Arthur Schnitzler
Der Weg ins Freie
Arthur Schnitzler

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Fünftes Kapitel

Georg öffnete ganz leise die Türe zu Annas Zimmer. Sie lag noch schlafend im Bette und atmete tief und ruhig. Er begab sich aus dem leicht verdunkelten Raum wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Türe. Dann trat er ans geöffnete Fenster und schaute hinaus. Über dem Wasser schwebte sonnenschimmernder Nebel. Die Berge drüben, mit reingezogenen Linien, schwammen in Himmelsglanz, und über den Gärten und Häusern von Lugano flimmerte das hellste Blau. Georg war wieder ganz beseligt, diese Junimorgenluft einzuatmen, die vom See die feuchte Frische und von den Platanen, Magnolien und Rosen im Hotelpark den Duft zu ihm emportrug; diese Landschaft anzuschauen, deren Frühlingsfriede ihn nun seit drei Wochen jeden Morgen wie ein neues Glück begrüßte. Rasch trank er seinen Tee aus, lief die Treppe so schnell und erwartungsvoll hinab, wie er einst als Knabe zum Spiel geeilt war, und im grauen Dufte der Frühschatten schlug er den gewohnten Weg längs des Ufers ein. Hier gedachte er seiner einsamen Morgenspaziergänge in Palermo und Taormina im vergangenen Frühjahr, die er oft auf viele Stunden ausgedehnt hatte, da Grace gern bis Mittag mit offenen Augen im Bett lag. Fast umdüstert erschien ihm in der Erinnerung jene Zeit seines Lebens, über der ein naher Abschied, wenn auch manchmal herbeigewünscht, doch wie eine trübe Wolke gelastet hatte. Diesmal schien ihm alles Schmerzliche in weiter Ferne zu liegen, und jedenfalls war es in seiner Macht, ein Ende, wenn es nicht vom Schicksal selber kam, so weit hinauszuschieben, als er wollte.

Anfang März war er mit Anna aus Wien abgereist, da ihr Zustand kaum länger zu verbergen war. Doch schon im Januar hatte sich Georg entschlossen, mit ihrer Mutter zu sprechen. Er hatte sich einigermaßen vorbereitet, und so vermochte er seine Mitteilungen in ruhigen und wohlgesetzten Worten vorzubringen. Die Mutter hörte still zu, und ihre Augen wurden groß und feucht. Anna saß auf dem Diwan mit befangenem Lächeln und betrachtete Georg, während er sprach, mit einer Art von Neugier. Der Plan für die folgenden Monate war entworfen. Bis zum Frühsommer wollte Georg sich mit Anna im Auslande aufhalten, dann sollte in der Umgebung von Wien ein Landhaus gemietet werden, so daß in der schwersten Zeit die Mutter nicht fern wäre und das Kind ohne Schwierigkeiten in der Nähe der Stadt in Pflege gegeben werden konnte. Auch eine Erklärung von Annas Abreise und Fernbleiben für unberufene Neugierige war ausgedacht. Da ihre Stimme sich in der letzten Zeit bedeutend gebessert hätte – was beinahe der Wahrheit entsprach – wäre sie zu einer berühmten Gesangslehrerin nach Dresden gereist, um ihre Ausbildung zu vollenden. Frau Rosner nickte manchmal, als stimmte sie allem zu. Aber die Züge ihres Antlitzes wurden immer trauriger. Nicht so sehr das, was sie erfahren hatte, drückte auf sie, als vielmehr die Vorstellung, daß sie es so wehrlos über sich ergehen lassen mußte, eine arme Mutter, in kleinbürgerlichen Verhältnissen, die dem vornehmen Verführer machtlos gegenübersaß. Georg, der dies mit Bedauern merkte, suchte einen immer leichteren und liebenswürdigeren Ton. Er rückte näher zu der guten Frau hin, er nahm ihre Hand und behielt sie sekundenlang in der seinen. Anna hatte sich an dem ganzen Gespräch kaum mit einem Worte beteiligt. Als aber Georg sich zum Fortgehen anschickte, erhob sie sich, und zum erstenmal vor der Mutter, als hätte sie nun ihre Verlobung mit ihm gefeiert, bot sie ihm die Lippen zum Kusse. In gehobener Stimmung ging Georg die Treppen hinunter, wie wenn nun eigentlich das schlimmste überstanden wäre. Öfter als früher verbrachte er nun ganze Stunden bei Rosners, mit Anna musizierend, deren Stimme in dieser Zeit merklich an Fülle und Kraft gewann. Das Benehmen der Mutter Georg gegenüber wurde freundlicher, ja, manchmal schien es ihm, als müßte sie sich gegen eine wachsende Sympathie für ihn geradezu wehren. Und es gab einen Abend im Kreise der Familie, an dem Georg zum Nachtmahl blieb, nachher, die Zigarre im Munde, den Anwesenden aus den Meistersingern und Lohengrin vorphantasierte, sich, ganz besonders von seiten Josefs, lebhaften Beifalls erfreuen durfte, und beim Nachhausegehen fast erschrocken merkte, daß er sich so behaglich gefühlt hatte wie in einem neu gewonnenen Heim.

Ein paar Tage später, als er mit Felician beim schwarzen Kaffee saß, brachte ihm der Diener eine Karte, bei deren Empfang er eine leichte Röte aufsteigen fühlte. Felician tat, als hätte er des Bruders Verlegenheit nicht bemerkt, sagte ihm adieu und verließ das Zimmer. In der Tür begegnete er dem alten Rosner, neigte leicht den Kopf zum Gegengruß und sah vorüber. Georg forderte Herrn Rosner, der im Winterrock mit Hut und Regenschirm eingetreten war, zum Sitzen auf und bot ihm eine Zigarre an. Der alte Rosner sagte: »Ich habe eben geraucht«, was Georg irgendwie beruhigte, und nahm Platz, während Georg an den Tisch gelehnt stehen blieb. Dann begann der Alte mit gewohnter Langsamkeit: »Herr Baron werden sich wahrscheinlich denken können, weshalb ich so frei bin zu stören. Ich wollte eigentlich schon am Vormittag vorsprechen, aber ich konnte leider aus dem Bureau nicht abkommen.«

»Vormittag hätten Sie mich nicht zu Hause gefunden, Herr Rosner«, erwiderte Georg verbindlich.

»Nun, umso besser, daß ich den Weg nicht vergeblich gemacht habe. Also meine Frau hat mir nämlich heute morgen... berichtet... was sich ereignet hat.« Er sah zu Boden.

»So«, sagte Georg und nagte an der Oberlippe. »Ich hatte eigentlich selbst die Absicht... Aber wollen Sie nicht den Winterrock ablegen, es ist sehr warm im Zimmer.«

»O, danke, danke, es ist mir durchaus nicht zu warm. Nun, ich war ganz entsetzt, als meine Frau mir diese Mitteilung machte. Jawohl, Herr Baron... Nie hätt ich von Anna gedacht... niemals für möglich gehalten... es ist ja furchtbar...« Er sagte alles in seiner gewohnten eintönigen Weise, nur schüttelte er öfter den Kopf dabei als sonst. Georg mußte immer auf die Glatze mit dem dünnen, gelblichgrauen Haar herunterschauen und empfand nichts als eine öde Gelangweiltheit. »Furchtbar, Herr Rosner, ist die Sache wahrhaftig nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie wüßten, wie sehr ich... wie innig meine Neigung zu Anna ist, so würden Sie gewiß auch fern davon sein, die Sache furchtbar zu finden. Ihre Frau Gemahlin hat Sie ja jedenfalls hinsichtlich unserer Absichten für die nächste Zeit unterrichtet. – Oder irre ich mich?« –

»Durchaus nicht, Herr Baron, seit heute morgen bin ich über alles orientiert. Doch kann ich nicht verschweigen, schon seit einigen Wochen merkte ich, daß etwas im Hause nicht in Ordnung wäre. Es fiel mir insbesondere auf, daß meine Frau sehr erregt und häufig geradezu dem Weinen nahe war.«

»Dem Weinen nahe? – Dazu liegt wahrhaftig kein Grund vor, Herr Rosner; Anna selbst, auf die es doch schließlich vor allem ankommt, befindet sich sehr wohl, hat ihre gewohnte Heiterkeit...«

»Ja, Anna ist allerdings in guter Stimmung und dies, um die Wahrheit zu sagen, bildet gewissermaßen meinen Trost. Aber im übrigen kann ich Ihnen nicht schildern, Herr Baron, wie schwer getroffen... wie, ich möchte sagen... wie aus allen Himmeln gerissen... nie, nie hätte ich geglaubt...«, er konnte nicht weiter, seine Stimme zitterte.

»Ich bin wirklich sehr bekümmert«, sagte Georg, »wenn Sie der Angelegenheit in dieser Weise gegenüberstehen, trotzdem Ihnen doch Ihre Frau Gemahlin jedenfalls alles auseinandergesetzt hat, und die Maßnahmen, die wir für die nächste Zeit getroffen haben, wohl auch Ihre Zustimmung finden dürften. Von einer ferneren Zeit, einer hoffentlich nicht allzufernen, will ich heute lieber noch nicht reden, weil mir Phrasen jeder Art ziemlich zuwider sind. Aber Sie können versichert sein, Herr Rosner, daß ich gewiß nicht vergessen werde, was ich einem Wesen wie Anna... Ja, was ich mir selber schuldig bin.« Er schluckte.

Soweit er zurückdachte, gab es keinen Moment in seinem Leben, in dem er sich selbst so unsympathisch gewesen war. Und nun, wie in Gesprächen von vollkommener Aussichtslosigkeit nicht anders möglich, wiederholte jeder einigemale dasselbe, bis Herr Rosner sich endlich entschuldigte gestört zu haben und sich von Georg verabschiedete, der ihn bis zur Stiege hinausbegleitete. Georg behielt es einige Tage lang nach diesem Besuche wie einen unangenehmen Nachgeschmack in der Seele. Jetzt fehlt nur noch der Bruder, dachte er geärgert und stellte sich unwillkürlich eine Auseinandersetzung vor, in deren Verlauf sich der junge Mann als Rächer der Hausehre aufzuspielen suchte und Georg ihn mit außerordentlich treffenden Worten in seine Schranken verwies. Immerhin fühlte sich Georg, nachdem die Unterredung mit den Eltern Annas überstanden war, wie befreit. Und über den Stunden, die er mit der Geliebten allein in dem friedlichen Zimmer, der Kirche gegenüber verbrachte, lag ein eigenes Gefühl von Behaglichkeit und Sicherheit. Zuweilen schien es ihnen beiden, als stünde die Zeit stille. Wohl brachte Georg zu den Zusammenkünften Reisehandbücher, den Burckhardtschen Cicerone, sogar Fahrpläne mit, und stellte gemeinschaftlich mit Anna allerlei Routen zusammen, aber eigentlich dachte er nicht ernstlich daran, daß all das einmal wahr werden sollte. Was jedoch das Haus anbelangte, in dem das Kind geboren werden sollte, so waren sie beide von der Notwendigkeit durchdrungen, daß es gefunden und gemietet sein mußte, ehe sie Wien verließen. Einmal sah Anna in der Zeitung, die sie sorgfältig daraufhin durchzulesen pflegte, ein Forsthaus angekündigt, hart am Walde, unweit einer Bahnstation, die von Wien in eineinhalb Stunden zu erreichen war. Eines Morgens fuhren sie beide an den bezeichneten Ort – und nahmen die Erinnerung an einen verschneiten, einsamen Holzbau mit Hirschgeweihen über der Tür, an einen alten, betrunkenen Förster, an eine junge, blonde Magd, an eine windesrasche Schlittenfahrt über eine besonnte Winterstraße, an ein unbegreiflich lustiges Mittagessen in einem riesigen Gasthofzimmer und an ein schlecht beleuchtetes, überheiztes Kupee mit nach Hause. Dies war das einzige Mal, daß Georg mit Anna zusammen das Haus suchen ging, das doch schon irgendwo in der Welt stehen und seiner Bestimmung warten mußte... Sonst fuhr er meist allein mit der Bahn oder mit der Tramway in die nahegelegenen Sommerfrischen Umschau halten.

Einmal, an einem mitten in den Winter verirrten Frühlingstag, spazierte Georg durch einen der kleinen, ganz nahe der Stadt gelegenen Orte, die er besonders liebte, wo dorfmäßige Baulichkeiten, bescheidene Landhäuser und elegante Villen sich aneinanderreihten; hatte so ziemlich vergessen, wie ihm das manchmal geschah, warum er hergefahren war, und dachte eben mit Ergriffenheit daran, daß auf den gleichen Wegen wie er vor manchen Jahren Beethoven und Schubert gewandelt waren, als ihm unvermutet Nürnberger entgegentrat. Sie begrüßten einander, lobten den schönen Tag, der so weithinaus ins Freie lockte, und bedauerten höflich, daß man einander so selten begegne, seit Bermann Wien verlassen hatte.

»Haben Sie schon lange nichts von ihm gehört?« fragte Georg.

»Seit er fort ist«, erwiderte Nürnberger, »habe ich nur eine Karte von ihm erhalten. Es ist wohl anzunehmen, daß er mit Ihnen in regerer Korrespondenz steht, als mit mir.«

»Warum ist es anzunehmen?« fragte Georg, durch Nürnbergers Ton wie manchmal etwas geärgert.

»Nun, zum mindesten haben Sie das eine vor mir voraus, den neuern Bekannten für ihn zu bedeuten, ihm also für seine psychologischen Interessen ein anregenderes Problem zu bieten, als ich.«

Aus diesen mit dem üblichen Spott gebrachten Worten hörte Georg ein gewisses Verletztsein heraus, das er übrigens begriff. Denn tatsächlich hatte sich Heinrich in der letzten Zeit um Nürnberger, mit dem er früher sehr viel verkehrt hatte, wenig mehr gekümmert, wie es überhaupt seine Art war, Menschen an sich zu ziehen und mit der größten Rücksichtslosigkeit wieder fallen zu lassen, je nachdem ihr Wesen seiner Stimmung gerade gemäß war oder nicht.

»Ich bin trotzdem nicht viel besser dran als Sie«, sagte Georg. »Auch ich habe schon ein paar Wochen lang keine Nachrichten von ihm bekommen. Nach den letzten scheint es übrigens seinem Vater sehr schlecht zu gehen.«

»So wird's jetzt wohl mit dem bedauernswerten, alten Mann bald zu Ende sein.«

»Wer weiß. Nach dem, was mir Bermann schreibt, kann es auch noch Monate dauern.«

Nürnberger schüttelte ernst den Kopf.

»Ja«, sagte Georg leichthin, »in solchen Fällen sollte es wirklich den Ärzten gestattet sein... die Sache abzukürzen.«

»Da haben Sie vielleicht recht«, antwortete Nürnberger. »Aber wer weiß, ob nicht unser Freund Heinrich, so sehr es ihn im Arbeiten und vielleicht sogar in manchem andern stören mag, seinen Vater unrettbar hinsiechen zu sehen, – wer weiß, ob er nicht trotzdem dem Vorschlag, diese hoffnungslose Sache durch eine Morphiuminjektion endgültig zu erledigen, ablehnend gegenüber stünde.«

Wieder fühlte sich Georg durch den höhnisch-bitteren Ton Nürnbergers abgestoßen. Und dennoch, in der Erinnerung an die Stunde, da er Heinrich von ein paar unklaren Worten im Brief einer Geliebten heftiger bewegt gesehen hatte, als von dem Wahnsinn seines Vaters, konnte er sich dem Eindruck nicht verschließen, daß Nürnberger den gemeinsamen Freund richtig beurteilte... »Haben Sie den alten Bermann gekannt?« fragte er.

»Persönlich nicht. Aber ich erinnere mich noch der Zeit, da sein Name oft in den Blättern genannt wurde, und auch mancher sehr gesinnungstüchtigen Reden, die er im Abgeordnetenhaus gehalten hat. Doch ich halte Sie auf, lieber Baron, grüß Sie Gott. Wir sehen uns wohl dieser Tage einmal im Kaffeehaus oder bei Ehrenbergs.«

»Sie halten mich durchaus nicht auf«, erwiderte Georg mit absichtlicher Liebenswürdigkeit. »Ich bummle und benütze die Gelegenheit mir Sommerwohnungen anzuschauen.«

»So, wollen Sie heuer in der Nähe Wiens auf dem Lande wohnen?«

»Ja, eine Zeitlang wahrscheinlich. Und außerdem hat mich eine bekannte Familie gebeten, wenn der Zufall mich bei diesem Anlaß etwas finden ließe...« Er wurde ein wenig rot, wie immer, wenn er nicht ganz bei der Wahrheit blieb.

Nürnberger bemerkte es und sagte harmlos: »Ich bin eben an einigen Villen vorbeigegangen, die zu vermieten sind. Sehen Sie zum Beispiel dort diese weiße, mit der breiten Terrasse?«

»Die sieht ganz nett aus. Die könnte man sich eigentlich anschauen. Wenn es Ihnen nicht zu fad ist, mich zu begleiten, – so fahren wir dann miteinander nach der Stadt zurück.«

Der Garten, den sie betraten, stieg schmal und lang nach aufwärts und erinnerte Nürnberger an einen andern, in dem er als Kind gespielt hatte. »Vielleicht ist es sogar derselbe«, sagte er. »Wir haben nämlich durch Jahre hindurch in Grinzing oder Heiligenstadt auf dem Lande gewohnt.«

Dieses »wir« berührte Georg ganz eigen. Er konnte sich kaum vorstellen, daß Nürnberger auch einmal ganz jung gewesen war, als ein Sohn mit Vater und Mutter, als ein Bruder mit Schwestern gelebt hatte, und er empfand mit einemmal die ganze Existenz dieses Mannes als etwas Seltsames und Schweres.

Auf der Höhe des Gartens, von einer offenen Laube, gab es einen wunderhübschen Blick auf die Stadt, an dem sie sich eine Weile erfreuten. Dann gingen sie langsam wieder hinab, von der Hausmeistersfrau begleitet, die ein kleines Kind, in einen grauen Plaid gewickelt, auf dem Arme trug. Nun sahen sie sich die Wohnung an; niedrige, muffige Zimmer, mit verschlissenen billigen Teppichen auf den Fußböden, schmalen Holzbetten, zerbrochenen oder blinden Spiegeln. »Im Frühjahr wird alles neu hergerichtet«, erklärte die Hausmeisterin, »da schaut's dann sehr freundlich aus.« Das kleine Kind streckte plötzlich die Händchen nach Georg aus, als wenn es von ihm auf den Arm genommen werden wollte. Georg war ein wenig gerührt und lächelte verlegen.

Während er mit Nürnberger auf der Plattform der Tramway in die Stadt fuhr und mit ihm plauderte, hatte er die Empfindung, daß er ihm bei den vielen früheren Gelegenheiten ihres Zusammenseins nicht so nahe gekommen war, als während dieser hellen Wintersonnenstunde auf dem Lande. Beim Abschied ergab es sich ganz ungezwungen, daß sie sich für einen der nächsten Tage zu einem neuen Spaziergang verabredeten, und so kam es, daß Georg bei seiner weitern Wohnungssuche in der Umgegend Wiens etliche Male von Nürnberger begleitet wurde. Dabei wurde immer die Fiktion gewahrt, als suchte Georg für die befreundete Familie, als glaubte Nürnberger daran, und als glaubte Georg, daß Nürnberger daran glaubte.

Auf diesen Wanderungen kam Nürnberger manchmal dazu, von seiner Jugend zu sprechen, von den Eltern, die er sehr früh verloren hatte, von einer Schwester, die jung gestorben und von seinem ältern Bruder, dem einzigen seiner Verwandten, der noch am Leben war. Der aber, ein alternder Junggeselle wie Edmund selbst, lebte nicht in Wien, sondern als Gymnasiallehrer in einer kleinen niederösterreichischen Stadt, wohin er schon vor fünfzehn Jahren als Supplent versetzt worden war. Später hätte er es wohl ohne besondere Mühe erwirken können, wieder in der Großstadt angestellt zu werden; doch nach ein paar Jahren der Verbitterung, ja des Grimms, hatte er sich in die kleinen, ruhigen Verhältnisse seines Aufenthaltsortes so völlig eingewöhnt, daß eine Rückkehr nach Wien ihm eher als Opfer erschienen wäre. Und er lebte nun, seinem Beruf und insbesondre seinen Sprachstudien mit Inbrunst hingegeben, weltfern, einsam, zufrieden, als eine Art von Philosoph in der kleinen Stadt. Wenn Nürnberger über diesen fernen Bruder sprach, so war es Georg manchmal, als hörte er ihn über einen Verstorbenen reden, so völlig schien jede Möglichkeit einer künftigen dauernden Vereinigung aufgehoben zu sein. Ganz anders, beinahe wie von einem Wesen, das einmal wiederkehren konnte, mit einer immer wachen Sehnsucht, sprach er von der Schwester, die seit vielen Jahren tot war.

An einem nebligen Februartag auf einer Bahnstation, während sie, den Zug nach Wien erwartend, auf dem Perron miteinander hin und her spazierten, da war es, daß Nürnberger Georg die Geschichte dieser Schwester erzählte, die schon als Kind von einer ungeheuern Leidenschaft fürs Theater wie besessen, mit sechzehn Jahren in einem kindisch-romantischen Drang, ohne Abschied das Haus verlassen hatte. Durch zehn Jahre war sie nun von Stadt zu Stadt, von Bühne zu Bühne gewandert, immer nur in geringem Stellungen beschäftigt, da weder ihr Talent noch ihre Schönheit für den gewählten Beruf auszureichen schienen; aber immer mit gleicher Begeisterung, immer mit gleicher Zukunftsgewißheit, trotz der Enttäuschungen, die sie erlebte, und des Jammers, den sie sah. In den Ferien erschien sie zuweilen bei den Brüdern, die damals noch zusammen wohnten, auf Wochen, manchmal nur auf Tage, erzählte von den Schmieren, auf denen sie gemimt, als wären es große Theater; von ihren spärlichen Erfolgen wie von Triumphen, die sie errungen; von den armseligen Komödianten, an deren Seite sie gewirkt, wie von großen Künstlern, von den kleinen Intrigen, die sich in ihrer Nähe abgespielt, wie von gewaltigen Tragödien der Leidenschaft. Und statt allmählich inne zu werden, in welch einer kläglichen Welt als eine der Bedauernswertesten sie dahinlebte, spann sie von Jahr zu Jahr sich in goldenere Träume ein. Das ging so lang, bis sie einmal fiebernd und krank in die Heimat zurückkehrte. Nun lag sie monatelang zu Bett, mit geröteten Wangen, schwärmte in ihren Delirien von Ruhm und Glück, die sie nie erlebt, erhob sich noch einmal zu scheinbarer Gesundheit und zog wieder hinaus, um diesmal schon nach wenigen Wochen, völlig zerstört, den Tod auf der Stirne, heimzukehren. Nun reiste der Bruder mit ihr nach dem Süden; nach Arco, nach Meran, an die italienischen Seen. Und jetzt erst, in südlichen Gärten unter blühenden Bäumen hingestreckt, dem Treiben entrückt, das sie durch Jahre berauscht und verwirrt hatte, kam sie zur Erkenntnis, daß ihr Leben ein Hin- und Hertaumeln unter gemaltem Himmel und zwischen papierenen Wänden, – daß der ganze Inhalt ihres Daseins ein Wahn gewesen war. Aber auch die kleinen Abenteuer des Tags, in gemieteten Zimmern und Wirtshäusern, auf Straßen fremder Städte, erschienen ihr in der Erinnerung wie Szenen, in denen sie als Schauspielerin im Rampenlichte mitgespielt, nicht wie solche, die sie wirklich erlebt hatte. Und während sie dem Grabe entgegenging, erwachte in ihr eine ungeheuere Sehnsucht nach dem wirklichen Leben, das sie versäumt hatte; je sicherer sie wußte, daß sie ihr für immer verloren war, mit um so klarerem Blicke erkannte sie die Fülle der Welt. Und das allersonderbarste war, wie in den letzten Wochen ihres Lebens das Talent, dem sie ihre ganze Existenz hingeopfert, ohne es wirklich zu besitzen, geheimnisvoll dämonisch zum Vorschein kam. »Heute noch scheint mir«, sagte Nürnberger, »als hätt ich niemals, auch von der größten Schauspielerin, Verse so sprechen gehört, ganze Szenen so agieren gesehen, wie von meiner Schwester in dem Hotelzimmer in Cadenabbia mit der Aussicht auf den Comosee, ein paar Tage, bevor sie starb. Freilich«, setzte er hinzu, »ist es möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß mich die Erinnerung täuscht.«

»Warum denn?« fragte Georg, dem dieser Abschluß so gut gefiel, daß er sich ihn nicht verderben lassen wollte. Und er bemühte sich, Nürnberger, der es lächelnd anhörte, zu überzeugen, daß der sich nicht geirrt haben könnte und daß mit dem seltsamen Mädchen, das in Cadenabbia begraben lag, eine große Schauspielerin dahingegangen war...

Das Landhaus, das Georg suchte, fand er auch auf seinen Wanderungen mit Nürnberger nicht; ja, von einem Mal zum andern, schien die Entdeckung schwieriger zu werden. Nürnberger spottete wohl zuweilen über die schwer erfüllbaren Ansprüche Georgs, der nach einer Villa zu suchen schien, an der vorn die wohlgepflegte Straße vorbeiführen und die rückwärts eine Gartentüre in den Urwald haben sollte. Schließlich glaubte Georg selbst nicht mehr ernsthaft daran, daß es ihm jetzt gelingen würde, das erwünschte Haus zu finden und verließ sich auf den Zwang des Findenmüssens nach der Rückkehr von der Reise. Notwendiger erschien es, sich möglichst bald mit einem Arzt ins Einvernehmen zu setzen; aber auch das verschob Georg von einem Tag zum andern. Doch eines Abends teilte Anna ihm mit, daß sie, durch einen neuen Ohnmachtsanfall in plötzliche Angst versetzt, Doktor Stauber besucht und ihm ihren Zustand eröffnet hatte. Er war sehr herzlich gewesen, hatte keinerlei Erstaunen ausgedrückt, sie in jeder Hinsicht vollkommen beruhigt und nur den Wunsch geäußert, Georg vor der Abreise zu sprechen.

Ein paar Tage darauf folgte Georg der Einladung des Arztes. Die Ordination war eben zu Ende. Doktor Stauber empfing ihn mit der vorausgesehenen Freundlichkeit, schien die ganze Angelegenheit so einwandfrei und natürlich als möglich zu finden und sprach von Anna nie anders als von der jungen Frau, was Georg eigentümlich, aber nicht unangenehm berührte. Als die sachlichen Erörterungen abgeschlossen waren, erkundigte sich der Arzt nach dem Ziel der Reise. Georg hatte noch kein Programm entworfen, nur so viel stand fest, daß das Frühjahr im Süden, wahrscheinlich in Italien verbracht werden sollte. Doktor Stauber nahm Anlaß von seinem letzten Aufenthalt in Rom zu erzählen, der zehn Jahre zurücklag. Er war damals, wie schon früher einmal, mit dem Leiter der Ausgrabungen in persönlichem Verkehr gestanden und sprach zu Georg in fast begeistertem Ton von den neuesten Entdeckungen auf dem Palatin, über den er als junger Mann selbst Studien gepflogen und in den Heften für Altertumsforschung veröffentlicht hatte. Dann zeigte er Georg nicht ohne Stolz seine Bibliothek, die in eine medizinische und in eine kunsthistorische geschieden war, und trug ihm leihweise einige seltenere Bücher, eines aus dem Jahre 1834 über die vatikanischen Sammlungen und eine Geschichte Siziliens an. Georg fühlte sich höchst angeregt, während ihm so deutlich zum Bewußtsein kam, wie reiche Tage ihm bevorstanden. Eine Art von Heimweh nach wohlbekannten und lang entbehrten Gegenden überkam ihn, halbvergessene Bilder tauchten wieder in ihm auf: die Pyramide des Cestius stand am Horizont, in den scharfen Umrissen, wie sie ihm erschienen, da er als Knabe mit dem Prinzen von Makedonien in die abendliche Stadt zurückgeritten war; die dämmrige Kirche tat sich auf, wo er seine erste Geliebte als Braut zum Altar hatte schreiten sehen; unter einem dunkeln Himmel zog ein Nachen mit seltsam schwefelgelben Segeln an der Küste hin... Er begann zu reden, sprach von den vielen Städten und Landschaften des Südens, die er als Knabe, als Jüngling gesehen, erzählte von der Sehnsucht nach diesen Orten, die ihn oft wie ein wahres Heimweh ergriff, von seiner Freude all das Ersehnte, Bewahrtes und Vergessenes, und vieles Neue, mit gereiftem Blick umfassen zu dürfen, und diesmal in Gesellschaft eines Wesens, das fähig, alles mit ihm zu verstehen und zu genießen, und das ihm teuer war. Doktor Stauber, der eben daran war, ein Buch in die Reihe zurückzustellen, wandte sich plötzlich nach Georg um, sah ihn mild an und sagte: »Das laß ich mir gefallen.« Da Georg seinen Blick ein wenig befremdet erwiderte, setzte er hinzu: »Es war nämlich das erste warme Wort über Ihre Beziehung zu Annerl, das ich im Laufe dieser Stunde von Ihnen vernommen habe. Ich weiß, ich weiß, es liegt nicht in Ihrer Art, sich einem beinahe fremden Menschen gegenüber aufzuschließen, aber gerade weil ichs eigentlich nicht erwarten durfte, hats mir wohlgetan. Es ist Ihnen wirklich aus dem Herzen gekommen, man hats gemerkt. Und es hätte mir leid getan um das Annerl – entschuldigen Sie, ich heiß sie halt noch immer so – wenn ich mir hätte denken müssen, Sie haben sie nicht so gern, wie sie es verdient.«

»Ich weiß eigentlich nicht«, erwiderte Georg kühl, »was Sie veranlaßt, daran zu zweifeln, Herr Doktor.«

»Hab' ich etwas von Zweifeln gesagt?« erwiderte Stauber gutmütig. »Aber schließlich, es soll schon dagewesen sein, daß ein junger Mann, der allerlei erlebt hat, so ein Opfer nicht genügend würdigt. Es bleibt ja doch ein Opfer, lieber Baron. Wir können noch so erhaben sein über alle Vorurteile – eine Kleinigkeit ist es heutzutage noch immer nicht, wenn sich ein junges Mädel aus guter Familie zu so was entschließt. Und ich wills Ihnen nicht verhehlen – Annerl hab ichs natürlich nicht merken lassen – es hat mir doch einen leisen Ruck gegeben, wie sie neulich bei mir gewesen ist und mir die Sache erzählt hat.«

»Entschuldigen Sie, Herr Doktor«, erwiderte Georg geärgert aber höflich, »wenn es Ihnen einen Ruck gegeben hat, so beweist das doch einiges gegen Ihr Erhabensein über Vorurteile...«

»Da haben Sie recht«, sagte Stauber lächelnd. »Aber vielleicht sehen Sie mir diese Rückständigkeit nach, wenn Sie bedenken, daß ich etwas älter bin als Sie und aus einer andern Zeit herkomme. Und dem Einfluß seiner Epoche kann sich selbst ein ziemlich selbständig denkender Mensch... was zu sein ich mir schmeichle... nicht ganz entziehen. Das ist ja das Merkwürdige. Aber glauben Sie mir, es gibt auch heutzutage, selbst unter den jungen Leuten, die bei Nietzsche und Ibsen aufgewachsen sind, geradesoviel Philister als es vor dreißig Jahren gegeben hat; sie geben sich nur nicht zu erkennen, außer es geht ihnen selbst an den Kragen, zum Beispiel, wenn man ihnen die Schwester verführt oder wenn ihre Frau Gemahlin ihnen plötzlich mit der Idee kommt, sie will sich ausleben... Manche sind natürlich konsequent und spielen ihre Rolle weiter... das ist aber mehr eine Frage der Selbstbeherrschung als der Weltanschauung. Und früher wieder, wissen Sie, in der Epoche, aus der ich eben komme, wo die Begriffe so unwiderruflich festgestanden sind, wo jeder zum Beispiel genau gewußt hat: man hat seine Eltern zu verehren, sonst ist man ein Schuft... oder: eine wahre Liebe gibt es nur einmal im Leben... oder: es ist ein Vergnügen für das Vaterland zu sterben... wissen Sie, in der Epoche, wo jeder anständige Mensch irgendeine Fahne hochgehalten, oder wenigstens irgendwas auf sein Banner geschrieben hat... glauben Sie mir, schon damals haben die sogenannten modernen Ideen mehr Anhänger gehabt, als man ahnt. Nur, daß es diese Anhänger selbst manchmal nicht recht gewußt, daß sie selber ihren Ideen nicht getraut, daß sie sich gewissermaßen wie Auswürflinge oder gar wie Verbrecher vorgekommen sind. Soll ich Ihnen was sagen, Herr Baron? Es gibt überhaupt keine neuen Ideen. Neue Gedankenintensitäten – das ja. Aber meinen Sie im Ernst, daß Nietzsche den Übermenschen, Ibsen die Lebenslüge erfunden hat, und Anzengruber die Wahrheit, daß die Eltern selber »danach sein sollen«, die von ihren Kindern Verehrung und Liebe wünschen? Keine Spur. Alle ethischen Ideen sind immer dagewesen, und staunen würde man, wenn man wüßte, was für Flachköpfe die sogenannten neuen, großen Wahrheiten gedacht, vielleicht sogar manchmal ausgesprochen haben, lang vor den Genies, denen wir diese Wahrheiten verdanken, oder vielmehr den Mut, diese Wahrheiten für wahr zu halten. Aber ich bin da etwas weit abgekommen, verzeihen Sie. Eigentlich hab ich nur sagen wollen... und Sie werden mirs glauben... ich weiß so gut wie Sie, Herr Baron, daß es manches jungfräuliche Mädchen gibt, das tausendmal verdorbener ist als eine sogenannte Gefallene, und manchen, als anständig geltenden jungen Mann, der schlimmere Dinge auf dem Gewissen hat, als daß er mit einem unschuldigen Mädchen ein Verhältnis anfängt. Und doch... das ist eben der Fluch meiner Epoche...«, schaltete er lächelnd ein, »ich hab mir nicht helfen können: im ersten Moment, wie Annerl mir die Geschichte erzählt hat, da haben gewisse unangenehme Worte, die seinerzeit ihre feststehende Bedeutung gehabt haben, in meinem alten Kopf ganz mit ihrem alten Ton zu klingen angefangen, dumme, überlebte Worte wie... Wüstling... Verführung... sitzen lassen... und so weiter. Und daher, ich muß noch einmal um Entschuldigung bitten, jetzt, da ich Sie etwas näher kennen gelernt habe – daher ist dann der Ruck gekommen, den gespürt zu haben ein moderner Mensch eigentlich nicht eingestehen dürfte. Aber, um wieder ganz ernst zu reden, überlegen Sie nur einmal, wie sich Ihr seliger Herr Vater zu der Sache gestellt hätte, der wieder das Annerl nicht gekannt hat. Er war doch sicher einer der klügsten und vorurteilslosesten Menschen, den man sich denken kann... Und trotzdem zweifeln Sie gewiß nicht daran, daß es auch bei ihm nicht ganz ohne Ruck abgegangen wäre.«

Georg streckte dem Arzt unwillkürlich die Hand entgegen. Das Unerwartete dieser plötzlichen Mahnung an den geliebten Toten ließ eine so heftige Sehnsucht in ihm aufsteigen, daß er sie nur zu lindern vermochte, indem er von dem Entschwundenen zu reden begann. Auch der Arzt wußte noch von mancher Begegnung mit dem verblichnen Baron zu erzählen, meist zufälligen, flüchtigen auf der Straße, bei Sitzungen der Akademie der Wissenschaften, in Konzerten. Wieder war einer jener Augenblicke, in dem Georg sich dem Dahingeschiedenen gegenüber seltsam schuldvoll erschien und sich im Innern zuschwor, seines Andenkens würdig zu werden.

»Grüßen Sie das Annerl von mir«, sagte der Arzt beim Abschied zu ihm, »aber von dem ›Ruck‹ erzählen Sie ihr lieber nichts. Sie ist ein sehr feinfühliges Geschöpf, das wissen Sie ja, und jetzt kommt es vor allem darauf an, ihr jede unangenehme Aufregung zu ersparen. Bedenken Sie nur, lieber Baron, es handelt sich jetzt nur um das eine, daß ein gesundes Kind auf die Welt kommt, alles übrige... na, grüßen Sie sie schön von mir, hoffentlich sehen wir uns alle gesund im Sommer wieder.«

Georg entfernte sich mit dem erhöhten Bewußtsein seiner Verpflichtungen gegenüber dem Wesen, das sich ihm gegeben, und jenem andern, das in wenigen Monaten zum Dasein erwachen sollte. Er dachte zuerst daran, ein Testament zu machen und es bei einem Notar zu hinterlegen. Bei näherer Überlegung aber fand er es richtiger, sich seinem Bruder zu eröffnen, der ihm unter allen Menschen doch auch innerlich am nächsten stand. In der eigentümlichen Befangenheit aber, die dem doch so innigen Verhältnis zwischen den Brüdern eigen war, ließ er Tag um Tag verstreichen, bis endlich Felicians Abreise nach Afrika zu den Jagden ganz nahe bevorstand. In der Nacht vorher, auf dem Weg aus dem Klub nach Hause, teilte Georg seinem Bruder mit, daß er schon in der nächsten Zeit eine lange Reise anzutreten gedenke.

»So? Auf wie lange willst du denn fort?« fragte Felician.

Georg hörte im Ton dieser Worte eine gewisse Besorgnis mitklingen und fühlte sich veranlaßt hinzuzusetzen: »Es wird wohl auf Jahre hinaus die letzte größere Reise sein, die ich unternehme. Im Herbst befinde ich mich ja hoffentlich in einer festen Stellung.«

»Du bist also ganz entschlossen?«

»Ja, selbstverständlich.«

»Es freut mich sehr, Georg, aus verschiedenen Gründen, wie du dir denken kannst, daß du nun endlich ernst machen willst. Und im übrigen trifft's sich auch gut, daß nicht nur einer von uns in die Welt hinaus muß, und der andere allein zurückbleibt. Das wär doch ein biß'l traurig gewesen.«

Georg wußte wohl, daß Felician im nächsten Herbst einer auswärtigen Vertretung zugeteilt werden sollte, aber mit solcher Klarheit war ihm noch nie bewußt geworden, daß es nun in wenigen Monaten mit der langjährigen brüderlichen Gemeinschaft, mit dem Zusammenwohnen in dem alten Haus gegenüber dem Park, ja gewissermaßen mit der Jugend unwiederbringlich vorbei sein mußte. Er sah das Leben ernst, beinahe drohend vor sich liegen.

»Hast du denn schon eine Ahnung«, fragte er, »wohin sie dich schicken werden?«

»Eine gewisse Chance besteht für Athen.«

»Wär' dir das angenehm?«

»Warum nicht. Die Gesellschaft dort soll nicht uninteressant sein. Bernburg war drei Jahre lang dort, und er ist ungern fort. Und dabei haben sie ihn nach London versetzt, was doch auch nicht ohne ist.«

Sie gingen eine Weile schweigend weiter, nahmen den Weg durch den Park wie gewöhnlich. Eine Luft wie vom nahen Frühling war um sie, obwohl auf den Rasenplätzen noch schmale, weiße Schneeflecken schimmerten.

»Also nach Italien reist du?« fragte Felician.

»Ja.«

»Wieder so weit nach dem Süden wie voriges Frühjahr?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Wieder ein kurzes Schweigen.

Plötzlich aus dem Dunkel heraus die Stimme Felicians: »Hast du von Grace eigentlich seitdem etwas gehört?«

»Von Grace«, wiederholte Georg etwas verwundert, denn es war lange her, daß Felician diesen Namen nicht mehr ausgesprochen hatte. »Von Grace hab' ich nichts mehr gehört. Das war übrigens so abgemacht zwischen uns. In Genua haben wir für ewig Abschied genommen. Auch schon über ein Jahr her...«

Auf einer Bank, ganz im Dunkeln, saß ein Herr im Pelz, mit Zylinder und weißen Handschuhen. Ah, Labinski, dachte Georg einen Moment lang; im nächsten fiel ihm natürlich ein, daß der sich erschossen hatte... Es war nicht das erstemal, daß er ihn zu sehen glaubte. Auch im botanischen Garten zu Palermo unter einer japanischen Esche war einmal einer gesessen, bei hellichtem Tag, den Georg eine Sekunde lang für Labinski gehalten hatte. Und neulich, hinter den geschlossenen Fenstern eines Fiakers hatte Georg das Antlitz seines verstorbenen Vaters zu erkennen geglaubt.

Hinter den laublosen Ästen schimmerten Häuser her. Eines davon war das, in dem die Brüder wohnten.

Es wäre Zeit, dachte Georg, daß ich endlich auf die Angelegenheit zu reden komme. Und um rasch anzuknüpfen, bemerkte er leicht: »Ich fahr' übrigens auch heuer nicht allein nach Italien.«

»So, so«, sagte Felician und sah vor sich hin.

Im selben Moment fühlte Georg, daß er den Ton nicht richtig genommen hatte. Er besorgte, daß Felician sich etwa denken könnte: ah, nun hat er wieder ein Abenteuer mit so einer dubiosen Person. Und ernst fügte er hinzu: »Du, Felician, ich hätte was ziemlich Wichtiges mit dir zu besprechen.«

»Was Wichtiges?«

»Ja.«

»Na Georg«, sagte Felician mild und sah ihn von der Seite an. »Was gibt's denn, du heiratest doch nicht am Ende?«

»O nein«, erwiderte Georg und ärgerte sich gleich wieder, daß er diese Möglichkeit so entschieden abgelehnt hatte. »Nein, nicht um eine Heirat handelt es sich, sondern um etwas viel Wesentlicheres.«

Felician blieb einen Moment stehen. »Du hast ein Kind?« fragte er ernst.

»Nein. Noch nicht. Das ist es eben. Darum reisen wir fort.«

»So«, sagte Felician.

Sie waren aus dem Park herausgetreten. Unwillkürlich sahen sie beide zu dem Fenster ihrer Wohnung auf, von dem aus noch vor einem Jahr ihr Vater ihnen manchmal grüßend zugenickt hatte. Beide fühlten mit Wehmut, wie sie seit dem Tode des Vaters einander allmählich entglitten waren – und mit leiser Angst, um wie viel weiter sie das Leben noch voneinander entfernen konnte.

»Komm zu mir ins Zimmer«, sagte Georg, als sie oben waren. »Da ist's am gemütlichsten.«

Er setzte sich auf seinen bequemen Sessel am Schreibtisch. In die Ecke des kleinen, grünen Lederdiwans, der an den Schreibtisch angerückt war, lehnte sich Felician und hörte ruhig zu. Georg nannte ihm den Namen seiner Geliebten, sprach von ihr in guten und innigen Worten und erbat sich von Felician, daß er sich der Mutter und des Kindes annähme für den Fall, daß ihm, Georg, in der nächsten Zeit etwas Menschliches zustieße. Was von seinem Vermögen noch vorhanden wäre, hinterließe er selbstverständlich dem Kind, der Mutter fiele die Nutznießung bis zu des Kindes Volljährigkeit zu. Als Georg zu Ende war, sagte Felician nach kurzem Schweigen lächelnd: »Na, du hast ja gegründete Hoffnung, von deiner Reise ebenso gesund und wohl zurückzukommen, als ich aus Afrika, und so hat unsere Besprechung wohl nur akademische Bedeutung.«

»Das hoff ich natürlich auch. Aber es ist mir jedenfalls eine Beruhigung, Felician, daß du nun eingeweiht bist und ich nach jeder Richtung hin unbesorgt sein kann.«

»Ja natürlich, das kannst du.« Er reichte dem Bruder die Hand. Dann stand er auf, ging im Zimmer auf und ab. Endlich fragte er: »Zu legitimieren denkst du deine Beziehungen nicht?«

»Vorläufig nein. Was die Zukunft bringt, kann man ja nicht wissen.«

Felician blieb stehen. »Na ja...«

»Du wärst dafür, daß ich heirate?« rief Georg mit einigem Erstaunen aus.

»Durchaus nicht.«

»Felician, ich bitte dich, sei aufrichtig!«

»Weißt du, in solche Geschichten soll man niemandem drein reden, auch seinem Bruder nicht.«

»Aber wenn ich dich bitte, Felician. Mir komme vor, als gefiele dir irgend etwas an der Geschichte nicht.«

»Ja, siehst du Georg... du wirst mich ja nicht mißverstehen... ich weiß natürlich, daß du nicht daran denkst, sie im Stich zu lassen, im Gegenteil, ich bin sogar überzeugt, daß du dich in jeder Beziehung viel nobler benehmen wirst, als irgendein Mensch an deiner Stelle. Aber, die Frage ist doch eigentlich die: hättest du dich in die Sache eingelassen, wenn du dir die Folgen nach allen Seiten hin überlegt hättest?«

»Ja das ist freilich schwer zu beantworten«, sagte Georg.

»Ich meine ganz einfach: Hast du die Absicht gehabt... nicht sie zu deiner Lebensgefährtin zu machen, aber ein Kind mit ihr zu haben?«

»Gott, wer denkt daran? Wenn man es so absolut hätte vermeiden wollen –.«

Felician unterbrach ihn. »Weiß sie, daß du nicht daran denkst, sie zu heiraten?«

»Na du glaubst doch nicht, ›ich hab ihr 's heiraten versprochen‹.«

»Nein. Aber das Sitzenlassen doch auch nicht.«

»Das wäre gerade so eine Unaufrichtigkeit gewesen, Felician. Es ist gekommen, wie derartige Dinge eben zu kommen pflegen, hat sich alles ganz ohne Programm entwickelt, bis auf den heutigen Tag.«

»Ja das ist recht schön. Es ist nur die Frage, ob man nicht in wichtigen Lebensdingen zu Programmen gewissermaßen verpflichtet ist.«

»Möglich... Aber das war ja meine Sache nie, leider...«

Felician blieb vor Georg stehen, machte ein liebes Gesicht und nickte ein paarmal. »Das ist schon wahr, Georg. Du bist doch nicht bös... aber weil wir schon einmal davon sprechen... ich maße mir natürlich nicht das Recht an, dir in deine Lebensführung dreinzureden...

»Red nur, Felician... wirklich... es tut mir geradezu wohl...« Er strich ihm leise über die Hand, die auf der Diwanlehne lag.

»Na ja, es ist weiter nicht viel zu sagen. Ich meine nur, daß es in allen Dingen bei dir so ist... so ein Mangel an Programm. Siehst du, um von einem andern wichtigen Punkt zu reden, ich für meinen Teil bin ja überzeugt von deinem Talent und viele andre auch. Aber du arbeitest doch eigentlich verflucht wenig, nicht? Und von selbst kommt der Ruhm ja doch nicht, selbst wenn man...«

»Gewiß nicht. Aber so wenig wie du glaubst, arbeit ich durchaus nicht, Felician. Nur ist ja das Arbeiten bei unsereinem so eine eigentümliche Geschichte. Manchmal beim Spazierengehen, ja sogar im Schlaf fällt einem allerlei ein... Und dann im Herbst...«

»Na ja, hoffen wir, obzwar ich fürchte, von deiner Gage wirst du anfangs nicht leben können. Und wie lange dein bissel Geld reichen wird, bei deiner Art zu leben, das ist sehr die Frage. Ich sag dir aufrichtig, wie du mir früher die Summe genannt hast, die du deinem Kind hinterlassen könntest, hab ich einen förmlichen Schrecken gekriegt.«

»Hab nur Geduld, Felician. In drei Jahren oder fünf, wenn ich meine Oper fertig hab...«, er sagte es in selbstironisierendem Tone.

»Schreibst du wirklich an einer Oper, Georg?«

»Nächstens fang ich an.«

»Wer macht dir denn den Text?«

»Der Heinrich Bermann. Da machst du natürlich wieder ein Gesicht.«

»Lieber Georg, was deinen Verkehr anbelangt, bin ich immer weit davon entfernt gewesen, dir dreinzureden. Es ist ganz natürlich, daß du bei deiner geistigen Richtung in andre Kreise kommst als ich und mit Leuten umgehst, an denen ich vielleicht weniger Geschmack fände. Aber, wenn der Text von Herrn Bermann nur schön ist, so hast du meinen Segen... und der Herr Bermann natürlich auch.«

»Der Text ist noch nicht fertig, nur das Szenarium.«

Felician mußte wider Willen lachen. »So siehts mit deiner Oper aus? Wenn nur das Theater schon gebaut ist, für das sie dich als Kapellmeister engagieren.«

»Na«, sagte Georg etwas beleidigt.

»Verzeih«, entgegnete Felician. »Ich zweifle wirklich nicht an deiner Zukunft. Ich möcht halt nur, daß du selber ein bißchen mehr dazu tätest. Ich wär ja so... wirklich Georg, stolz wär ich, wenn was Großes aus dir würde. Und es liegt ja gewiß nur an dir. Der Willy Eißler, der doch ein sehr musikalischer Mensch ist, hat mir erst neulich wieder gesagt, daß er von dir mehr hält, als von den meisten jüngern Komponisten.«

»Wegen der paar Lieder, die er von mir kennt?

»Ja er findet sie eben hervorragend. Auf die Masse kommts doch nicht an.«

»Du bist ein guter Kerl, Felician. Aber du brauchst mich wirklich nicht zu ermutigen. Ich weiß schon, was in mir steckt, nur fleißiger muß ich halt sein. Und die Reise wird sehr wohltätig auf mich wirken. So auf eine Zeit aus der gewohnten Umgebung herauskommen, das tut sehr gut. Das ist diesmal was ganz anderes, als im vorigen Jahr. Es ist ja das erstemal, Felician, daß ich mit einem Wesen zusammen bin, das vollkommen auf meinem Niveau steht, das mir mehr... das mir wahrhaftig auch eine Freundin ist. Und das Bewußtsein, daß ich ein Kind haben werde, und grad mit ihr, das ist mir, trotz aller Begleitumstände, eher angenehm.«

»Das kann ich mir schon denken«, sagte Felician und betrachtete Georg ernst und liebevoll.

Die Uhr auf dem Schreibtisch schlug zwei.

»O, schon so spät«, rief Felician. »Und morgen früh muß ich packen. Na, morgen bei Tisch können wir noch über allerlei reden. Also, grüß dich Gott Georg.«

»Gute Nacht, Felician. Ich danke dir«, setzte er bewegt hinzu.

»Wofür dankst du mir, du bist komisch Georg.« Sie reichten sich die Hände, und dann küßten sie einander, was schon seit langer Zeit nicht geschehen war. Und Georg beschloß, sein Kind, wenn es ein Knabe sein sollte, Felician zu nennen, und er freute sich der guten Vorbedeutung im Glücksklang dieses Namens.

Nach des Bruders Abreise fühlte sich Georg so verlassen, als hätte er nie einen andern Freund gehabt. Der Aufenthalt in der großen, einsamen Wohnung, wo ihm eine ähnliche Stimmung zu lasten schien, wie in der ersten Zeit nach dem Tode des Vaters, machte ihn beinahe traurig.

Die Tage, die noch bis zur Abreise verstreichen mußten, empfand er als Übergangszeit, mit der nichts rechtes mehr anzufangen war. Die Stunden mit der Geliebten im Zimmer der Kirche gegenüber wurden farblos und öde. Mit Anna selbst schien nun auch seelisch eine Veränderung vorzugehen. Sie war manchmal reizbar, dann wieder schweigsam, fast melancholisch, und oft überkam Georg im Zusammensein mit ihr eine solche Langeweile, daß ihm vor den nächsten Monaten, in denen sie ganz aufeinander angewiesen sein sollten, geradezu bange wurde. Wohl versprach die Reise an sich Abwechslung genug. Aber wie sollte es in den spätern Monaten werden, die man ruhig irgendwo in der Nähe Wiens zu verbringen genötigt war? Er mußte auf eine Gesellschaft für Anna bedacht sein. Noch zögerte er mit ihr davon zu sprechen, als Anna selbst ihm mit einer Neuigkeit entgegenkam, die jene Schwierigkeit und zugleich eine andre auf die einfachste Weise zu beheben geeignet war. In der letzten Zeit, insbesondere seit Anna ihre Lektionen allmählich aufgegeben, hatte sie sich Theresen wieder näher angeschlossen, ihr alles anvertraut; und so war bald auch Theresens Mutter mit im Geheimnis. Diese nun kam Anna gütiger entgegen als die eigene Mutter, die nach einem kurzen Aufflackern des Verständnisses sich von der schuldigen Tochter gekränkt und schwermütig abgeschlossen hatte. Frau Golowski erklärte sich nicht nur bereit bei Anna auf dem Lande zu wohnen, sondern versprach auch, das kleine Haus, das Georg nicht hatte entdecken können, während das junge Paar fern war, ausfindig zu machen. So sehr diese Bereitwilligkeit Georgs Bequemlichkeit entgegenkam, es war ihm doch ein wenig peinlich, dieser fremden, alten Frau verpflichtet zu sein; und daß gerade sie, die Mutter Leos, und der Vater Bertholds dazu bestimmt waren, an einem so wichtigen Erlebnis Annas so bedeutenden Anteil zu nehmen, wollte ihm in verstimmten Augenblicken beinahe lächerlich erscheinen.

Drei Tage vor der Abreise, an einem schönen März-Nachmittag, machte Georg seinen Abschiedsbesuch bei Ehrenbergs. Seit jenem Weihnachtsfeiertage hatte er sich nur selten oben blicken lassen, und seine Gespräche mit Else waren seither durchaus harmlos geblieben. Wie einem Freunde, der solche Bemerkungen nicht mehr mißverstehen konnte, gestand sie ihm, wie sie sich daheim immer weniger wohl fühle. Insbesondre, was Georg schon selbst manchmal beobachtet hatte, schien die Stimmung des Hauses durch das üble Verhältnis zwischen Vater und Sohn dauernd getrübt zu sein. Wenn Oskar in seiner nonchalant-vornehmen Haltung zur Tür hereinkam und in seinem wienerisch-aristokratischen Ton zu reden begann, wandte sich der Vater mit Hohn ab, oder konnte Anspielungen nicht unterdrücken, daß er von heut auf morgen der ganzen Vornehmheit durch Entziehen oder Herabsetzen des sogenannten Gehaltes, der ja doch nur ein Taschengeld wäre, ein Ende machen könnte. Fing hingegen der Vater, wie er es vor Leuten und mit offenbarer Absicht am liebsten tat, im Jargon zu reden an, so biß Oskar die Lippen aufeinander und verließ wohl auch das Zimmer. Doch kam es in der letzten Zeit nur mehr selten vor, daß Vater und Sohn zugleich sich in Wien oder in Neuhaus aufhielten. Sie ertrugen kaum mehr einer des andern Nähe.


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