ein Heft. Sie sang »Das alte Bild« von Hugo Wolf, mit ihrer kleinen, wohlgebildeten und etwas rührenden Stimme. Georg begleitete mit Geschmack, doch ziemlich zerstreut. Er war ein wenig ärgerlich über Anna, so sehr er sich dagegen wehrte. Im übrigen schien wirklich niemand den Vorfall bemerkt zu haben, als Frau Ehrenberg und Else. Ach, was lag am Ende daran... Wenn sie's auch alle wußten... Wen ging es an... Ja, wer kümmerte sich nur darum... Nun hören sie alle Else zu, dachte er weiter, und empfinden die Schönheit dieses Liedes. Sogar Frau Oberberger, die gar nicht musikalisch ist, vergißt auf einige Minuten, daß sie ein Weib ist, und hat ein stilles, geschlechtsloses Gesicht. Auch Heinrich hört gebannt zu, denkt in diesem Moment vielleicht nicht an seine Werke, nicht an das Los der Juden, nicht an die ferne Geliebte, und nicht einmal an die nahe, die kleine Blondine, der zuliebe er in der letzten Zeit geradezu elegant geworden ist. Wahrhaftig, der Frack sitzt ihm nicht übel, und die Krawatte ist keine von den fertig gekauften, wie er sie sonst trägt, sondern sorgsam geknüpft... Wer steht denn so nah hinter mir, dachte Georg weiter, daß ich den Atem über dem Haar spüre?... Sissy vielleicht...? Wenn morgen früh die Welt unterginge, Sissy wäre es, die ich mir für heute Nacht erwählte. Ja das ist sicher. Ah, da kommt Anna mit Frau Ehrenberg... Es scheint, ich bin der einzige, der es merkt, obwohl ich doch zugleich auf mein Spiel und auf Elses Gesang aufpassen muß. Ich grüße sie mit den Augen... Ja, ich grüße dich, Mutter meines Kindes... Wie sonderbar ist das Leben...

Das Lied war zu Ende. Man applaudierte, verlangte nach mehr. Georg begleitete Else zu einigen anderen Liedern, von Schumann, von Brahms, zum Schluß auf allgemeinen Wunsch zu zwei eigenen, die ihm persönlich zuwider geworden waren, seit irgendwer behauptet hatte, sie erinnerten an Mendelssohn. Während er begleitete, glaubte er jeden Zusammenhang mit Else zu verlieren und gab sich durch sein Spiel Mühe, sie wiederzugewinnen. Er spielte mit übertriebener Empfindung, er warb geradezu um sie und fühlte, daß es vergebens war. Zum erstenmal in seinem Leben war er unglücklich verliebt in sie. Der Beifall nach Georgs Liedern war stark.

»Das war Ihre beste Zeit«, sagte Else leise zu ihm, während sie die Noten weglegte. »So vor zwei, drei Jahren.«

Die andern sagten ihm Freundliches, ohne Epochen in seiner künstlerischen Entwicklung zu unterscheiden.

Nürnberger erklärte, durch die Lieder Georgs aufs angenehmste enttäuscht worden zu sein. »Ich will Ihnen nämlich nicht verhehlen«, bemerkte er, »daß ich sie mir nach den Ansichten, die ich manchmal von Ihnen vertreten höre, lieber Baron, beträchtlich unverständlicher vorgestellt hätte.«

»Wirklich charmant«, sagte Wilt. »Alles so melodiös, und einfach, ohne Affektion und Schwulst.«

Er ist es, dachte Georg grimmig, der mich einen Dilettanten geheißen hat.

Willy war herzugetreten. »Jetzt sagen S' nur noch Herr Hofrat, daß Sie sie nachpfeifen können, und wenn ich mich auf Physiognomien verstehe, so schickt Ihnen der Baron morgen früh zwei Herren.«

»O nein«, sagte Georg, sich auf sich besinnend und lächelte. »Die Lieder stammen glücklicherweise aus einer längst überwundenen Zeit. Ich fühle mich also durch keinerlei Tadel und keinerlei Lob verletzt.«


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