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Fünftes Kapitel.
Gottes Finger

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Am frühen Nachmittage des Samstages ging Dolly unruhig durch die schattigen Parkanlagen des väterlichen Gartens. Ihr Herz schwankte zwischen Reue und Scham, Ungeduld und Erwartung, und selbst das allerliebste Geplauder des kleinen Paul, der unter Ninas treuer Hut im warmen Sande herumkrabbelte, vermochte nicht, sie aus dem Wirrwarr ihrer Gedanken und Gefühle zu erlösen. Immer stand das bleiche Gesicht des Vaters vor ihr. Er hatte in der letzten Zeit zusehends gealtert, und das Herzleiden, woran er seit langem gelitten, hatte bedenklich zugenommen. Und gestern Abend hatte er so liebevoll zu ihr gesprochen und immer wiederholt, wie er sich darauf freue, seiner lieben Tochter das herrliche Thal von Petropolis mit dem zauberschönen Kaiserschlosse, mit den rieselnden Wassern, den schattigen Wäldern und üppigen Blumengärten zu zeigen. Und wie lange hatte die Stiefmutter diesen Morgen vor der verschlossenen Thüre von Dollys Schlafzimmer gestanden und geduldig gewartet, bis es dieser gefallen hatte, Antwort zu geben und ihr Märchen von den Kopfschmerzen zu erzählen! Wie liebevoll hatte sie sich dann bereit erklärt, von der Fahrt zurückzubleiben und die erkrankte Tochter zu pflegen! Siedend heiß stieg das Blut in des Mädchens Wangen und Stirn bei der Erinnerung an ihre häßliche Lüge. Das unverdiente, arglose Vertrauen einer reinen Seele zeigt uns den eigenen Unwert ja erst im grellsten Lichte! Selbst Ninas Mitleid und des unschuldigen Kindes Liebkosungen waren ihr zur nagenden Pein, zu verkörperten Gewissensbissen geworden: es war ihr, als mache sie ihre ganze Umgebung zu Mitschuldigen an ihrer Lüge. Freilich war sie den ganzen Vormittag über, seit der kleine Paul erwacht war, eifrig bemüht gewesen, dem Kinde, das schon längst – und nicht mehr heimlich – ihr Liebling geworden, die Trennung von der Mutter zu erleichtern, um so einen Teil ihrer Schuld gegen die Eltern abzutragen. Aber das liebenswürdige Kind machte ihr die Buße gar leicht, und sie fühlte wohl, daß der Stachel nicht aus ihrem Herzen weichen würde, bis sie durch ein offenes Bekenntnis gegen Vater und Mutter sich von ihren Heimlichkeiten befreit haben würde. »Ich werde es nie mehr thun; es soll das erste und das letzte Mal sein!« beruhigte die Eigenliebe das verblendete Mädchen. »Ich habe ja immer krumme Wege und Winkelzüge gehaßt!« blähte sich der Stolz in ihrer Seele, und die Neugier und Erwartung der Dinge, die beim Theaterspiel kommen sollten, drängten die besseren Empfindungen wieder tief in den Hintergrund ihres Herzens.

»Eine Dame und ein Herr wünschen das gnädige Fräulein zu sprechen,« berichtete endlich, als der Nachmittag in den Abend überzugehen begann, Felix, indem er mit der breiten Hand rückwärts zum Hause wies. Daher folgten ihm schon in vertraulicher Sicherheit Isabella und der Sonnenjüngling Pompejo auf dem Fuße. Dollys Gruß war unwillkürlich merklich kühler, als sie beabsichtigt hatte: das dreiste Wesen Isabellas und der alberne, schmachtende Ausdruck in dem bleichen, bartlosen Gesichte ihres Bruders reizten und ärgerten sie.

Sie führte ihren Besuch in den auf der Rückseite der Villa liegenden Gartensalon und gab Nina den Befehl, Erfrischungen in Gestalt von Sorbet, Konfekt und eingemachten Früchten zu bringen.

»Wie herrlich kühl es hier ist nach der schwülen Hitze draußen, und wie reizend Sie die Hausfrau machen, Dolly!« schmeichelte Isabella. »Sorbet ist mein Leben, keine Seligkeit ohne diesen Göttertrank!« rief sie mit frivolem Lachen und in theatralischer Haltung.

»Für mich ist das Feuer Ihrer Augen ein berauschender Göttertrank, und die Rede Ihres Mundes süßer als Ambrosia, schönste Dolly!« beteuerte der klassische Pompejus und setzte sich vor lauter Begeisterung und schwärmerischer Weltentrücktheit mitten auf den unvermeidlichen chapeau claque, den er vorhin hinter sich auf den Gartenstuhl gestellt hatte. Das allgemeine Gelächter, das diesem Knalleffekt folgte, überhob Dolly der Antwort auf die grobe Schmeichelei. Als aber Pompejo sich von seiner Niederlage erholt hatte und selbstgefällig fragte, wie denn die Königin seines Herzens den poetischen Minnegruß ihres getreuen Sängers aufgenommen, sagte Dolly lachend: »So gut, daß ich ihn dem Wind, dem himmlischen Kind, mitgegeben habe, damit es die Botschaft über Land und Meer davontrage von den Botokuden und Patagoniern bis zu den Finnen und Kirgisen.«

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»Ihre Grausamkeit, schöne Herrin, schlägt Ihren armen Sklaven in immer festere Bande!« seufzte Pompejo, während Isabella, das Wortscharmützel der beiden benutzend, mit einer solchen Hingabe ihren Sorbet schlürfte, als sei sie eigens zu diesem Zwecke auf die Welt gekommen.

»Was Sklavenketten! Wir leben hier im Lande der Freiheit, Senhor Morenas! Minnesänger, Lautenschläger, klassische und moderne Sklaven gehören heute nur noch auf die Bühne; aber noch spielen wir nicht Theater.«

»Hoffentlich finde ich dort mehr Gnade in den Augen meiner stolzen Herzensdame!« flüsterte der geschlagene Jüngling und versuchte über einem Becher Sorbet das Weh seines Herzens zu vergessen.

»Ehe ich zur Probe komme,« wandte Dolly sich mit sichtlicher Verlegenheit an Isabella, »möchte ich einen Blick in das Lustspiel werfen, das aufgeführt werden soll.«

»Aha! Es soll die Censur passieren! Ew. Hochehrwürden wollen sich überzeugen, daß es nichts enthält, was den nonnenhaften Sinn einer deutschen Klosterschülerin beleidigen könnte!« spottete Isabella, der die zweite Portion Sorbet einen wahren Männermut und eine mehr als gewöhnliche Offenherzigkeit verliehen hatte. Dolly biß sich gekränkt auf die Lippen, und ihre Augen flammten, aber sie nahm schweigend das Manuskript aus der Hand Pompejos entgegen.

»Es ist bisher im Portugiesischen ungedruckt; ich selbst habe es aus dem Französischen übersetzt und hoffe, daß es Ihren Beifall finden wird.«

Dolly las den Titel.

Ach Gott, das war ja das Stück, an dem die Stiefmutter neulich beim Frühstück eine so vernichtende Kritik geübt. Sie hatte in ihrer deutschen Zeitung die Inhaltsangabe und Rezension gelesen, und konnte nicht genug beklagen, daß es in einem wahren Siegeslaufe über die Bühnen aller Länder ging und die Gemüter der Jugend vergiftete. Aber die Stiefmutter war gewiß ihrer ganzen Veranlagung nach spießbürgerlich prüde. Ihr Urteil konnte nicht maßgebend sein für ein junges Mädchen der Jetztzeit, einer Zeit, die so großherzig und vorurteilsfrei ist, und in der die Frau auch nicht mehr lediglich auf die geistigen Brosamen angewiesen bleibt, die von den Tischen der Männer fallen. Dolly wollte sich selbst ihr Urteil bilden.

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»Verzeihen Sie einen Augenblick,« bat sie ihre Besucher, »ich werde draußen im Laubgang die Sache schnell durchlesen und gleich wieder bei Ihnen sein.« Sie fürchtete sich heimlich vor dem, was sie finden würde, und scheute sich, die spöttischen Augen Isabellas und die dreisten ihres Bruders in ihrem Gesichte lesen zu lassen. Nina saß mit dem Kleinen in der Nähe des Hauses. Sie bemühte sich, ihn einzuschläfern und sang ein altes Kinderlied. Die Melodie und mehr noch die Worte fielen glühend in Dollys Seele, wie heiße Thränen, geweint um verlorenes Kinderglück, geweint an den verschlossenen Thüren, davor der Engel mit dem Flammenschwert steht, und hinter denen der Paradiesgarten der Kinderunschuld in Gottes Frieden liegt. Nina sang:

Da droben in Gottes Garten
Da stehet ein gülden Haus;
Da fliegen viel tausend Engel
Mit lichten Flüglein heraus.

Da droben im güldenen Hause
Da wiegt ihr holdseliges Kind
Die heilige Jungfrau Maria
In Schlummer süß und lind.

Da droben in Gottes Garten
Da stehen viel Lilien weiß,
Die müssen blühen und duften
Zu Gottes Ehr' und Preis.

In meines Kindes Herzchen
Schutzenglein pflanzet ein Reis
Aus Gottes Liliengarten,
Ein Blümlein duftend und weiß.

Nun schlumm're, mein Knäblein, und träume
Von dem himmlischen Garten schön,
Darfst ja mit dem Lilienseelchen
Vor dem Angesicht Gottes steh'n.

Dolly konnte nicht lesen; sie mußte der Sängerin lauschen. Auch der Kleine machte keine Miene zum Einschlafen, sondern krähte vor Freude beim Anblick der großen Schwester und rief: »Dodo tomm! Dodo!« Dolly pflückte einen blühenden Jasminzweig, um den Kleinen zu beruhigen, und da ihr die Gegenwart Ninas bei ihrer Lektüre lästig war, schickte sie die alte Getreue in die Rua d'Ajuda zum Früchtehändler, um Bananen und Ananas zu holen, mit denen sie Isabellas Herz zu erfreuen gedachte. »Auf den Kleinen werde ich schon achten!« antwortete sie auf eine besorgte Frage der Wärterin. Dann fing sie trotz der zunehmenden Dunkelheit zu lesen an, während das Kind sich an dem Blütenzweig erfreute. Aber Dolly las nicht lange, da trieb Scham und Schrecken ihr das Blut ins Gesicht, und voll Entsetzen schloß sie das Heft. Nein, so schlimm hatte sie sich das Stück nicht gedacht! Da hatte die Stiefmutter doch recht gehabt! Ein anständiges Mädchen konnte so etwas nicht lesen oder sehen, geschweige denn spielen! Wie tief war sie gesunken, daß die beiden da drinnen ihr die Zumutung stellen konnten! Ach, wie war so schnell alles in ihr und um sie ganz anders geworden! Was würde ihre brave Hilde, was die frommen Klosterfrauen von ihr denken, wenn sie wüßten, wie es um sie stand, und über welchem Abgrund sie schwebte! Und da fiel ihr das warnende Wort ihres Vaters ein und der wohlgemeinte Rat des getreuen Onkel Georges, der in der Zartheit seines Herzens so weit ging, das Bild der verlorenen Jugendgeliebten zu verhüllen, um die Gefahr zur Sünde aus Phantasie und Seele zu bannen! Und in diesem Machwerk setzte man sich leichtsinnig über Pflicht und Recht, über Sitte und Sittlichkeit, über Gottes Gebot vom Sinai hinweg. »Es giebt keine Schranke; Neigung und Wunsch sind Gebot!« Das war die Lösung des modernen Lustspiels. Und in ähnlichen Stücken sollte Dolly mitspielen und sich ihre Ansichten fürs Leben darnach bilden! Wie unendlich hoch standen da die braven, altfränkischen Menschen, die still und gehorsam in den engen Schranken gingen, die Gottes Finger durch Sittlichkeit und Sitte ihnen vorgezeichnet, über der frevelnden, selbstsüchtigen Menge, die keinen anderen Herrn kennt als das eigene Ich und keine andere Pflicht als die Befriedigung ihrer niedrigen Gelüste! »Und das Ende vom Lied!« mahnte das Gewissen leise in Dollys Seele, und es war ihr, als schaue ihre Mutter sie an mit verklärten Augen und sagte: »Ich erwarte dich im Himmel, Kind!«

Ja, das war es! Lieber wollte sie hier zu den Einfachen, Schlichten gehören, zu den Zurückgebliebenen, wie die ungläubige Welt so spöttisch sagt, als die Selbstachtung, den Herzensfrieden und die Seligkeit des Himmels aufs Spiel setzen.

Rasch entschlossen ging sie in den Gartensaal zu den Geschwistern Morenas zurück.

»Ich kann nicht mitgehen und noch weniger mitspielen,« sagte sie kurz und legte das Manuskript vor Pompejus auf den Tisch hin. »Es ist ein ganz sittenloses Stück und geht gegen mein Gewissen.«

»Ach so, gegen Ihr Gewissen!« höhnte Isabella. »Ich dachte, hier im Lande der Freiheit kenne man keinen Gewissenszwang, wenn man überhaupt das Dasein eines solch unbequemen Dinges wie ein Gewissen annehmen will! Indessen, um nicht auf den Verkehr mit einer so liebenswürdigen Freundin verzichten zu müssen, werden wir wohl unser Repertorium umgestalten und gewissensfeste Stücke nehmen müssen! Was sagen Sie zu ›Athalie›‹ oder zu dem Trauerspiel ›die Makkabäischen Brüder‹? Oder ist das am Ende zu alttestamentarisch, und würden Sie vorziehen, auf unserer Bühne des Passionsspiel von Oberammergau zu sehen? Kann alles gemacht werden!« ...

»Schweigen Sie um Gottes willen, Isabella, Sie reden lästerlich! ... Ich habe eingesehen, daß mein Wunsch, an den Theatervorstellungen teilzunehmen, unhaltbar ist ... Ich würde doch auf die Dauer kein Vergnügen daran finden ... Sie sehen, ich bin sehr launenhaft!« ...

»Sie sind ein Engel, und Isabella ist eine alte Lästerzunge!« rief Pompejus, der vor Angst zitterte, Dollys Freundschaft zu verlieren. »Wir werden alles thun, um Ihre Achtung wieder zu gewinnen, und ich darf Ihnen zum Beweise meiner Ergebenheit nächstens wohl eine Reihe von Lustspielen vorlegen, die den Papst von Rom zufriedenstellen sollen. Daß sie aufgeführt werden, wenn Sie es wünschen, verbürge ich Ihnen!« Dolly erwiderte nichts; sie machte nur eine abwehrende Handbewegung und blickte zerstreut aus dem Fenster.

Isabella erhob sich. »Es ist die höchste Zeit, Pompejo,« sagte sie ungeduldig, »die Freunde erwarten uns, und wir haben kein Recht, sie vor den Kopf zu stoßen, um hier einer Moralvorlesung beizuwohnen.«

In diesem Augenblick trat Nina mit einer Schale voll der köstlichsten Früchte ein. Sie sah unruhig und besorgt aus und fragte Dolly leise: »Ist das Kind nicht hier, Senhorita?«

»Nein,« rief diese ganz bestürzt, »es spielte vorhin mit einer Blume dort im Gartenwege, und ich vergaß leider, es mit in den Saal zu nehmen.« Wie ein Pfeil flog sie zur Thür hinaus. Isabella, Pompejus und alle Lustspiele und Theater der Welt waren vergessen über der Angst um das Verbleiben des Kindes.

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Die Geschwister entfernten sich sogleich: niemand beachtete sie. Nina war schon ins Haus gerannt, so schnell ihre alten Füße sie trugen; sie durchstöberte jeden Raum, jeden Winkel und brachte auch die übrigen Dienstboten auf die Beine, um nach dem Kleinen zu suchen, aber alles war vergebens. Dolly war unterdes in einer wahren Herzensangst durch Garten und Park gelaufen und hatte mit den zärtlichsten Worten nach dem Brüderchen gerufen; sie war zitternd und zagend um die große Fontaine in der Mitte des Gartens gerannt, war sogar in die Hundehütte gekrochen; aber es fand sich keine Spur von dem Kinde. Weinend kam die alte Wärterin aus dem Hause zu ihr, und beide spähten nun die Straße hinauf und hinab, ob sich nicht das helle Sommerkleidchen des kleinen Paul irgendwo aus dem unheimlichen Düster abhöbe, das die Abendschatten in die verlassene Straße warfen. Aber alles war dunkel, öde und still.

»Solch kleines Kind kann nicht weit weggelaufen sein!« tröstete Dolly sich und Nina; doch da fuhr wie ein greller Blitzstrahl der gräßliche Gedanke durch ihr Hirn: »Aber es könnte weggetragen, es könnte gestohlen sein!« Mit einem lauten Jammerschrei stürzte sie weiter in die Straße, in den beginnenden Regen hinaus.

»Bleibe hier, Nina,« gebot sie, »und spähe nach dem Kinde, und wenn die Eltern gleich zurückkehren, so sage ihnen so schonend wie möglich, ich sei zu Onkel Georges geeilt, um mit seiner Hülfe den Kleinen zu finden.«

»Nehmen Sie doch Felix zum Schutze mit,« rief die geängstigte Alte; aber Dolly war schon um die Ecke verschwunden. Sie beachtete nicht, daß ihr unbedecktes Haar wirr im Winde flatterte, daß der Regen, der dichter und dichter fiel, ihr dünnes Battistkleid durchnäßte, daß ihr Herz zum Zerspringen klopfte vor wahnsinniger Angst und Eile; sie stürmte weiter dahin durch die engen, dunkeln Gassen der Altstadt, wo soeben erst vereinzelt die Laternen angezündet wurden. Sie sah nicht die Blicke des Mitleids der Vorübergehenden, noch das freche Starren neugieriger Gaffer sich auf sie heften; all ihre Gedanken, alle Wünsche ihres Herzens waren auf das verlorene Brüderchen gerichtet.

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»Ach, lieber Gott,« stöhnte sie, »wie schwer hast du mich gestraft! Hilf, o hilf mir nur einmal noch um der armen Eltern willen!« ... Schon fühlt sie die kühle Meerluft; sie steht am Hafen, und da hinten leuchten die Lichter des vornehmen Quai da Gloria. Barmherziger Himmel! Was will die Menge dort, welch ohrenzerreißender Lärm schlägt an ihr Ohr? Der Pöbel wälzt sich heran, ihr entgegen. Sie drückt sich scheu in die Ecke eines Thorwegs. Die laute Musik, die ihr jetzt entgegentönt, erleichtert und zerreißt ihr zugleich das Herz. Fahrendes Volk ist es, Kunstreiter der niedrigsten Sorte, die sogleich ihre Spiele im Freien vor der armen Hafenbevölkerung beginnen werden. Es schwindelt Dolly; langsam kriecht eine namenlose Furcht über ihr Herz. Wie wenn diese Leute den armen Kleinen gestohlen hätten! Sie hatte in ihrer Kindheit schon ähnliche Schreckensgeschichten erzählen hören ... Vorbei jagt sie in wilder Hast an den Athleten und Clowns, an den geschminkten und aufgeputzten Frauenzimmern, an den Bären, Kameelen und Affen; sie jagt dahin, und der Abendwind jagt mit ihr und hüllt sie in immer dichtere Regenschauern, und gräßlich widerhallen in ihrer Seele die Trommelwirbel und abgerissenen Töne der Trompeten ...

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Im traulichen Wohngemache des Onkel Georges waren die Vorhänge herabgelassen, und die große Hängelampe verbreitete ihr mildes, angenehmes Licht. Der Samovar auf der gedeckten Abendtafel dampfte, und die quirlenden Wasserbläschen raunten sich heimlich ihre Geschichten zu. Die alte Dame war soeben beschäftigt, dem geliebten Bruder das Brötchen mit feinem Fleische zu belegen. Ihr gutes Gesicht glänzte vor Behagen, und sie that ihre lieb gewordene Hausfrauenarbeit mit sorglicher Umständlichkeit. Der »Ritter« saß sinnend in seinem Sessel. Er lauschte dem Wehen des Windes und dem Klatschen der Regentropfen gegen die Scheiben.

»Wir werden ein schlimmes Wetter haben,« meinte er und befestigte den Zipfel seiner Serviette sorglich über seinem feinen, gestickten Jabot.

»Desto behaglicher ist's daheim,« sagte seine Schwester. Aber plötzlich erhob sie sich hastig aus dem Sofa; denn in diesem Augenblick ertönte schrill und heftig die Klingel an der Hausthüre. Gleich darauf stürzte Dolly herein, bleich, verwildert, durchnäßt, Todesangst in den Mienen. Es dauerte eine Weile, ehe die beiden alten Leutchen verstanden hatten, weshalb sie so spät und in diesem Aufzuge erschien. Mademoiselle Virginie hatte ihr während ihrer abgerissenen Erzählung Haar und Hände trocken gerieben und sie gezwungen, ein paar Tropfen Thee zu sich zu nehmen; aber schon stand Dolly wieder an der Thüre und flehte aufs neue: »Kommen Sie mit zu den Cirkusleuten, Onkel Georges, die haben gewiß das Kind gestohlen!« Der Ritter sagte nichts; aber er hatte schon seinen Regenmantel umgeworfen und stand bereit. Die »Brillenschlange« aber hatte den ersten besten Umhang und eine große dunkele Kapuze aus ihrer Garderobe gerissen und Dolly so vollständig darin eingehüllt, daß nur ihr todblasses Gesichtchen aus der Vermummung hervorsah.

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»Ich bestelle einen Wagen,« rief die alte Dame und flog zur Küche.

»Wir kommen so noch schneller zum Ziel,« entgegnete ihr Bruder und faßte Dollys bebende Finger in seine feste, warme, treue Hand. So eilten die beiden dahin, in die Nacht hinaus.

Vor einem niedrigen Gebäude, welches hart am Strande zwischen allerlei Baracken, Werkstätten, alten Theertonnen und Hausen von Schiffsseilen lag, machten sie Halt. Dolly war so erschöpft, daß es ihr schien, als bewege sie sich in einem schweren Traum; sie fragte nicht einmal, wohin ihr Begleiter sie führe und merkte nicht, daß sie in die nächste Polizeistation statt zu dem Wagen der Kunstreiter gingen.

Es war kein Flur in dem armseligen, niedrigen Bauwerk; man trat gleich von der Straße in einen langen, schlecht beleuchteten und ungelüfteten Saal, worin auf niederen Bänken allerlei abenteuerliche Gestalten lagen oder saßen. Ein schrecklicher Qualm schlug den Eintretenden entgegen. Ein paar dienstthuende Polizei-Sergeanten schritten auf und nieder, und am hinteren Ende des Saales in einer Art von Bretterverschlag saß der Aufseher und machte seine Notizen. Mr. Delaporte wurde zu diesem Beamten gewiesen und machte ihm seine Mitteilungen über das verlorene Kind. Hier war nichts bekannt geworden. Ein paar kleine Mestizenkinder allerdings waren soeben hier eingeliefert worden; aber nicht als verloren. Sie waren von ihren Eltern in die Nacht hinaus gejagt worden, weil sie nicht genug Pesetas erbettelt hatten. Der Vorsteher erbot sich, sogleich an die Station der Geheimpolizei zu telephonieren, damit sofort mehrere Beamte nach allen Richtungen die Stadt sowie den Cirkus nach dem verlorenen Kindlein durchsuchten.

Mit schwerem Herzen wandte sich Mr. Delaporte zu dem Saale zurück. Die Bilder, die er hier sah, vermehrten nur noch seine Betrübnis. Da in der Ecke, auf einem Bündel Maisstroh wand sich ein alter Neger im Delirium, und neben ihm kauerte ein weißhaariges Bettelweib, eine jener ewigen Wanderer auf der weiten Welt, die erst an ihrem letzten Lebenstage ein Heim und eine Ruhestatt finden im Grabe. Ihr eingefallenes Knochengesichtchen mit den blauen Lippen war schon vom Finger des Todes gezeichnet. Diesen beiden Jammergestalten gegenüber machten sich ein paar auffallend gekleidete Frauenspersonen breit. Sie waren jung und stattlich; aber in ihren dunkeln Augen brannte das Feuer, das seinen Schein aus der Hölle nimmt, und um ihren vollen Mund lag ein Zug von Gemeinheit. Fast an der Thüre saßen scheu an einander geschmiegt die beiden unglücklichen Mestizenkinder, und neben ihnen war Dolly vor Erschöpfung auf die Bank hingesunken.

Leise nahm Onkel Georges ihre Hand in die seine; aber bestürzt fuhr er zurück: das junge Mädchen war bewußtlos. Die Angst und der schreckliche Ort waren zu viel für sie gewesen. Ohne Zögern ließ Mr. Delaporte einen Wagen herbeiholen, und bald hielt der besorgte alte Herr mit seinem Schützling vor der Villa Matilda. Während Dolly aus dem Wagen gehoben wurde, erwachte sie aus ihrer Ohnmacht. Sie schaute in das besorgte Gesicht der herbeigeeilten Stiefmutter, und wie ein Blitzstrahl zu dunkler Nachtzeit weithin die Gegend jäh erhellt, so rief das zurückkehrende Gedächtnis plötzlich den ganzen Jammer der vorigen Stunde vor ihre Seele.

»Mama, Mama, kannst du mir verzeihen?« schrie sie auf, stürzte zu Boden und umschlang bebend die Kniee der weinenden Frau.

»Mein armes, armes Kind!« rief die Mutter und zog Dolly mit Gewalt vom Boden in ihre Arme, »beruhige dich; es ist alles wieder gut: der Kleine ist gefunden!« ...

Da ging ein heftiges Zittern durch des Mädchens Gestalt, und sie weinte so bitterlich, als solle alles Leid und alle Qual von neuem beginnen, und der Onkel Georges und die Mutter mußten mit ihr weinen.

Nina drängte sich jetzt schluchzend heran, um ihre junge Herrin zu Bette zu bringen; aber die Mutter wollte es sich nicht nehmen lassen, diesen Dienst selbst der Tochter zu erweisen, der geliebten Tochter, die das Leid dieses Tages so schnell und unerwartet an ihr Herz geführt hatte. Als Dolly sorglich gebettet in den Kissen lag, mußte ihr die Mutter immer und immer wieder erzählen, wie Nina mit dem schlaftrunkenen Kinde auf dem Arme ihr lachend und weinend bei der Rückkehr aus Petropolis entgegengestürzt sei und unter vielen unverständlichen Reden erzählt habe, daß man den lieben kleinen Paul soeben erst schlafend hinter den schweren Repsgardinen des Gartensalons gefunden habe. Das Kind mußte also Dolly auf dem Fuße gefolgt sein, als sie mit dem Lustspiel in der Hand zu den Geschwistern zurückkehrte, und sich dann, von allen unbemerkt, aus Scheu vor den Fremden schnell hinter der Gardine verborgen haben. Hier war es während Dollys und der Geschwister Morenas erregten Auseinandersetzungen in Schlaf gefallen. Als Felix später mit einem Licht in den Gartensaal ging, um abzuräumen, fand er den verloren geglaubten Liebling des Hauses.

An diesem Abend sah Dolly das Brüderchen und auch den Vater nicht mehr. Das Kind schlief schon in seinem Bettchen, und auch der Vater hatte sich, von der Reise übermüdet, zurückziehen müssen.

Aber der »lieben Mama«, wie sie sie nicht oft genug nennen konnte, berichtete Dolly reuevoll alle Bosheiten ihres Herzens seit ihrer Ankunft in Rio, und eine herzliche Umarmung und ein gemeinsames Nachtgebet endeten für die beiden Frauen diesen so bedeutsamen Tag.

Durch die nächtlichen Straßen aber eilte mit langen Schritten und fliegendem Mantel ein einsamer Wanderer, der nicht rasch genug nach Hause kommen konnte, um der harrenden Schwester von der glücklichen Wendung der Dinge frohe Kunde zu bringen.

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