Arthur Schnitzler
Der Weg ins Freie
Arthur Schnitzler

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Als Georg bei Ehrenbergs eintrat, lag das Zimmer fast im Dunkel. Hinter dem Klavier hervor leuchtete die marmorne Isis, und in den Erker, wo Mutter und Tochter einander gegenübersaßen, fiel das Dämmerlicht des späten Nachmittags. Zum erstenmal hatte für Georg die Erscheinung dieser zwei Frauen etwas seltsam Rührendes. Eine Ahnung tauchte in ihm auf, daß ihm dieses Bild heute vielleicht zum letztenmal vor Augen träte, und Elses Lächeln leuchtete ihm so schmerzlich süß entgegen, daß er einen Augenblick lang dachte: wäre nicht am Ende hier das Glück gewesen?...

Nun saß er neben Frau Ehrenberg, die ruhig weiter stickte, Else gegenüber, rauchte eine Zigarette und war wie zu Hause. Er erzählte, daß er, verführt von dem lockenden Frühlingswetter, die geplante Reise früher antrete, als beabsichtigt war, und daß er sie wahrscheinlich bis in den Sommer hinein ausdehnen werde.

»Und wir wollen diesmal schon Mitte Mai nach dem Auhof«, sagte Frau Ehrenberg. »Aber heuer rechnen wir sicher darauf Sie bei uns zu sehen.«

»Wenn Sie nicht anderweitig beschäftigt sind«, setzte Else hinzu, ohne eine Miene zu verziehen.

Georg versprach im August zu kommen, auf einige Tage wenigstens.

Dann sprach man über Felician und Willy, die sich vor wenig Tagen von Biskra aus mit ihrer Gesellschaft in die Wüste begeben hatten, um zu jagen; über Demeter Stanzides, der nächstens seinen Abschied vom Militär nehmen und sich auf ein Gut in Ungarn zurückziehen wollte, und endlich über Heinrich Bermann, von dem seit Wochen niemand eine Nachricht hatte.

»Wer weiß, ob er überhaupt nach Wien zurückkommt«, sagte Else.

»Warum sollte er nicht? – wie kommen Sie darauf, Fräulein Else?«

»Gott, vielleicht wird er diese Schauspielerin heiraten und mit ihr in der Welt herumziehen.«

Georg zuckte die Achseln... Er wüßte von keiner Schauspielerin, mit der Heinrich in Verbindung stand, und erlaubte sich seinen Zweifel auszudrücken, daß Heinrich jemals heiraten werde, ob nun eine Prinzessin oder eine Zirkusreiterin.

»Es wäre schade um Bermann«, sagte Frau Ehrenberg, ohne sich um Georgs Diskretion zu kümmern. »Überhaupt finde ich, die jungen Leute nehmen diese Dinge entweder zu leicht oder zu schwer.«

Else ergänzte: »Ja es ist sonderbar. Ihr seid alle in diesen Dingen entweder viel klüger oder viel dümmer, als in allen andern, obwohl man doch gerade in solchen Lebenssachen möglichst der bleiben sollte, der man für gewöhnlich ist.«

»Liebe Else«, sagte Georg obenhin, »wenn einmal Leidenschaften im Spiele sind...«

»Ja, wenn sie im Spiele sind«, betonte Frau Ehrenberg.

»Leidenschaften!« rief Else. »Ich glaube die sind so was Seltenes, wie alles Großartige auf der Welt.«

»Was weißt du mein Kind«, sagte Frau Ehrenberg.

»In meiner Nähe habe ich wenigstens noch nichts dergleichen gesehen«, erklärte Else.

»Wer weiß, ob Sies entdecken würden«, meinte Georg, »auch wenn es einmal in Ihrer Nähe vorkäme. Von außen gesehen mag zuweilen ein Flirt und eine Liebestragödie ganz den gleichen Anblick bieten.«

»Das ist gewiß nicht wahr«, sagte Else. »Leidenschaft ist etwas, das sich unbedingt verraten muß.«

»Woher willst du denn das wissen, Else?« wandte Frau Ehrenberg ein. »Gerade Leidenschaften können sich manchmal tiefer verbergen, als irgendein kleines Gefühlchen, schon weil mehr auf dem Spiel zu stehen pflegt.«

»Ich glaube, gnädige Frau«, entgegnete Georg, »das ist sehr individuell. Es gibt eben Leute, denen alles auf der Stirn geschrieben steht, und andre, die undurchdringlich sind. Undurchdringlichkeit ist sogar gewissermaßen ein Talent wie ein anderes.«

»Man kann es auch ausbilden wie ein anderes«, sagte Else.

Das Gespräch stockte einen Augenblick, wie es leicht geschieht, wenn mit einemmal hinter einer allgemeinen Bemerkung die persönliche Nutzanwendung allzudeutlich hervorblinkt.

Frau Ehrenberg setzte neu ein: »Haben Sie was Schönes komponiert in der letzten Zeit, Georg?« fragte sie.

»Ein paar Kleinigkeiten fürs Klavier. Übrigens ist auch mein Quintett bald fertig.«

»Das Quintett fängt bald an mythisch zu werden«, sagte Else unzufrieden.

»Else«, mahnte die Mutter.

»Na ja, es wäre doch wirklich gut, wenn er fleißiger wäre.«

»Da haben Sie freilich Recht«, erwiderte Georg.

»Ich glaube, die Künstler haben früher viel mehr gearbeitet als jetzt.«

»Die großen«, ergänzte Georg.

»Nein, alle«, beharrte Else.

»Es ist vielleicht gut, daß Sie eine Reise machen«, sagte Frau Ehrenberg weitblickend. »Sie werden hier zu viel abgelenkt.«

»Er wird sich überall ablenken lassen«, behauptete Else streng. »Auch in Iglau, oder wo er sonst im nächsten Jahr sein wird.«

»Daran hab ich jetzt gar nicht gedacht, daß Sie fortgehen«, sagte Frau Ehrenberg und schüttelte den Kopf. »Und Ihr Bruder ist nächstes Jahr in Sofia oder Athen, und Stanzides in Ungarn... traurig eigentlich, wie die nettesten Menschen in alle Windrichtungen auseinander stieben.«

»Wenn ich ein Mann wär«, sagte Else, »stöb ich auch.«

Georg lachte. »Sie träumen von einer Reise um die Welt in einer weißen Yacht. Madeira, Ceylon, St. Franzisko.«

»O nein, ich möchte nicht ohne Beruf sein, aber wahrscheinlich wäre ich Marineoffizier geworden.«

»Möchten Sie nicht so lieb sein«, wandte sich Frau Ehrenberg an Georg, »und uns Ihre neuen Sachen ein bissel vorspielen?«

»Ganz gern.« Er stieg vom Erker am Fenster hinab, in die Dunkelheit des Zimmers. Else erhob sich und schaltete das Oberlicht ein. Georg öffnete das Klavier, setzte sich hin und spielte seine Ballade. Else hatte auf einem Fauteuil Platz genommen, und wie sie den Arm auf die Lehne und den Kopf auf den Arm gestützt dasaß, in der Haltung einer großen Dame und mit dem schwermütigen Gesicht eines altklugen Kindes, fühlte Georg von ihrem Anblick sich wieder sonderbar gerührt. Er war heute nicht sehr befriedigt von seiner Ballade und sich wohl bewußt, daß er durch ein allzu ausdrucksvolles Spiel der Wirkung nachzuhelfen suchte.

Hofrat Wilt trat leise ein und machte ein Zeichen, man möchte sich nur nicht stören lassen. Dann blieb er mit dem grauen, kurz gesträubten Kopfhaar, überlegen, gütig und lang neben der Tür an der Wand gelehnt stehen, bis Georg mit übertrieben klangvollen Akkorden den Vortrag endete. Man begrüßte einander. Wilt beglückwünschte Georg, daß er ein freier Mann war und jetzt in den Süden reisen durfte. »Ich kann das leider nicht«, fügte er hinzu, »und dabei hat man doch überdies zuweilen eine dunkle Ahnung, daß in Österreich nicht das geringste sich ändern würde, selbst wenn man ein Jahr lang sein Bureau nicht beträte.« Wie immer redete er von seinem Beruf und seinem Vaterland mit Ironie. Frau Ehrenberg entgegnete ihm, es gäbe ja doch keinen, der sein Vaterland mehr liebte und seinen Beruf ernster nähme, als gerade er. Er gab es zu. Für ihn aber bedeutete Österreich ein unendlich kompliziertes Instrument, das nur ein Meister richtig behandeln könnte und das nur deshalb so oft übel klänge, weil jeder Stümper seine Kunst daran versuche. »Sie werden solange darauf herumschlagen«, sagte er traurig, »bis alle Saiten zerspringen und der Kasten dazu.«

Als Georg ging, begleitete ihn Else ins Vorzimmer. Sie hatte ihm noch ein paar Worte über seine Ballade zu sagen. Besonders der Mittelsatz hatte ihr gefallen. So innerlich glühend wäre er gewesen. Im übrigen wünschte sie ihm glückliche Reise. Er dankte ihr. »Also«, sagte sie plötzlich, während er schon den Hut in der Hand hielt, »nun heißt es wohl gewissen Träumen endgültigen Abschied geben.«

»Welchen Träumen?« fragte er befremdet.

»Den meinen selbstverständlich, die Ihnen nicht unbekannt geblieben sein dürften.«

Georg war sehr überrascht. So deutlich war sie nie gewesen. Er lächelte befangen und suchte nach einer Antwort. »Was weiß man von der Zukunft«, sagte er endlich leicht.

Sie runzelte die Stirn. »Warum sind Sie nicht wenigstens ehrlich zu mir, so wie ich zu Ihnen? Ich weiß ja, daß Sie nicht allein da hinunter reisen... Ich weiß auch, wer Sie begleitet... Ich weiß überhaupt alles. Gott, was hab ich denn nicht gewußt, seit wir uns kennen.«

Und Georg hörte Schmerz und Zorn im Untergrund ihrer Worte beben. Und er wußte: wenn er sie doch einmal zur Frau nähme, sie würde ihn fühlen lassen, daß sie zu lange hatte auf ihn warten müssen. Er sah vor sich hin, schwieg wie schuldbewußt und trotzig zugleich. Da lächelte Else heiter, reichte ihm die Hand und sagte nochmals: »Glückliche Reise«.

Er drückte ihr die Hand, als müßte er ihr etwas abbitten. Sie entzog sie ihm, wandte sich ab, ging ins Zimmer zurück. Er blieb noch ein paar Sekunden an der Türe stehen, dann eilte er auf die Straße.

Am Abend desselben Tages sah Georg nach vielen Wochen zum erstenmal Leo Golowski im Kaffeehaus wieder. Er wußte von Anna, daß Leo als Freiwilliger in der letzten Zeit unangenehme Dinge durchzumachen hatte, daß besonders jene »Bestie in Menschengestalt« ihn mit Bosheit, ja mit wahrem Haß verfolgte. Es fiel Georg heute auf, wie Leo in der kurzen Zeit, während er ihn nicht gesehen, sich verändert hatte. Er sah geradezu gealtert aus.

»Es freut mich, daß ich Sie vor meiner Abreise noch einmal zu Gesicht bekomme«, sagte Georg und setzte sich ihm gegenüber an den Kaffeehaustisch. »Sie freut es«, erwiderte Leo, »daß Sie mich zufällig wieder einmal zu Gesicht kriegen, und mir war es ein Bedürfnis, Sie noch einmal zu sehen, das ist der Unterschied.« Seine Stimme klang noch zärtlicher als gewöhnlich. Er sah Georg ins Auge, gütig, beinahe väterlich. In diesem Moment zweifelte Georg nicht mehr, daß Leo alles wußte, war ein paar Sekunden so verlegen, als wenn er sich vor ihm zu verantworten hätte, ärgerte sich über seine Verlegenheit und war Leo dankbar, daß er sie nicht zu bemerken schien. Sie sprachen beinahe nur über Musik an diesem Abend. Leo erkundigte sich nach dem Fortgang von Georgs Arbeiten, und im Verlaufe der Unterhaltung ergab es sich, daß Georg sich bereit erklärte, Leo am morgigen Sonntag Nachmittag einiges aus seinen neuesten Kompositionen vorzuspielen. Aber als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte Georg plötzlich das unangenehme Gefühl, als wenn er eben eine theoretische Prüfung mit mäßigem Erfolg bestanden hätte und ihm für morgen das praktische Examen bevorstünde. Was wollte dieser junge, weit über sein Alter sich reif gebärdende Mensch eigentlich von ihm? Sollte Georg ihm gegenüber erweisen, daß sein Talent ihn berechtigte, Annas Geliebter zu sein, oder der Vater ihres Kindes zu werden? Er erwartete Leos Besuch mit innerm Widerstand. Einen Moment dachte er sogar daran, sich verleugnen zu lassen. Aber als Leo erschienen war, so harmlos und herzlich, wie er sich manchmal zu geben liebte, wurde Georg bald milder gestimmt. Sie tranken Tee, rauchten Zigaretten, Georg zeigte seine Bibliothek, die Bilder, die in der Wohnung hingen, Antiquitäten und Waffen, und die Prüfungsstimmung verschwand. Georg setzte sich ans Klavier, spielte ein paar seiner Stücke aus früherer Zeit und die letzten, auch die Ballade, viel besser als gestern bei Ehrenbergs, dann einige Lieder, zu denen Leo ohne Stimme, aber mit sicherem, musikalischen Gefühl die Melodie markierte. Endlich begann er das Quintett aus der Partitur vorzutragen, es gelang ihm nicht recht, und Leo stellte sich mit den Noten zum Fenster hin und las sie aufmerksam. »Eigentlich weiß man noch gar nichts«, sagte er. »Manches ist wie von einem Dilettanten mit sehr viel Geschmack und anderes wie von einem Künstler ohne rechte Zucht. In den Liedern spürt man noch am ehesten... aber was... Talent?... ich weiß nicht... daß Sie eine vornehme Natur sind, spürt man jedenfalls, eine musikalisch vornehme Natur.«

»Na, das wäre nicht viel.«

»Es ist sogar ziemlich wenig. Aber da Sie noch so wenig gearbeitet haben, beweist das auch nichts gegen Sie. Wenig gearbeitet und wenig durchfühlt.«

»Sie glauben...« Georg zwang sich zu einem spöttischen Lächeln.

»O, erlebt wahrscheinlich sehr viel, aber gefühlt... wissen Sie, was ich meine, Georg?«

»Ja, ich kann mirs schon denken. Aber Sie irren sich entschieden. Ich finde sogar eher, daß ich eine gewisse Neigung zur Sentimentalität habe, die ich bekämpfen muß.«

»Ja, das ist es eben. Sentimentalität ist nämlich etwas, was in einem direkten Gegensatz zum Gefühl steht, etwas, womit man sich über seine Gefühlslosigkeit, seine innere Kälte beruhigt. Sentimentalität ist Gefühl, das man sozusagen unter dem Einkaufspreis erstanden hat. Ich hasse Sentimentalität.«

»Hm, und doch glaube ich, daß Sie selbst nicht ganz frei davon sind.«

»Ich bin Jude, bei uns ist es eine Nationalkrankheit. Die Anständigen arbeiten dran, daß Grimm oder Zorn daraus werde. Bei den Deutschen ist es schlechte Gewohnheit, innere Nachlässigkeit sozusagen.«

»Also bei Ihnen zu entschuldigen, bei uns nicht?«

»Auch Krankheiten sind nicht zu entschuldigen, wenn man im vollen Bewußtsein seiner Anlage versäumt hat, sich dagegen zu wehren. Aber wir fangen an, aphoristisch zu werden, befinden uns also auf dem Wege zu Halb- oder Viertelswahrheiten. Kehren wir zu Ihrem Quintett zurück. Das Thema des Adagio ist mir das liebste daran.«

Georg nickte. »Das hab ich einmal in Palermo gehört.«

»Wie«, fragte Leo, »sollte es eine sizilianische Melodie sein?«

»Nein, aus den Wellen des Meeres ist es mir entgegengerauscht, wie ich eines Morgens allein am Strand spazieren gegangen bin. Das Alleinsein tut meiner Produktion überhaupt gut. Auch fremde Gegenden. Ich verspreche mir darum von meiner Reise allerlei.« Er erzählte ihm von Heinrich Bermanns Opernstoff, der für ihn von Anregungen erfüllt sei. Wenn Heinrich wieder zurückkäme, sollte Leo ihn doch veranlassen, den Text ernstlich in Angriff zu nehmen.

»Wissen Sie noch nicht«, sagte Leo, »sein Vater ist gestorben.«

»Wirklich? Wann denn? Woher wissen Sies?«

»Heute früh ist es in der Zeitung gestanden.«

Sie redeten über Heinrichs Verhältnis zu dem Hingeschiedenen, und Leo sprach aus, daß es um die Welt vielleicht besser stünde, wenn die Eltern öfter von den Erfahrungen ihrer Kinder lernten, statt zu verlangen, daß diese sich ihrer Altersweisheit anbequemten. Sie kamen in ein Gespräch über die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, über echte und falsche Arten von Dankbarkeit, über das Sterben von geliebten Menschen, über die Verschiedenheit von Trauer und Schmerz, über die Gefahren des Erinnerns und die Pflichten des Vergessens. Georg fühlte, daß Leo den ernstesten Dingen nachsann, sehr allein war, und es verstand, allein zu sein. Er liebte ihn beinahe, als die Tür in später Abendstunde sich hinter ihm geschlossen hatte, und der Gedanke, daß Annas erste Schwärmerei ihm gegolten, tat ihm wohl.

Noch ein paar Tage vergingen rascher als man gedacht, mit Einkäufen, Besorgungen, Vorbereitungen aller Art. Und eines Abends fuhren Georg und Anna nacheinander, in zwei Wagen, am Bahnhof vor und begrüßten sich gegenseitig in der Vorhalle zum Spaß mit großer Höflichkeit, wie entfernte Bekannte, die sich zufällig begegneten. »O mein Fräulein, was für ein glücklicher Zufall, reisen Sie vielleicht auch nach München?« »Jawohl, Herr Baron.« »Ei, wie trifft sich das gut. Und haben Sie etwa Schlafwagen, mein Fräulein?« »Jawohl, Herr Baron, Bett Nummer fünf.« »Nein, wie sonderbar, ich habe Nummer sechs.« Dann gingen sie auf dem Perron hin und her. Georg war sehr gut aufgelegt, und es freute ihn, daß Anna in ihrem englischen Kleid mit dem schmalkrempigen Reisehut und dem blauen Schleier aussah wie eine interessante Fremde. Sie schritten den ganzen Zug ab, bis zur Lokomotive, die außerhalb der Halle stand und in aufgeregten Stößen hellgrauen Dampf zum dunkeln Himmel sandte. Draußen auf der Strecke, im matten Schein, erglühten grüne und rote Laternen. Angstvolle Pfiffe kamen von irgendwoher aus der Weite, und langsam aus dem Dunkel hervor ringelte ein Zug sich in den Bahnhof. Ein rotes Licht schwankte zauberhaft auf der Erde hin und her, schien meilenweit zu sein, und wie es stille hielt, war es mit einem Mal ganz nah. Und draußen, schimmernd und im Unsichtbaren sich verlierend, zogen die Gleise ihren Weg, nach Nähen und Fernen, in die Nacht, in den Morgen, in den nächsten Tag, ins Unerforschliche.

Anna stieg ins Kupee. Georg blieb noch eine Weile draußen stehen und amüsierte sich über die Reisenden, die eilig Aufgeregten, die vornehm Ruhigen und die, die die Ruhigen spielten, und über die verschiedenen Abarten der Begleiter: die Wehmütigen, die Heitern, die Gleichgültigen.

Anna beugte sich aus dem Fenster. Georg plauderte mit ihr, tat so, als dächte er gar nicht daran abzureisen, stieg im letzten Moment ein. Der Zug fuhr ab. Auf dem Bahnsteig standen Leute – unbegreifliche Leute, die in Wien zurückblieben, und denen wieder all die andern unbegreiflich schienen, die nun ernstlich davonfuhren. Ein paar Taschentücher wehten, der Stationschef stand wichtig da und sandte dem Zug einen strengen Blick nach, ein Träger, in blau weiß gestreifter Leinenbluse hielt eine gelbe Tasche hoch und blickte gierig in jedes Fenster. Merkwürdig, dachte Georg beiläufig, es gibt Leute, die davonfahren und ihre gelben Taschen in Wien zurücklassen. Alles verschwand, Tücher, Tasche, Stationschef, Bahnhofsgebäude, das hell erleuchtete Signalhaus, die Gloriette, die flimmernden Lichter der Stadt, die kleinen, kahlen Gärten am Damm; und der Zug sauste weiter durch die Nacht. Georg wandte sich vom Fenster ab. Anna saß in der Ecke, hatte Hut und Schleier neben sich liegen; kleine, sanfte Tränen rannen ihr über die Wangen. »Aber«, sagte Georg, umschlang sie, küßte sie auf die Augen, auf den Mund. »Aber Anna«, wiederholte er noch zärtlicher und küßte sie wieder. »Was weinst du denn? Es wird ja so schön sein.«

»Du hasts leicht«, sagte sie, und über ihr lächelndes Antlitz flossen die Tränen weiter. –

Es wurde schön. Zuerst hielten sie sich in München auf. In den hohen Sälen der Pinakothek spazierten sie umher, standen entzückt vor alten dunkelnden Bildern, wanderten in der Glyptothek zwischen marmornen Göttern, Königen und Helden; und wenn Anna plötzlich ermüdet auf einem Diwan sich niederließ, fühlte sie Georgs zärtlichen Blick über ihrem Scheitel. Sie fuhren durch den englischen Garten, in breiten Alleen, unter noch entlaubten Bäumen, eng aneinander geschmiegt, jung und glücklich, und glaubten gern, daß die Menschen sie für Hochzeitsreisende hielten. Und sie hatten ihre Plätze nebeneinander in der Oper, bei Figaro, bei den Meistersingern, bei Tristan; und es war ihnen, als webte sich aus den geliebten Klängen ein tönend durchsichtiger Schleier um sie allein, der sie von allen andern Zuhörern abschied. Und sie saßen, von niemandem gekannt, an hübsch gedeckten Gasthaustischen, aßen, tranken und plauderten wohlgelaunt. Und durch Gassen, die den wunderbaren Hauch der Fremde hatten, wandelten sie heim, wo im gemeinsamen Zimmer die milde Nacht ihrer wartete, schlummerten beruhigt Wange an Wange ein, und wenn sie erwachten, lächelte vor dem Fenster ein freundlicher Tag, mit dem sie schalten durften wie es ihnen beliebte. Sie waren ineinander beruhigt, wie sies nie gewesen und gehörten einander endlich ganz. Dann reisten sie weiter, dem rufenden Frühling entgegen; durch gedehnte Täler, auf denen der Schnee glänzte und zerrann, dann, wie durch einen letzten, weißen Wintertraum, über den Brenner nach Bozen, wo sie mittags auf dem grellen Marktplatz in Sonnenstrahlen badeten. Auf den verwitterten Stufen des weiten Amphitheaters von Verona, unter einem kühlen Osterabendhimmel, fand sich Georg endlich der ersehnten Welt gegenüber, in die eine wahrhaft Geliebte zu geleiten ihm diesmal gegönnt war. Aus rötlich blassen Fernen, zugleich mit all den ewigen Erinnerungen, die auch andern Menschen gehörten, grüßte ihn die eigene, entrückte Knabenzeit; ja ein Hauch der verwehten Tage, da seine Mutter noch gelebt hatte, zitterte hier schon durch die fremdheimatliche Luft. Venedig empfing ihn gefällig, doch zauberlos, und wohlbekannt, als hätte er es gestern verlassen. Auf dem Markusplatz wurde er von flüchtigen Wiener Bekannten gegrüßt, und der verschleierten Dame an seiner Seite im weiten Mantel galt mancher neugierige Blick. Einmal nur, spät abends auf einer Gondelfahrt durch enge Kanäle, erstanden ihm die starrenden Paläste, die im Alltagslicht allmählich zu Kulissen entwürdigt waren, im schweren Prunk dunkelgoldener Vergangenheiten.

Dann kamen ein paar Tage in Städten, die er kaum oder gar nicht kannte, wo er als Knabe nur kurze Stunden, oder noch niemals geweilt hatte. Aus einem schwülen Paduaner Mittag traten sie in eine dämmrige Kirche und betrachteten langsam von Altar zu Altar wandelnd, die einfältig herrlichen Bilder, auf denen Heilige ihre Wunder vollbrachten und ihre Martyrien vollendeten. An einem trüben, regenschweren Tag fuhr sie ein rumpelnder, trauriger Wagen an einem ziegelroten Kastell vorbei, um das in einem breiten Graben graugrünliches Wasser stand, über einen Marktplatz, wo vor dem Kaffeehaus nachlässig gekleidete Bürger saßen; in stillere und traurige Gassen, wo zwischen den buckligen Steinen Gras wuchs; und sie mußten glauben, daß diese kläglich dahinsterbende Kleinstadt den schmetternden Namen Ferrara trug. In Bologna schon, wo die lebhaft aufblühende Stadt sich nicht am Stolz vergangener Herrlichkeiten genügen ließ, atmeten sie auf. Aber erst als Georg die Hügel von Fiesole erblickte, fühlte er sich wie von einer andern Heimat begrüßt. Dies war die Stadt, in der er aufgehört hatte Knabe zu sein, in der der Strom des Lebens durch seine Adern zu kreisen begonnen hatte. An manchen Plätzen tauchten Erinnerungen in ihm auf, die er für sich behielt; und in dem Dom, wo jenes Florentiner Mädchen unter dem Brautschleier den letzten Blick zu ihm gesandt, sprach er zu Anna nur von der Herbstabendstunde in der Altlerchenfelder Kirche, wo sie beide ahnungsvoll von dieser Reise zu reden begonnen hatten, die nun so unbegreiflich rasch Wirklichkeit geworden war. Er zeigte Anna das Haus, in dem er vor neun Jahren gewohnt hatte. Noch befanden sich unten die gleichen Kaufläden, in denen Korallenhändler, Uhrmacher, Spitzenhändler ihre Waren feilhielten. Da der zweite Stock zu vermieten war, hätte Georg ohne weiteres das Zimmer wiedersehen können, in dem seine Mutter gestorben war. Aber er zögerte lange, die Wohnung wieder zu betreten. Erst am Tage vor der Abreise, als dürfte er es doch nicht versäumen, und allein, ja ohne es Anna vorher zu sagen, betrat er das Haus, die Stiege, das Gemach. Der alt gewordene Portier führte ihn herum und erkannte ihn nicht. Es waren noch dieselben Möbel überall; das Schlafzimmer der Mutter sah noch genau so aus wie vor zehn Jahren, und in der gleichen Ecke, aus braunem Holz, mit der dunkelgrünen, silbergestickten Samtdecke, stand das gleiche Bett. Aber nichts von allem, was Georg erwartet hatte, regte sich in ihm. Ein müdes Erinnern, seichter und glanzloser als jemals sonst, rann ihm durch die Seele. Er verweilte lange vor dem Bett mit dem klar bewußten Willen, die Empfindungen, zu denen er sich verpflichtet fühlte, heraufzubeschwören. Er murmelte das Wort »Mutter«, er versuchte sichs vorzustellen wie sie hier gelegen war, in diesem Bett, viele Tage und Nächte lang. Er erinnerte sich der Stunden, in denen es ihr wohler gegangen war und er ihr hatte vorlesen oder im Nebenzimmer auf dem Klavier vorspielen dürfen, sah den kleinen runden Tisch in der Ecke stehen, an dem der Vater und Felician ganz leise gesprochen hatten, weil die Mutter eben eingeschlummert war; und endlich, wie eine Szene auf dem Theater, so nah und scharf, stieg jenes furchtbaren Abends Bild in ihm auf, an dem Vater und Bruder fortgegangen waren, er selbst ganz allein an der Mutter Lager saß, ihre Hand in der seinen... alles sah und hörte er wieder: wie sie mit einem Mal nach dem ruhigsten Tag sich übel befunden, wie er die Fensterflügel aufgerissen hatte und mit der lauen Märzluft das Lachen und Reden fremder Menschen ins Zimmer hereingedrungen war, wie sie endlich dalag, mit offenen und schon erloschenen Augen, das Haar, das noch vor wenigen Sekunden um Stirn und Schläfen wellig geflossen war – wirr und trocken auf dem Polster starrte, und der linke Arm nackt über den Bettrand herunterhing mit weit auseinander gekrampften Fingern. Mit so ungeheuerer Lebendigkeit war dies Bild ihm aufgestiegen, daß er sein eigenes Knabenantlitz im Geiste wiedersah und sein eigenes längst verhalltes Weinen wieder hörte... aber er fühlte keinen Schmerz. Es war doch zu lang vorbei. Zehn Jahr beinah.

»E bellissima la vista di questa finestra«, sagte plötzlich der Portier hinter ihm, öffnete das Fenster; – und mit einem Mal, wie an jenem längst entschwundenen Abend, tönten Menschenstimmen von unten herauf. Und im gleichen Augenblick hatte er die Stimme der Mutter im Ohr, so wie er sie damals vernommen, flehend, verengend... »Georg... Georg«... und aus der dunkeln Ecke, an der Stelle, wo damals die Kissen gelegen waren, sah er etwas Bleiches sich entgegenschimmern. Er trat zum Fenster und bestätigte: »Bellissima vista«. Aber vor der schönen Aussicht lag es wie dunkle Schleier. »Mutter«, murmelte er, und noch einmal: »Mutter«... meinte aber zu seiner eigenen Verwunderung nicht mehr die längst Begrabene, die ihn geboren; jener andern galt das Wort, die noch nicht Mutter war und die es in wenigen Monaten werden sollte... eines Kindes Mutter, von dem er der Vater war. Und nun klang das Wort plötzlich, als tönte etwas nie Gehörtes, nie Verstandenes, als schwängen geheimnisvoll singende Glocken in Zukunftsferne mit. Und Georg schämte sich, daß er allein hier herauf gekommen war, sich gleichsam hergestohlen hatte. Nun durfte er Anna nicht einmal erzählen, daß er hier gewesen.

Am nächsten Morgen fuhren sie nach Rom. Und während Georg von Tag zu Tag sich heimischer, genußfähiger, frischer fühlte, begann Anna immer häufiger an schwerer Müdigkeit zu leiden. Oft blieb sie allein im Hotel zurück, während er in den Straßen herumschweifte, den Vatikan durchwanderte, auf Forum und Palatin sich erging. Sie hielt ihn nie zurück, aber doch fühlte er sich bemüßigt, sie zu trösten, ehe er fort ging, und pflegte zu sagen: »Nun, das sparst du dir für ein anderes Mal auf, hoffentlich kommen wir bald wieder her.« Da lächelte sie in ihrer verschmitzten Art, als zweifelte sie gar nicht mehr daran, daß sie einmal seine Frau sein würde; und er selbst mußte sich gestehen, daß er diesen Ausgang nicht mehr für unmöglich hielt. Denn daß sie in diesem Herbst auseinandergehen sollten, mit einem Abschied für immer, das war ihm allmählich fast unfaßbar geworden. Doch sprachen sie in dieser Zeit nie mit klaren Worten von einer ferneren Zukunft. Er hatte Scheu davor und sie fühlte, daß sie gut daran täte, diese Scheu nicht aufzustören. Und gerade während dieser römischen Tage, in denen er oft stundenlang allein in der fremden Stadt umherspazierte, fühlte er, wie er Anna zuweilen in einer ihm nicht unangenehmen Weise entglitt. Eines Abends war er bis zur anbrechenden Dunkelheit zwischen den Trümmern der Kaiserpaläste umhergewandert, und von der Höhe des palatinischen Hügels, mit dem stolzen Entzücken des Einsamen, hatte er die Sonne in der Campagna versinken sehen. Dann hatte er sich eine Weile spazieren fahren lassen, längs der antiken Stadtmauer auf den Monte Pincio, und als er in seiner Wagenecke lehnend, über die Dächer hinweg den Blick zur Peterskuppel schweifen ließ, glaubte er, tief ergriffen, nun die erhabenste Stunde dieser ganzen Reise zu erleben. Erst spät kam er ins Hotel zurück, fand Anna am Fenster stehen, verweint, blaß, mit roten Flecken auf den gedunsenen Wangen. Seit zwei Stunden verging sie vor Angst, hatte sich eingebildet, daß er verunglückt, überfallen, umgebracht worden sei. Er beruhigte sie, fand aber nicht die herzlichen Worte, nach denen sie verlangte, da er sich in unwürdiger Weise gebunden und unfrei vorkam. Sie fühlte seine Kälte, gab ihm zu verstehen, daß er sie nicht genug liebte; er antwortete gereizt, beinahe verzweifelt; sie nannte ihn gefühllos und egoistisch. Er biß die Lippen zusammen, erwiderte nichts mehr und ging im Zimmer hin und her. Unversöhnt begaben sie sich in den Speisesaal, wo sie schweigend ihr Mahl einnahmen, und gingen zu Bette, ohne einander »Gute Nacht« zu sagen. Die nächsten Tage standen unter dem Schatten dieses Auftritts. Erst auf der Reise nach Neapel, allein im Kupee, in der Freude an der neuen Landschaft, durch die sie flogen, fanden sie einander wieder. Von nun an verließ er sie beinahe keinen Augenblick mehr, sie schien ihm hilflos und ein wenig rührend. Auf den Besuch der Museen verzichtete er, da sie ihn nicht begleiten konnte. Sie fuhren zusammen auf dem Posilipp und in der Villa Nationale spazieren. Auf der Wanderung durch Pompeji ging er, ein zärtlich geduldiger Ehemann, neben ihrem Tragsessel einher, und während der Führer in schlechtem Französisch seine Erklärungen vortrug, nahm Georg Annas Hand, küßte sie und versuchte mit begeisterten Worten sie an dem Entzücken teilnehmen zu lassen, das er selbst auch diesmal in der geheimnisvollen, dächerlosen Stadt empfand, die nach zweitausendjähriger Versunkenheit allmählich Straße für Straße, Haus für Haus dem unveränderlichen Lichte dieses blauen Himmels entgegenrückte. Und als sie an einer Stelle Halt machten, wo eben einige Arbeiter beschäftigt waren, mit vorsichtigen Schaufelschlägen eine gebrochene Säule aus der Asche hervorzutreiben, wies er Anna mit so leuchtenden Augen darauf hin, als wäre dieser Anblick ein Geschenk, das er ihr seit langem zugedacht, und als hätte er mit allem, was bisher geschehen, nur den Zweck verfolgt, sie in dieser Minute an diese Stelle hinzuführen und dieses Wunder schauen zu lassen.

In einer dunkelblauen Maiennacht lagen sie in zwei Segeltuchstühlen auf dem Verdeck des Schiffes, das sie nach Genua führte. Ein alter Franzose mit hellen Augen, der bei der Abendmahlzeit ihr Gegenüber gewesen war, blieb eine Weile neben ihnen stehen und machte sie auf die Sterne aufmerksam, die wie schwere silberne Tropfen im Unendlichen hingen. Einzelne nannte er mit Namen, höflich und verbindlich, als fühle er sich gedrungen, die funkelnden Himmelswanderer und das junge Ehepaar miteinander bekannt zu machen. Dann empfahl er sich und stieg in seine Kajüte hinunter. Georg aber dachte an seine einsame Fahrt auf gleichem Wege unter gleichem Himmel im vorigen Frühjahr, nach seinem Abschied von Grace. Von ihr hatte er Anna erzählt, nicht so sehr aus einem innern Bedürfnis, als um durch das Lebendigmachen einer bestimmten Gestalt und Nennung eines bestimmten Namens seine Vergangenheit von dem rätselhaft Unheimlichen zu befreien, in dem sie sich für Anna manchmal zu verlieren schien. Anna wußte von Labinskis Tod, von Georgs Gespräch mit Grace an Labinskis Grab, von Georgs Aufenthalt mit ihr in Sizilien, sogar ein Bild von Grace hatte er ihr gezeigt. Und doch, mit leichtem Schauer gestand er sich ein, wie wenig Anna selbst von dieser Epoche seines Daseins wußte, über die er sich beinahe rückhaltslos mit ihr ausgesprochen hatte; und er empfand, wie unmöglich es war, einem andern Wesen von einer Zeit, die es nicht miterlebt hatte, von dem Inhalt so vieler Tage und Nächte einen Begriff zu geben, deren jede Minute von Gegenwart erfüllt gewesen war. Er erkannte, wie wenig die kleinen Unaufrichtigkeiten, die er sich in seinen Erzählungen manchmal zuschulden kommen ließ, bedeuten mochten gegenüber dem unvertilgbaren Hauch der Lüge, den jede Erinnerung aus sich selbst gebiert, auf dem kurzen Weg von den Lippen des einen zu dem Ohr des andern. Und wenn Anna später einmal einem Freund, einem neuen Geliebten, so ehrlich, als sie nur vermochte, von der Zeit berichten wollte, die sie mit Georg verbracht, was konnte der am Ende erfahren? Nicht viel mehr als eine Geschichte, wie er sie hundertmal in Büchern gelesen: von einem jungen Geschöpf, das einen jungen Mann geliebt hatte, mit ihm herumgereist war, Wonnen empfunden und zuweilen Langeweile, sich mit ihm vereint gefühlt hatte und manchmal doch einsam; und selbst wenn sie versucht hätte, von jeder Minute Rechenschaft abzulegen... es blieb doch ein unwiderbringlich Vergangenes, und für den, der es nicht selbst erlebt hatte, konnte Vergangenes nie Wahrheit werden.

Die Sterne glitzerten über ihnen. Annas Kopf war langsam an seine Brust gesunken, und er stützte ihn sanft mit den Händen. Nur das leise Rauschen in der Tiefe verriet, daß das Schiff sich weiterbewegte. Nun ging es immer dem Morgen entgegen, der Heimat, der Zukunft. Zu klingen und zu kreisen begann die Zeit, die so lang stumm über ihnen geruht. Georg fühlte plötzlich, daß er sein Schicksal nicht mehr in der Hand hatte. Alles ging seinen Lauf. Und nun spürte ers durch den ganzen Körper gleichsam bis in die Haare, daß das Schiff unter seinen Füßen unaufhaltsam vorwärts eilte.

In Genua blieben sie nur einen Tag. Beide sehnten sich nach Ruhe, Georg überdies auch nach seiner Arbeit. Nur noch ein paar Wochen wollten sie an einem italienischen See verweilen, und Mitte Juni nach Hause fahren. Bis dahin war wohl auch das Haus bereit, in dem Anna wohnen sollte. Frau Golowski hatte ein halbes Dutzend passende entdeckt, genaue Berichte an Anna gesandt, wartete auf die Entscheidung, suchte aber für alle Fälle noch weiter. Von Genua reisten sie nach Mailand, doch ertrugen sie das laute Leben der Stadt nicht mehr, und schon am nächsten Tag fuhren sie nach Lugano.

Hier waren sie nun vier Wochen lang. Und Morgen für Morgen ging Georg den Weg, der ihn auch heute das heitere Ufer entlang, über Paradiso hinaus, an die Straßenbiegung zu einer immer neu ersehnten Aussicht führte. Nur noch wenige Tage des Aufenthalts standen bevor. So vortrefflich sich das Befinden Annas von Anfang an verhalten hatte, es war an der Zeit, die Nähe Wiens aufzusuchen, um allen Zufällen ruhig entgegensehen zu können. Die Tage in Lugano erschienen Georg als die besten, die er seit seiner Abfahrt aus Wien erlebt hatte. Und er fragte sich in manchem schönen Augenblick, ob es nicht vielleicht die beste Zeit seines ganzen Lebens wäre, die er hier verbrachte. Nie hatte er sich so wunschlos, in Voraussicht und Erinnerung so beruhigt gefühlt als hier, und mit Freude sah er, daß auch Anna vollkommen glücklich war. Erwartungsvolle Milde glänzte auf ihrer Stirn, ihre Augen blickten heiter und klug, wie in der Zeit, da Georg um ihren Besitz geworben. Ohne Unruhe, ohne Ungeduld, und, im Gefühl ihrer aufblühenden Mütterlichkeit weit hinausgetragen über die Erinnerung an heimatliche Vorurteile und über die Besorgnis vor künftigen Wirrnissen, sah sie der hohen Stunde beglückt entgegen, da sie dem wartenden Dasein als ein beseeltes Wesen wiedergeben sollte, was ihr Leib in einem halb unbewußten Augenblick der Wonne eingetrunken hatte. Freudig sah Georg in ihr die Gefährtin heranreifen, die er von Beginn an in ihr zu finden gehofft hatte, die ihm aber im Laufe der Tage manchmal entschwunden war. In Gesprächen über seine Arbeiten, die sie alle sorgfältig durchgesehen, über das Wesen des Gesangs, über allgemeinere musikalische Fragen, erschloß sie ihm mehr Wissen und Gefühl, als er je in ihr geahnt hatte. Ihm selbst, ohne daß er vieles niederschrieb, war zumute, als schritte er innerlich vorwärts. Melodien klangen in ihm, Harmonien kündigten sich an, und mit tiefem Verstehen erinnerte er sich einer Bemerkung Felicians, der einmal, nachdem er monatelang die Klinge nicht geübt, gesagt hatte: sein Arm wäre während dieser Zeit auf gute Gedanken gekommen. So erregte ihm auch die Zukunft keinerlei Sorgen. Er wußte, sobald er nach Wien kam, würde die ernste Arbeit beginnen, und dann lag in freier Aussicht sein Weg vor ihm.

Längst stand Georg an der Straßenbiegung, der seine Schritte zugestrebt hatten. Eine kurze, breite Landzunge, von niederm Gesträuch dicht bewachsen, streckte sich von hier aus in den See, und leicht sich senkend führte ein schmaler Weg in wenig Schritten zu einer von der Straße aus unsichtbaren Holzbank, auf der Georg sich immer für eine kurze Weile niederzulassen pflegte, eh er ins Hotel zurückkehrte.

Wie oft noch! dachte er heute unwillkürlich. Fünf oder sechs Male vielleicht und dann zurück nach Wien. Und er fragte sich, was denn wohl geschähe, wenn sie nicht zurückkehrten, wenn sie sich irgendwo in Italien, oder in der Schweiz häuslich niederließen und mit dem Kind, im doppelten Frieden der Natur und der Ferne sich ein neues Leben aufbauten. Was geschähe?... Nichts. Kaum daß irgend jemand sich sonderlich wundern würde. Und vermissen, mit Schmerz vermissen, als unersetzlich, würde niemand weder ihn noch sie. In dieser Überlegung ward ihm eher leicht als traurig zumute; nur verdroß es ihn, daß ihn manchmal doch eine Art Heimweh, ja sogar von Sehnsucht nach einzelnen Menschen überkam. Und auch jetzt, während er die Seeluft eintrank, sich von einem fremd-vertrauten Himmel überblauen ließ, das Vergnügen des Entrückt- und Alleinseins genoß, klopfte ihm das Herz, wenn er an die Wälder und Hügel um Wien, an die Ringstraße, den Klub, an sein großes Zimmer mit der Aussicht auf den Stadtpark dachte. Und es wäre ihm ein banges Gefühl gewesen, wenn sein Kind nicht in Wien zur Welt hätte kommen sollen. Plötzlich fiel ihm ein, daß ja heute wieder eine Nachricht von Frau Golowski da sein müsse, so wie manche andre Nachricht aus Wien, und so beschloß er noch vor der Rückkehr ins Hotel den Umweg über die Post zu nehmen. Denn, wie während der ganzen Reise, ließ er sich auch hier die Briefe nicht ins Hotel senden, weil er sich auf diese Weise freier gegenüber allen Zufälligkeiten fühlte, die von außen kommen mochten. Man schrieb ihm nicht eben viel aus Wien. Am meisten, bei aller Kürze, stand noch in den Briefen Heinrichs, was, wie Georg wohl fühlte, weniger einem besonderen Mitteilungsbedürfnis des Dichters zu danken war, als dem Umstand, daß es zu dessen Beruf gehörte, den Sätzen, die er schrieb, Lebenshauch einzuflößen. Die Briefe Felicians waren so kühl, als hätte er ganz jenes letzten innigeren Gespräch in Georgs Zimmer und des Bruderkusses vergessen, mit dem sie geschieden waren... Er mochte wohl vermuten, dachte Georg, daß seine Briefe auch von Anna gelesen wurden, und sich nicht veranlaßt fühlen, diese fremde Dame in seine Privatverhältnisse und Privatgefühle Einblick nehmen zu lassen. Nürnberger hatte Georgs Kartengrüße ein paarmal kurz erwidert, und auf einen Brief aus Rom, in dem Georg herzlich der gemeinsamen Spaziergänge im Vorfrühling gedacht, hatte Nürnberger mit ironisch entschuldigenden Worten sein Bedauern ausgesprochen, daß er auf jenen Wanderungen Georg so viel von seinen eigenen Familienverhältnissen erzählt hatte, die den andern doch absolut nicht interessieren konnten. Vom alten Eißler war ein Brief nach Neapel gelangt, der berichtete, daß eine Vakanz an der Detmolder Hofbühne im nächsten Jahre wohl nicht vorauszusehen, daß Georg aber durch den Grafen Malnitz eingeladen wäre, als erwünschter Gast den Proben und Vorstellungen anzuwohnen, bei welcher Gelegenheit sich vielleicht ein näheres Verhältnis für die Zukunft anbahnen ließe. Georg hatte höflich gedankt, war aber vorläufig wenig geneigt, auf eine so vage Aussicht hin in der fremden Stadt längern Aufenthalt zu nehmen, und entschlossen gleich nach seinem Eintreffen in Wien sich nach einer sichern Stellung umzusehen.

Sonst klang persönlich zu ihm aus der Heimat nichts herüber. Die ihm zugedachten Grüße, die Frau Rosner sich verpflichtet fühlte, den Briefen an die Tochter beizufügen, drangen nicht an sein Herz, trotzdem sie in der letzten Zeit nicht mehr an den »Herrn Baron«, sondern an »Georg« gerichtet waren. Er fühlte ja doch, daß die Eltern Annas einfach hinnahmen, was sie nicht ändern konnten, daß sie aber im Innersten gedrückt und ohne die wünschenswerte Einsicht geblieben waren.

Wie gewöhnlich nahm Georg den Rückweg nicht das Ufer entlang. Durch enge Gassen, zwischen Gartenmauern, dann unter Bogengängen, endlich über einen großen Platz, von wo der Blick auf den See wieder frei war, gelangte er vor das Postgebäude, dessen hellgelber Anstrich die Sonne blendend widerstrahlte. Eine junge Dame, die Georg schon von weitem auf dem Trottoir auf- und abgehen gesehen hatte, blieb stehen, als er näher kam. Sie war weiß gekleidet und trug einen weißen Sonnenschirm aufgespannt über einem breiten Strohhut mit rotem Band. Wie Georg schon ganz nahe war, lächelte sie, und nun sah er mit einem Mal ein wohlbekanntes Gesicht unter dem weißen, getupften Tüllschleier. »Ist es möglich, Fräulein Therese«, rief er aus und nahm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

»Grüß Sie Gott Baron«, erwiderte sie harmlos, als wäre diese Begegnung das selbstverständlichste von der Welt. »Wie geht's der Anna?«

»Danke, sehr gut. Sie werden sie doch jedenfalls besuchen?«

»Wenn's erlaubt ist.«

»Jetzt aber sagen Sie mir nur, wie kommen Sie hierher! Sind Sie am Ende...« und er ließ seinen Blick erstaunt über ihre ganze Erscheinung gleiten, »auf einer Agitationsreise?«

»Das kann man eigentlich nicht sagen«, erwiderte sie und schob ihr Kinn vor, ohne daß diese Bewegung diesmal, wie sonst, ihr Antlitz verhäßlicht hätte. »Es ist eher ein Ferienausflug.« Und ihr Gesicht glänzte vor innerm Lachen, als sie Georgs Blick auf das Tor gerichtet sah, aus dem eben, in weißschwarz gestreiftem Flanellanzug, Demeter Stanzides hervortrat. Er lüftete den weichen, grauen Hut zum Gruß und reichte Georg die Hand. »Guten Morgen Baron, es freut mich Sie wiederzusehen.«

»Auch ich freu mich sehr, Herr Stanzides.«

»Kein Brief für mich?« wandte sich Therese an Demeter.

»Nein Therese, nur für mich ein paar Karten«, und er steckte sie in die Tasche.

»Seit wann sind Sie denn hier?« fragte Georg und versuchte sich möglichst wenig überrascht zu zeigen.

»Gestern Abend sind wir angekommen«, entgegnete Demeter.

»Direkt aus Wien?« fragte Georg.

»Nein, aus Mailand. Wir sind schon acht Tage auf Reisen.«

»Zuerst waren wir in Venedig, wie es üblich ist«, ergänzte Therese, zupfte lächelnd an ihrem Schleier und hing sich an Demeters Arm.

»Sie sind ja viel länger fort«, sagte Demeter, »eine Karte von Ihnen sah ich vor ein paar Wochen bei Ehrenbergs. Haus der Vettier, Pompeji.«

»Ja, ich hab eine wunderbare Reise hinter mir.«

»Nun wollen wir uns ein wenig im Ort umsehen«, sagte Therese, »und im übrigen den Baron nicht weiter aufhalten, der sich jedenfalls Briefe abholen will.«

»O das eilt nicht. Und wir sehen uns doch jedenfalls wieder?«

»Wollen Sie uns nicht das Vergnügen machen, Baron«, sagte Demeter, »heute im Europe, wo wir abgestiegen sind, mit uns zu lunchen?«

»Danke sehr, es geht leider nicht. Aber... aber vielleicht paßt es Ihnen mit... mit... uns im Parkhotel zu dinieren, ja? Um halb sieben, wenn's Ihnen recht ist. Ich lasse im Garten decken unter einem wunderschönen Platanenbaum, wo wir gewöhnlich speisen.«

»Ja«, sagte Therese, »wir nehmen dankend an. Ich komme vielleicht schon eine Stunde früher, um mit Anna in Ruhe zu plaudern.«

»Schön«, erwiderte Georg, »sie wird sich sehr freuen.«

»Also auf Wiedersehen, Baron«, sagte Demeter, und indem er seine Hand herzlich drückte, fügte er hinzu: »Bitte meinen Handkuß zu Hause.«

Therese winkte Georg vergnügt mit den Augen zu, dann schlug sie mit Demeter den Weg zum Ufer ein.

Georg schaute ihnen nach. Hätt ich sie nicht gekannt, dachte er, Demeter hätte sie mir ohne weiteres als seine Gattin, geborene Prinzessin X. vorstellen können. Wie merkwürdig! diese zwei!... Dann trat er in die Halle, ließ sich am Schalter seine Sendung geben und sah sie flüchtig durch. Das erste, was ihm in die Augen fiel, war eine Karte von Leo Golowski. Es stand nichts drauf als: »Lassen Sie sich's wohl ergehen, lieber Georg.« Dann war eine Karte da aus dem Waldsteingarten im Prater. »Haben soeben auf den verehrten Ausreißer unsre Gläser geleert. Guido Schönstein, Ralph Skelton, die Rattenmamsell.«

Die Briefe von Felician, Frau Rosner, Heinrich wollte Georg erst zu Hause mit Anna zusammen in Ruhe lesen. Auch drängte es ihn, die Neuigkeit von der Ankunft des sonderbaren Paares Anna mitzuteilen. Er war nicht ganz ohne Unruhe. Denn Annas bürgerliche Instinkte wachten zuweilen in ganz unerwarteter Weise wieder auf. Jedenfalls beschloß Georg, ihr seine Einladung an Demeter und Therese als etwas vollkommen Selbstverständliches mitzuteilen und war bereit für den Fall, daß sie der Sache gekränkt, geärgert oder auch nur unsicher gegenüberstände, eine solche Auffassung mit Entschiedenheit abzulehnen. Er selbst freute sich auf den Abend, der ihm bevorstand, nach den vielen Wochen, die er ausschließlich in Annas Gesellschaft verbracht hatte. Beinahe spürte er ein wenig Neid auf Demeter, der sich nun auf einer so sorgenlosen Vergnügungsreise befand, in der Art wie er selbst sie im vorigen Jahr mit Grace gemacht hatte. Dazu kam, daß ihm Therese besser gefallen hatte als je. So vielen schönen Frauen er im Laufe der letzten Monate begegnet war, noch niemals, trotzdem Anna an weiblicher Anmut immer mehr verlor, war er in ernste Versuchung geraten. Heute zum erstenmal wieder fühlte er Sehnsucht nach neuen Umarmungen.

Bald sah er durch die Gitterstäbe des Balkons das hellblaue Morgenkleid Annas schimmern. Georg pfiff, nach gewohnter Art sich anzukündigen, die ersten Takte der Beethovenschen fünften Symphonie, und gleich erschien über dem Geländer das blasse, sanfte Gesicht der Geliebten, und ihre großen Augen begrüßten ihn lächelnd. Er hielt das Päckchen Briefe in die Höhe, sie nickte befriedigt, dann eilte er rasch hinauf in ihr Zimmer auf den Balkon. Sie lehnte in einem Strohsessel vor dem Tischchen mit der grünlichen Schutzdecke, auf dem sie eine Handarbeit liegen hatte, so wie es beinahe immer der Fall war, wenn Georg von seinem Morgenspaziergang nach Hause kam. Er küßte sie auf die Stirn und auf den Mund. »Also was glaubst du, wem ich begegnet bin?« fragte er hastig.

»Else Ehrenberg«, antwortete Anna, ohne Besinnen.

»Wie kommst du drauf? Wie sollte die hierher geraten?«

»Nun«, sagte Anna pfiffig, »man könnte dir ja nachgereist sein.«

»Man könnte, aber man ist es nicht. Also rat weiter. Dreimal darfst du.«

»Heinrich Bermann.«

»Aber keine Idee. Von dem ist übrigens ein Brief da. Also weiter.«

Sie dachte nach. »Demeter Stanzides«, sagte sie dann.

»Wie, weißt du am Ende etwas?«

»Was soll ich denn wissen? Ist er wirklich da?«

»Donnerwetter du wirst ja ganz rot, o!« Er kannte ihre Schwärmerei für Demeters melancholische Kavaliersschönheit, fühlte aber keine Spur von Eifersucht.

»Also ist es Stanzides?« fragte sie.

»Ja, allerdings ist es Stanzides.«

»Daran kann ich aber mit dem besten Willen nichts Merkwürdiges finden.«

»Das ist auch nicht merkwürdig. Aber wenn du draufkommst, mit wem er da ist...«

»Mit Sissy Wyner.«

»Aber...«

»Nun, ich dachte verheiratet... das kommt ja auch vor.«

»Nein, nicht mit Sissy und nicht verheiratet, sondern mit deiner Freundin Therese und so unvermählt als möglich.«

»Na geh...«

»Wie ich dir sage, mit Therese. Seit acht Tagen sind sie auf Reisen. Was sagst du dazu? In Venedig und Mailand waren sie. Hattest du eine Ahnung davon?«

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht. Du weißt doch, daß mir Therese nur einmal flüchtig geschrieben hat, und du hast ja mit bekanntem Interesse ihren Brief gelesen.«

»Du bist mir nicht genug erstaunt.«

»Gott ich hab immer gewußt, daß sie einen guten Geschmack hat.«

»Demeter auch«, rief Georg mit Überzeugung aus.

»Wahlverwandtschaften«, bemerkte Anna mit hochgezogenen Brauen und häkelte weiter.

»Und das ist nun die Mutter meines Kindes«, sagte Georg mit heiterm Kopfschütteln.

Sie sah ihn lächelnd an. »Wann kommt sie denn zu mir?«

»Nachmittag so gegen sechs, denk ich. Und... und Stanzides kommt auch... etwas später. Sie werden mit uns speisen. Du hast doch nichts dagegen?«

»Dagegen? Ich freu mich sehr«, erwiderte Anna einfach. Georg war angenehm berührt. Wenn Anna in ihrem Zustand Stanzides in Wien begegnet wäre!... dachte er. Wie doch das Entrücktsein aus der gewohnten Umgebung befreit und reinigt!

»Was haben sie denn Neues erzählt?« fragte Anna.

»Wir sind kaum drei Minuten zusammen gestanden, bei der Post. Er läßt dir übrigens die Hand küssen.«

Anna antwortete nichts, und Georg schien es, als wandelten ihre Gedanken wieder auf sehr bürgerlichen Wegen.

»Bist du schon lang aufgestanden? – fragte er rasch.

»Ja, ich sitze schon eine ganze Weile da auf dem Balkon. Ich hab sogar ein bissel geschlummert, die Luft hat so was Ermattendes heute, und geträumt hab ich auch.«

»Wovon hast du denn geträumt?«

»Vom Kind«, sagte sie.

»Wieder?«

Sie nickte. »Ganz dasselbe wie neulich. Hier auf dem Balkon bin ich gesessen, auch im Traum, und hab's in meinem Arm gehabt, an der Brust...«

»Was war's denn? Ein Bub oder ein Mädel?«

»Ich weiß nicht. Ein Kind halt. So klein und so süß. Und eine Wonne war das... Nein, ich geb's nicht her«, sagte sie dann leise mit geschlossenen Augen.

Er stand ans Geländer gelehnt und fühlte den leichten Mittagswind in seinen Haaren streichen. »Wenn du's nicht fortgeben willst«, sagte er, »so sollst du's auch nicht tun.« Und es fuhr ihm durch den Sinn: wär es nicht sogar das bequemste, wenn ich sie heiratete?... Aber irgend etwas hielt ihn zurück, es auszusprechen. Sie schwiegen beide. Er hatte die Briefe vor sich hin auf den Tisch gelegt. Nun nahm er sie und öffnete einen. »Sehen wir zuerst, was deine Mutter schreibt«, sagte er.


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