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IV. Die Grenzen der Astrologie.

Man darf von der Astrologie nur das verlangen, was sie wirklich anzuzeigen vermag. Ihr Gebiet ist nach oben und nach unten abgegrenzt. Die Geburts- sowie die progressive Astrologie sagt nur aus über das Irdische und zwar in persönlicher Ausprägung. Was darüber und darunter liegt, steht nicht im Horoskop. Jenseits des Horoskops liegt das höhere Selbst, unterschieden von der Menschlichkeit, in der es sich derzeit verkörpert hat; diesseits des Horoskops liegt das Unpersönliche, Gattungsmäßige, in welches ein Mensch mit einem bestimmten Horoskop geboren wird. Rasse und Milieu sind aus keinem Horoskop zu erkennen. Ein Negerkind, das in einem Gebärhaus genau gleichzeitig mit einem weißen oder gelben Kind zur Welt käme, würde zwar dieselbe Dynamik des äußeren Schicksals, d. h. die gleichen Förderungen und Hemmungen haben als jenes, aber sie gänzlich anders ausleben, gebunden an die geringere Entwicklungsstufe der schwarzen und der vielleicht höheren der gelben Rasse. Dasselbe gilt vom Milieu und von der Heredität, die nicht zu beseitigen ist, auch falls ein Mensch sofort nach der Geburt in ein höheres Kulturmilieu versetzt würde. Haben ein Arbeiterkind, ein Bürgerkind und ein kleiner Prinz z. B. denselben guten Aspekt im X. Feld, etwa einen gutbestrahlten Jupiter, der hohen Aufstieg anzeigt, so werden alle drei aufsteigen, aber nur bei dem Prinzen wird das vielleicht einen Thron bedeuten, bei dem Bürgerkind etwa einen hohen Rang im öffentlichen Leben, bei dem Proletarierkind eher eine einflußreiche Stellung in seiner Partei.

Man hat besonders in England auch einige Versuche mit Tierhoroskopen gemacht. Bei einem Huhn wird ein Merkuraspekt (Intelligenz) nicht fühlbar sein, wohl aber bei einem Hund; dagegen will man gerade bei Hühnern die Stärke der Vitalität, Fruchtbarkeit usw. aus Geburtshoroskopen erkannt haben. Natürlich kann, ein Aspekt nur wirken, wo eine Empfänglichkeit ist. Das X. Feld (Stellung) eines Huhns wird gleichgültig sein, weil ein Huhn keine Stellung hat, aber ein Hund kann eine Stellung haben. Aus dem X. und IV. Feld (Heim) seines Horoskops wird wohl zu ersehen sein, was er für einen Herrn finden wird. Kurzum: nur da kann ein Planet wirken, wo Empfänglichkeit ist. Totes wird auch durch die Sonne nicht lebendig, wohl aber wird Lebendiges durch sie gefördert. Wo kein Hirn ist, bleibt Merkur stumm. Wo keine Kultur ist, wird auch der beste Merkur-Venusaspekt keine Künstler hervorbringen. Daher ist es wertvoll für den Astrologen, Rasse, soziales Milieu, Herkunft und Geschlecht der ihn Befragenden zu kennen.

Das Horoskop des Kaisers Karl von Österreich z. B., der ohne die Ermordung des zum Thronfolger bestimmten Erzherzogs Franz Ferdinand nicht auf den Thron gekommen wäre, zeigt einen sehr guten Aspekt für große Stellung: Mond, Herr des X. Feldes, selber im X. Haus, im Zeichen seiner Herrschaft: Krebs, in Sextilaspekt mit Venus, dem Geburtsgebieter, aus dem I. Feld; aber der Mond hat dort Konjunktionen mit Mars und Saturn und ein Quadrat mit Jupiter. Ferner beherrscht Saturn das Ende (IV. Feld). Das alles mußte Aufstieg und schnellen Fall herbeiführen. Kein Astrologe, der nicht weiß, um was für ein Milieu es sich handelt, konnte aus der Nativität sehen, wie sich dieses dynamisch so sicher vorbestimmte Schicksal als menschliches Leben offenbaren würde. Weiß man aber, daß es sich um einen nahen Verwandten eines Thronfolgers handelt, dann konnte die Astrologie durch Kombination folgendermaßen vorgehen: Was gab es bei einem Erzherzog für eine Aufstiegmöglichkeit? Als Heerführer? Dazu ist in diesem Horoskop der Mars viel zu schwach. Im beweglichen Wasserzeichen Krebs hat er etwas Haltloses. Darum war der Aufstieg weniger der eigenen Energie, als einem äußeren Einfluß oder Ergebnis zu danken. Einer Frau? Das Ehehaus ist wie das Haus der Finanzen von demselben schlechten Mars beherrscht. So lag es bei den sicheren Anzeichen für hohen Aufstieg und Sturz nahe, an eine zeitweilige Erhebung auf den Thron zu denken.

Auch aus dem Horoskop des Kaisers Nero konnte niemand von vornherein erkennen, zu was für einem Ungeheuer sich dieser Mensch auswachsen würde. Prüft man aber die Nativität, wissend, daß es die Neros ist, so wird man alle Vorbedingungen finden, die einen solchen Charakter ermöglichen, nicht aber unbedingt erfordern. Um Grausamkeit festzustellen, werden wir zunächst den Mars prüfen. Wir finden ihn in seiner Vernichtung in dem materiell-sinnlichen Zeichen Stier in Konjunktion mit Venus. Das ist ein bekanntes Anzeichen für geschlechtliche Ausschweifung. Ferner hat Mars eine Opposition zu Jupiter, was an sich eine Verachtung von Recht und Gesetz bedeuten kann. Jupiter selbst steht in dem Marszeichen Skorpion, wo seine Lebensfülle oft in Maßlosigkeit und Unzucht entartet. Dazu ist er im Feld der Vergnügungen (V.). Das allein würde aber noch nicht das Neronische erklären. Hinzu kommt, daß die Sonne auf der Spitze des großen Unglücksfeldes (XII.) ein Quadrat empfängt von Saturn aus einem Eckhaus. Wenn zu diesem Aspekt kein günstiger Strahl von Jupiter, Venus oder Mond hinzukommt, so bedeutet er das Äußerste an Egoismus und Grausamkeit. Aller Segen der Sonne ist unterdrückt. Aber auch der Mond (Gefühle) kann nicht helfen, da er ohne guten Aspekt von dem schlechten Mars beherrscht wird. Erst die Verbindung der sexuellen Depravation mit solcher Herzens- und Gemütsleere macht den hemmungslosen Wollüstling. Berücksichtigt man die hohe äußere Stellung, die das von Jupiter beherrschte Haus des Berufs verrät, mit Mond und Glücksrad darin, so ist der Charakter des Kaisers Nero als Möglichkeit gegeben. Der dreifach bestrahlte Merkur beim Aszendenten zeigt noch obendrein die hohe intellektuelle Begabung dieses Menschen, und Venus im eigenen Zeichen Stier im XI. Feld (Geselligkeit) gibt außer der Neigung zu derben Tafelfreuden jene entschieden künstlerische Richtung, die den Sterbenden ausrufen ließ: qualis artifex pereo! Das Ende ist gänzlich von Saturn beherrscht. Man sieht: die Elemente zu einem Nero sind alle im Horoskop zu finden, aber sie hätten von einem andern Selbst anders kombiniert werden können. Dieses transzendentale Selbst, das nach brahmanischer Lehre zu seiner höchsten Bewußtwerdung zahllose Leiber durchlaufen muß, d. h. ebenso viele Horoskope erlebt, ist das große X, das sich astrologisch nicht erkennen läßt, so wie man nie voraussagen kann, wie ein bestimmter Dichter einen bestimmten Stoff behandeln wird, auch wenn man genau weiß, in welcher Richtung der Dichter begabt und daß der Stoff ein dichterischer ist. Ja, der Dichter wird es selbst zunächst nicht wissen.

Das Horoskop Napoleons I. hat natürlich einen großartigen Aspekt für Erhöhung: die Sonne im X. Feld im Zeichen Löwe, wo sie herrscht; aber sie hat ein Quadrat mit Jupiter im Aszendenten, was unter anderm die Illegitimität der Erhöhung andeutet, denn Jupiter ist das Gesetz. Jeder Astrologe hätte der Madame Lätitia zu der Sonnenstellung ihres Kindes an der Wiege mit aufrichtigem Herzen gratulieren können, denn wer die Sonne im Löwen im X. Feld hat, auch wenn verletzt, wird unbedingt aufsteigen. Aber viele berühmte Männer haben dies und sind noch lange keine Napoleons. Hier müssen unbedingt nicht im Horoskop sichtbare Faktoren berücksichtigt werden: Rasse, Heredität, Milieu. Jemand, der aus dem »Slums« einer nordischen Großstadt stammt und in einem verhetzten und verdorbenen Milieu aufwächst, wird auch mit einem solchen Aspekt trotz allem Aufstieg in der Regel kein »Herr« werden. Ein Mensch aber mit korsischem Banditenblut, erzogen in der Luft leidenschaftlichen und oft heroischen Bürgerkriegs, hat eine ganz andere Empfänglichkeit für die Strahlen der Sonne im Löwen.

Alle Aspekte und Direktionen können sich aktiv oder passiv auslösen. Der in einem Haus anwesende Planet soll die aktive, der das Zeichen an der Spitze beherrschende Planet die passive Auslösung anzeigen. Hat ferner ein Mann vom Range Napoleons zu einer bestimmten Zeit seiner Laufbahn, sagen wir, eine schlechte Marsdirektion, so wird sie sich ganz anders auslösen als bei einem Forscher, einem Studenten oder einem Zuhälter. Aktiv: Napoleon befiehlt die Erschießung des Herzogs von Enghien, passiv: verliert eine Schlacht; der Forscher macht vielleicht einen tollkühnen Vorstoß oder erleidet einen Unglücksfall auf einer gefährlichen Expedition, der Student hat ein Duell und der Zuhälter gerät in eine Messeraffäre. Man wird in allen diesen Fällen das Marsisch-Gewaltsame erkennen, doch in ganz verschiedener Tönung, dabei habe ich noch nicht einmal den Fall erwähnt, daß es sich auch geistig auslösen kann, etwa in einer kühnen Entdeckung, die der Natur, oder in einem Kunstwerk, das der Phantasie gewissermaßen abgezwungen wird. Mir selbst ist es geschehen, daß ich während einer schlechten Marsdirektion zu meiner progressiven Sonne, ohne es vorsätzlich so eingerichtet zu haben, in einem Roman unter starker persönlicher Erregung einen Brudermord darstellte – ein ausgesprochenes Marsproblem. Äußerlich bekam ich jene Direktion zwar auch zu spüren, und da ich die Sonne im Feld des Berufes habe (X.), ebenfalls im Beruf, aber auf seiner praktischen Seite. Es handelte sich um eine ausgesprochene marsische Dissonanz, aber von verhältnismäßig untergeordneter Art. Offenbar war die Wirkung abgeschwächt durch ihre Spaltung ins Geistige und Praktische. Die Möglichkeit solcher Auswirkung ist in meinem Horoskop angezeigt, da das Feld der höheren Geistigkeit (IX.) zwar von Jupiter (als Herrn des Zeichens Fische) beherrscht, aber größtenteils von dem Marszeichen Widder eingenommen wird. Auch jene Marsdirektion war erweislich gegeben, aber das Wie der Auswirkung hängt von der nicht im Horoskop zu findenden Entwicklungsstufe der eigentlichen Individualität ab.

 

Zu der völligen Unerforschbarkeit dieser eigentlichen Individualität kommt also als Hauptgrenze der Astrologie nach unten, daß Charakter, Gemüt, Intelligenz, Wille, deren Elemente deutlich im Horoskop zu finden sind, sich verschieden je nach Rasse, Heredität und Milieu abtönen. Vor kurzer Zeit las ich ein neues Buch über Astrologie. Mit gutem Gewissen will ich für die Behauptung einstehen, daß es kein gutes Buch ist. Der Verfasser bringt nun ahnungslos ein höchst wertvolles Material bei. Auf der ersten Seite befindet sich sein Bild, seine Handschrift und sein Horoskop. Die Handschrift zeigt auf den ersten Blick den Menschen geringer Bildung: unsichere, von der Vorlage des Schulunterrichts nicht losgekommene Züge; was davon abweicht, ist nicht eigenartig, sondern konventionell schnörkelhaft, geschmacklos. Um dies zu sehen, braucht man nicht Graphologe zu sein. Meine geringen graphologischen Kenntnisse erlauben mir immerhin in der Schrift außerdem Anständigkeit, Gutmütigkeit, Sorgfalt, Fleiß zu erkennen. Die Photographie zeigt ein ausgesprochen unbedeutendes, aber angenehmes Gesicht, wie man es häufig in den Berufen findet, die, ohne Bildung und Erziehung vorauszusetzen, doch dauernd mit höheren Schichten in Berührung bringen (Gasthausangestellte, Friseure, Verkäufer, kurz Leute, die gewohnt sind, »ein besseres Publikum zu bedienen«). Nun aber das Horoskop! Bessere Aspekte für Intelligenz braucht ein ernster Gelehrter nicht zu haben, um Wertvolles zu schaffen. Merkur (Verstand) steht in einem Saturnzeichen und bildet ein Trigonaspekt mit Saturn selbst im Aszendenten. Das gibt ernstes, konzentriertes Denken und Ausdauer. Dazu kommt ein Sextil zu der Venus-Jupiterkonjunktion. Das verleiht dem Denken Harmonie und verrät unbedingt Gutgläubigkeit. Alle diese Eigenschaften verraten sich auch in dem Buch. Der Mann hat sich ernstlich mit Astrologie beschäftigt, manche gute Einzelbeobachtung gemacht; aber was ihm gänzlich fehlt, ist dasjenige geistige Niveau, das unerläßlich ist zum Betreiben einer Wissenschaft, die wie die Astrologie alle Höhen und Tiefen des Menschlichen umspannt und die früher die königliche Wissenschaft genannt wurde.

Geschieht es einmal, daß ein Selbst die Grenzen seiner menschlichen Heredität sprengt, dann suchen die Menschen das Wunder der Göttlichkeit im elenden Gewand doch immer wieder dadurch zu erklären, daß sie auch auf eine geheime, äußerlich königliche Abstammung schließen.

Niveau – geistiges wie seelisches – kann ein Mensch niemals mit seinen persönlichen Eigenschaften erringen, die sich im Horoskop angedeutet finden. Er kann es mit ihrer Hilfe nur entwickeln, wenn ihm seine rassenmäßige und soziale Abkunft dafür den »Sinn« verleiht. Auch der sogenannte Geistesadel, der etwas anderes ist als intellektuelle Begabung, ist in erster Linie erblich, genau wie der anerkannte Geburtsadel, der ebenfalls etwas anderes ist als persönliche Anständigkeit. Daß sich durch gute Abkunft übertragene Möglichkeiten entwickeln, bewirkt am meisten ein entsprechendes Kindheitsmilieu, in viel geringerem Maß die persönliche Begabung. Geistes- oder auch Seelenadel ist insofern nicht identisch mit dem anerkannten Geburtsadel, als er überall da vorkommt, wo die Eltern den Kindern eine Überlieferung der Rasse, vor allem seelischer, dann auch ethischer und ästhetischer, in letzter Linie intellektueller Kultur mitgeben, auf der das Individuum dann persönlich etwas aufbauen kann, während das Proletarierkind zwar ebenso begabt sein mag, wie das Kind anderer Stände, aber diesen Unterbau nicht vorfindet. So weit der geborene Proletarier es dann auch persönlich bringen mag, das Niveau wird ihm immer fehlen, das heißt der Sockel, von dem aus persönliches Streben überhaupt erst den Anschluß an die bereits erreichte Kulturhöhe findet. Hat nun ein voraussetzungslos Emporgestiegener für diese Dinge wenigstens den Instinkt, so wird er nicht revolutionär alle Sockel umstürzen, d. h. das Kulturniveau zu beseitigen streben, sondern er wird sich getrieben fühlen, eine Frau von etwas Niveau auszuwählen, so daß seine Kinder bereits höher beginnen können als er selbst. Wenn man sich genau vergegenwärtigen will, was ich meine, so frage man sich einmal, was eigentlich letzten Endes so peinlich wirkt in Gesprächen mit intelligenten Menschen ohne eigentliche Bildung, aber mit dem modernen Wissensdurst, der sie von Buch zu Buch treibt. Es ist die Niveaulosigkeit, die man nie empfindet, wenn z. B. ein Bauer oder Handwerker alten Schlags zu philosophieren beginnt. Seine Ausdrucksweise ist viel ungeschickter, als die eines intelligenten Kellners oder Buchdruckers, aber was er sagt, läßt einen Unterton vernehmen, der dem überlieferten Niveau seines Standes zu danken ist. Würde man ihn aber ermuntern, seine oft originellen Gedanken aufzuschreiben oder gar zu drucken, sofort wären sie niveaulos, denn für diese Stufe sind sie nicht reif. Dasselbe erlebt man beim Aufzeichnen eigenartiger Worte aus Kindermund; gedruckt wirken sie immer abgeschmackt. Umgekehrt können die Vorzüge des Niveaus überliefert sein, aber von einer irregeführten jüngeren Generation geflissentlich vernachlässigt werden.

Man wird nun verstehen, was gemeint ist, wenn ich zusammenfassend sage, daß alle die generellen Bedingungen, durch die das geistige und seelische Niveau eines Menschen bedingt sind im Gegensatz zu seinen persönlichen Eigenschaften wie Verstand und Moralität, nicht im Horoskop zu finden sind. Auch läßt das Jahreshoroskop so wenig das Alter eines Menschen erkennen, wie das Geburtshoroskop das Geschlecht.

Welcher Art ist nun das Niveau, von dem aus eine so vielseitige Wissenschaft wie Astrologie mit Nutzen betrieben werden kann? Dazu bedarf es mehr als einer durch günstige Merkur-Saturnstellung bedingten gut funktionierenden Intelligenz, nämlich der nur durch Generationen züchtbaren Empfindlichkeit für alle jene Nuancen, die es bei der verständnisvollen Beurteilung geistiger, seelischer, ästhetischer, moralischer, religiöser, gesellschaftlicher Dinge zu beachten und zu kombinieren gilt. Man braucht dazu weder Gelehrter, noch Künstler, noch Politiker, noch Weltmann, weder Mystiker noch Gläubiger zu sein, aber von allem muß man selber so viel haben, daß man diese sämtlichen Lebensmöglichkeiten innerlich miterfahren kann. Dazu gehört eine Vorfahrenreihe, die schon viele Lebensformen bewußt verwirklicht hat. Auch schadet es gar nichts, wenn sich darunter einige bedenkliche Exemplare befunden haben. Die dunkeln Gewalten, die diese haben scheitern lassen, bewußt auch in sich zu fühlen, macht Tiefblicke möglich, welche eine lange Ahnenreihe protestantischer Theologen und pflichttreuer Beamten nicht zu vermitteln pflegt. Vielleicht wird man mir einwenden, es seien doch auch Dichter und Künstler aus engsten Verhältnissen aufgestiegen. Ganz recht, aber die engen Verhältnisse meine ich auch nicht eigentlich. Zunächst können sie doch ein sehr hohes Gemüts- und Gefühlsniveau bilden, wenn das Herkommen der Eltern auf Überlieferungen dieser Art beruht. Dazu tritt wie gesagt immer das große X der transzendenten Individualität. Aus Handwerker- und Kleinbürgerkreisen sind daher viele Menschen von Niveau hervorgegangen, denen es gelang, ihren Gesichtskreis über die ursprüngliche Enge auszudehnen. Gerade das kann mit Hilfe persönlicher Begabung sehr leicht geschehen, falls diese Enge einen Inhalt an Werten besaß, nicht voraussetzungslos war. Nicht die Weite seines Horizonts, aber sein inneres Niveau hat z. B. Hebbel mitgebracht, der Sohn eines Maurers. Der Maurer war damals noch kein proletarischer Arbeiter, sondern ein angesehener Handwerker. Was aber die neueren sogenannten Proletarierdichter betrifft, so sind sie, falls sie sich als wirkliche Dichter erweisen, kaum wirkliche Proletarier gewesen. Solche Legenden lassen sich leicht zerstören. Einem der bekanntesten bin ich zufällig begegnet. Sein sogenanntes Proletariertum bestand darin, daß sein Vater, ein gebildeter Mann in mittlerer Stellung, Bankerott gemacht hat, und der Sohn eine Zeitlang tatsächlich gezwungen war, in einer Fabrik zu arbeiten. Wohl hat er dadurch das Proletariat kennengelernt, aber sein schlichtes, etwas gedrücktes Wesen hatte bürgerliches Niveau, geistig wie seelisch, und gar nichts Proletarisches. Die Enge der Verhältnisse schließt also Niveau keineswegs aus, bildet sich doch gerade das dichterisch-künstlerische Talent, wie Goethe sagt, in der Stille. Aber so wie sich der Charakter nur »im Strom der Welt« entwickelt, so auch der Geist, der Charaktere erkennen will. Das mitgebrachte Niveau, von dem aus dies geschehen kann, ist wiederum anderer Art als das, welches Dichter und Künstler ermöglicht. Es verlangt weltkundige Vorfahren und ein Kindheitsmilieu, das geistiger Beweglichkeit günstig war. Darum beginne ein Bildungshungriger nicht mit Astrologie, sondern Wissende und Erkennende mögen sie als Kuppel über ihre Welt- und Bucherfahrungen wölben.

Der hervorragende französische Astrologe H. Selva sagt in seinem »Traité théorique et pratique d'Astrologie généthliaque« (Paris, Bibliothèque Chacornac, 11, Quai St. Michel, 1900) in wörtlicher Übersetzung: »Mir scheint unbestreitbar, daß die gewohnte Häufigkeit und Vielfältigkeit der Eindrücke die Vibrationsfähigkeit der Nervenzentren steigert. Je mehr unter dem erzieherischen Einfluß des Milieus deren Beweglichkeit zunimmt, desto beschleunigter, bestimmter und feiner werden die Eindrücke des Individuums, desto mannigfacher und umfassender wird seine Fühl- und Denkweise. Dies ist eine geläufige Beobachtung in gebildeten Milieus im Gegensatz zu primitiven. Ist nun diese größere Beweglichkeit einmal in eine Heredität mit den ihr entsprechenden formenden Eigenschaften eingetreten, so ist offensichtlich, daß ein bei der Geburt diese Möglichkeiten mitbringendes Individuum mit vielfältigeren intellektuellen und psychischen Fähigkeiten ausgestattet ist, als ein anderes, bei dem die Hirnsubstanz noch nicht zu demselben Grad von Sensibilität und Vibrationsfähigkeit gelangt ist: auf denselben Anlaß werden solche Individuen sehr verschieden reagieren. Dieselben astrologisch bestimmbaren intellektuellen und moralischen Anlagen in zwei Individuen, deren Organismen in diesem Punkt verschieden sind, werden daher sehr merkliche Unterschiede aufweisen: sie werden bei dem ersten viel ausgedehnter, vielfältiger, umfassender sein, bei dem zweiten viel enger, einfältiger, unentwickelter. Und das ist sehr wichtig bei astrologischen Urteilen, indem es zur aufmerksamen Erwägung der Möglichkeiten der Heredität und des rassemäßigen wie gesellschaftlichen Milieus zwingt, worin das Individuum geboren ist.

Dies gilt natürlich ebenso von der Entwicklung ungünstiger wie günstiger Anlagen. Ein schlechter Aspekt z. B. zwischen Venus und Mond bedingt, vorzüglich beim weiblichen Geschlecht, das besonders dem Mondeinfluß unterliegt (so wie das männliche Geschlecht der Sonne), Hang zur Unordnung und Unsauberkeit. Ist nun eine Frau in einem Milieu aufgewachsen, wo ihr Reinlichkeit zur zweiten Natur werden mußte, so wird sich dieser Aspekt gewiß nicht sichtbar an ihrer Person, wohl aber im Inneren ihrer Schubladen und Kästen zeigen. Wächst dagegen ein Mädchen mit einem guten Mond-Venusaspekt, der Nettigkeit, Ordnung, Reinlichkeit verleiht, in einem Milieu auf, wo man z. B. den Gebrauch der Nagelbürste noch nicht kennt, so wird auch sie sie nicht neu erfinden, aber sie wird sich durch relative Sauberkeit auszeichnen, etwas auf ihr Äußeres und ihre Sachen halten, jedoch immer nur im Rahmen ihres Milieus. Kommt sie dann z. B. als Dienstmädchen in ein gutes Haus, so wird sie zu denen gehören, die im Handumdrehen gute Manieren und Körperpflege lernen, während eine Dame der Gesellschaft mit dem schlechten Mond- Venusaspekt im Falle eines äußeren Zusammenbruchs wehrlos dem Schmutz und der Unordnung der Armut preisgegeben sein dürfte.

Es gibt keinen Aspekt, der, besonders wenn er aus dem Zusammenhang gerissen wird, den berufenen Astrologen, den wahren Dichter, Künstler, Staatsmann, Heerführer usw. mit Sicherheit erkennen läßt, aber es gibt mehrere Stellungen und Aspekte, die solche Gestalten möglich oder unmöglich machen, und ebenso ist es mit dem Erkenner großen Stils und dem Heiligen. Große Willenskraft, Kühnheit im Handeln und Denken, hohe Begabung verschiedener Art, ernste Frömmigkeit, äußerer Erfolg sind, wie gesagt, feststellbar, aber die großen Führer der Menschheit wären aus einigen Dutzenden von Horoskopen mit solchen großartigen Anzeichen doch nicht zu erkennen. Kennt man auch Rasse, Heredität und Milieu eines Menschen, dann bleibt noch immer das undurchdringliche Rätsel, das X des transzendenten Selbst, der wahren Selbstheit, die war, ehe der Leib wurde und erst durch die Geburt in Abhängigkeit geriet von der Gestirnstellung eines irdischen Augenblicks, und die den Augenblick überdauert, in dem eine Gestirnstellung diesem Leib die Lebensmöglichkeit abgeschnitten haben wird.


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