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Drittes Kapitel.
Aus Dollys Skizzenbuch

.Wenn Du glaubst, liebste Hilde, die herrlichen, vielverschlungenen Lotosblumen auf der Titelseite dieses Skizzen- und Tagebuches entstammten meinem Hirn und Griffel, so erweisest Du mir zu viel Ehre. Ich weiß wohl, daß diese »Jugendzeichnungen«, wie Du sie zu nennen beliebst, mit dem Linienwirrwarr und den symbolischen Gesichtern unter wehendem Haar nicht nach Deinem – vergieb mir das harte Wort! – etwas nüchtern-klassischen Geschmack sind, aber ich finde sie einfach genial, großartig, geschaffen zum Sinnieren und Träumen! »Er« ist ganz meiner Meinung. Der junge, interessante Maler nämlich, der mir das Titelblatt zeichnete zum Andenken an unsere gemeinsame Fahrt auf dem »Lotos« und unsere »Ideengemeinschaft«! So sagte er wörtlich. Denke nur, wie stolz mich das macht, bei einem so genialen Menschen, wie er unzweifelhaft ist. Doktor Eckart freilich war wieder anderer Meinung. Ich hörte zufällig, wie er zum Kapitän äußerte: »Herr Lundgren scheint wirklich Talent und eine poetische Auffassung zu haben, schade, schade, daß er ein so blinder Anhänger der impressionistischen Schule ist und mit der Farbe umgeht, wie der Schusterbub mit der Wichse! ...« Es ist einfach empörend, wie dieser altfränkische Pedant, dieser deutsche Mucker es treibt! Ich trat denn auch schnell aus meiner Ecke hervor und machte ihm ein so bitterböses Gesicht, daß er erschreckt fragte, ob ich Migräne habe. Oder es war am Ende pure Verstellung und Bosheit von ihm! ... Einerlei, ich hasse ihn und lasse nichts auf meinen ritterlichen Kunstgenossen kommen. Wir haben ein geheimes Schutz- und Trutzbündnis geschlossen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, bloß in der Augensprache. Selbst die naseweise kleine Karen, mit der er manchmal scherzt – sie ist noch ein rechter Backfisch, ein halbes Kind, weißt Du – hat nichts gemerkt. Doch ich albernes Geschöpf! ... Fasele Dir da von allen möglichen Persönlichkeiten vor, und Du weißt nichts über »Nam' und Art,« noch auch »woher der Fahrt«. »Systematisch, Dolly, systematisch und ordentlich!« pflegte Mère Scholastika zu sagen. Daß ihre Worte nicht ganz unter die Dörner gefallen sind, sollen meine Aufzeichnungen Dir beweisen.

Nr. I.
20. Mai.

Herr Gustav Adolf Lundgren aus Upsala, Künstler von Gottes Gnaden und Besitzer eines Hammerwerkes im schwedischen Wermland.

Er ist zwar erst vor zwei Tagen aus Lissabon angekommen, aber schon ist er die Hauptperson des ganzes Schiffes. »Er kam, sah und siegte!« In meinen Augen wenigstens. Wie ein Wickingerfürst des grauen Altertums überragt der blonde, ritterliche Recke des Kapitäns gedrungene Gestalt und die Schulmeisterfigur des weisen Sokrates von Doktor Eckart, von dem armen alten, mumienhaften Svensson und dem überschlanken, mondsüchtigen deutschen Geiger gar nicht zu sprechen. Seine Augen, seine herrlichen Augen – obschon sie blau sind wie die Blüte des Ehrenpreis – sprühen wahrhaft Feuer, wenn der Strom begeisterter Rede ihn fortreißt, und seine Denkerstirne leuchtet, wenn sein Pinsel die Visionen seiner Seele auf die Leinwand zaubert. Der entzückendste kleine Schnurrbart – ein echtes Malerbärtchen à la van Dyck – ziert seine Oberlippe, und seine markigen Kiefer wie das feste, eckige Kinn zeigen den geborenen Herrscher. (Der miserable Schiffsarzt hielt neulich an der öffentlichen Table d'Hôte einen populär-wissenschaftlichen Vortrag über Schädellehre und behauptete, sehr ausgebildete »Kauwerkzeuge« – wie er sich geschmacklos genug ausdrückte – deuteten auf materiellen Sinn und Freude an kulinarischen Genüssen, und ein hartes Kinn gar auf Grausamkeit! ...) Ich hätte ihm ins Gesicht fliegen können! ... My poor sweet darling! Dearest innocent lamb! ... Ich fürchtete schon, er wage nicht mehr zu essen; aber in seiner idealen Weltvergessenheit hatte er die elenden Anspielungen nicht verstanden und ließ sich mit der Harmlosigkeit einer schönen Seele zum drittenmale den Hummersalat reichen. (Ich werde jetzt auch versuchen, mich an Hummersalat zu gewöhnen, den ich früher nie leiden konnte – ich glaube, es ist ein schwedisches Nationalgericht ...) O Hilde, die Symbolik, die Symbolik!!! Welche Ideentiefen liegen in ihr verborgen!! O Lotos, o Hummer! O Schlangenlinien und Frauenaugen!!! ... Davon habt ihr Landratten und Kleinstädter keine Ahnung! ... Er ist auch literarisch hoch gebildet. Er verfolgt die Strömungen der neuesten belletristischen Litteratur bis in die feinsten Verästelungen. Du hast keine Vorstellung davon, liebes Kind, welche Wunderdinge die Symbolik in der Litteratur, der er naturgemäß am meisten Geschmack abgewonnen, schon erreicht hat. Es ist eine Art magischer Runen, die nur der Eingeweihte, der Genius, versteht. Zur Kennzeichnung seines Künstlergeschmacks hier nur eine kleine Probe aus seinem Lieblingsdichter Maeterlinck, der eine auserlesene Gemeinde wahrer Kunstjünger in Belgien toll vor Begeisterung gemacht hat:

»O Glasglocken! Seltsame, für immer zugedeckte Pflanzen!
Während der Wind draußen meine Sinne bewegt!
Ein ganzes Thal der Seele für immer unbeweglich!
Und die eingeschlossene Lauheit am Mittag!
Und die am Glase wahrgenommenen Bilder!
Heben Sie nie eine von ihnen auf!
Man hat einige auf alte Mondscheine gethan.
Prüfen Sie durch ihr Blattwerk hindurch:
Es ist vielleicht ein Vagabund auf dem Throne,
Man hat die Vorstellung, daß Korsaren auf dem Teich warten
und daß sintflutische Wesen die Städte überfallen.
Man hat einige auf alten Schnee gethan.

Man hat einige auf ehemaligen Regen gethan.
Haben Sie Mitleid mit der eingeschlossenen Atmosphäre!
Ich höre ein Fest an einem Hungersnot-Sonntag feiern.
Es ist ein Verbandplatz inmitten der Ernte,
Und alle Töchter des Königs irren an einem Fasttag auf den Wiesen umher;
Eine Jungfrau begießt mit warmem Wasser die Farren,
Eine Truppe kleiner Mädchen beobachtet den Einsiedler in seiner Zelle,
Meine Schwestern sind am Grunde einer giftigen Grotte eingeschlafen,
Warten Sie auf den Mond und den Winter,
Bei diesen Glocken, die endlich auf dem Eise zerstreut sind!

Er kannte diese seltsam schöne Dichtung aus den »serres chaudes« (Treibhäusern) auswendig, und als er sie hersagte, sah er aus wie ein Märchenkönig. Ich habe ihn gebeten, mir die Strophen zu diktieren, und wenn ich nach Rio de Janeiro komme, werde ich die »serres chandes« bestellen. Freilich muß ich zugeben, daß ich meistens dem hohen Geisterfluge dieser erhabenen Gedanken nicht folgen kann, aber ich hoffe, das kommt noch, wenn man erst tiefer in das Wesen der Symbolik eingeweiht ist, und ich habe mich wohl gehütet, Herrn Lundgren meine Dummheit und Unfähigkeit zu gestehen.

Wir sind doch arg zurückgeblieben in unserem guten Kloster, liebste Hilde! Meinst du nicht auch? Ich kann mir denken, wie vornehm Mère Scholastika Maeterlincks herrliche Poesieen mit einem geringschätzigen: »Hirnverbranntes Zeug!« abthun würde. Die Alten und die Neuen fliehen sich eben wie die feindlichen Pole eines Magnets.

Des Gegensatzes zu Herrn Lundgren wegen werde ich dir jetzt die »Brillenschlange« beschreiben. Ich fasse mich kurz.

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Name: Marie Yvonne Virginie Delaporte (wie auf dem schäbigen, vorsündflutlichen Seehundskoffer zu lesen).

Stand: Alte Jungfer.

Größe: Riesig.

Haltung: Majestätisch, tritt auf mit der Feierlichkeit einer ganzen Prozession und trägt wahrscheinlich einen Stahlpanzer à la Jeanne d'Arc.

Haar: Gräulich, vorne in Hängelocken wie gefrorene Wasserfälle niederfallend, hinten mit einem Schildpadkamme von den Dimensionen einer kleinen Gartenthüre zu künstlicher Schleife aufgesteckt, mit einem Wort: die Frisur unserer Urgroßmütter.

Augen: bewaffnet; in nicht gereiztem Zustande gutmütig, klein, blau, bitten fortwährend um Pardon für die Häßlichkeit des übrigen Gesichtes.

Nase: Etwas reichlich groß: Feldherrennase, die die Augen Lügen straft.

Mund: à la tiroir.

Toilette: Unbeschreiblich!

Sprache: Meist gar nicht, sonst Französisch.

Besondere Kennzeichen: Schnupft heimlich, trägt Lastingschuhe ohne Absätze und kann wunderschöne Bildchen aus schwarzem Glanzpapier ausschneiden.

Ort der Herkunft: Ein verzaubertes mittelalterliches Städtchen auf »ac« oder »ec« hinten in der Bretagne.

Reiseziel: Das Junggesellenheim eines Bruders in Rio. ...

Nun folgen:
Die Schwestern Svenssen.

1. Astrid, 20 Jahre alt, zart, blond und schlank wie eine Mondscheinprinzessin, klug wie die sieben Weisen Griechenlands, und verhätschelt und angebetet von Vater und Schwester. Ist nervös bis in die Fingerspitzen, trommelt auf allen möglichen Gegenständen imaginäre Märsche und verzehrt sich in Sorge um das Wohlergehen von Tieren und Menschen ihrer Umgebung. Sucht die Ruhe und den Frieden, den sie in der Mathematik nicht gefunden zu haben scheint. (Wie gut ich das begreife! ... Verhaßtes Rechnen!!! ... Welcher Bösewicht und Menschenfeind mag dich erfunden haben?!!! ...)

Anmerkung. Soll etwas brustleidend sein, d. h. nicht der Menschenfeind, sondern Astrid. Muß wohl mehr in der Angst beruhen; denn sie kann singen wie eine Elfe. Gestern Abend sang sie auf Lundgrens Bitten das Schumann'sche

Lied: »Die Lotosblume ängstigt sich ...«
Lundgrens und meine Blicke trafen sich!
O die Lotoskinder!!!
O du silberner Mondenschein!!! ...

2. Karen. Ich habe sie lieb. Sie ist so alt und so groß wie ich; aber sie hat einen hellen Teint, zarte Rosenwangen und lustige braune Rehaugen. Sie ist immer heiter, geht nur hüpfend und ist glücklich, wenn sie aller Welt einen Gefallen thun kann. Alle lieben sie. Selbst die Brillenschlange. Mrs. O'Donagan ist vernarrt in sie, und der weise Sokrates hat sie noch kein einziges Mal ermahnt! Lundgren ist sehr freundlich gegen sie, aber natürlich nur, weil sie ihm noch wie ein Kind vorkommt. Die Schwestern sollten Maria und Martha heißen, obschon Karen gar nicht dumm, sondern begabt ist, und ich mir die gute Martha immer nur von engbegrenztem, hausbackenem Verstande gedacht habe. Sie wird es wohl nicht übelgenommen haben, sie ist ja schon so lange im Himmel! ...

Der Vater dieser beiden Töchter ist ein Herr wie, wie, – ja wie eben alle alten Herren zwischen vierzig und fünfzig. Ich interessiere mich nicht besonders für diese Menschenklasse, deshalb werde ich über ihn und den Kapitän nur kurz berichten, daß sie gutmütig und altfränkisch sind, besonders der Kapitän, der in seiner bärenhaften Erscheinung gar nicht zu dem schönen Namen des stolzen Schiffes paßt. Olaf Lundgren sagte mir, daß Herr Svenssen fabelhaft reich wäre. Er nannte ihn den Drachen Fafnir. Leider weiß ich nicht mehr, was für eine Bewandtnis es damit hat. Kannst du mir Auskunft geben?

Mrs. O'Donagan.

Denke dir ein Wetterleuchten durch den ganzen Himmel, dann hast du sie. Glänzendes Haar, strahlender Teint, leuchtende Augen, blitzende Zähne (ich glaube sie hat die doppelte Portion mitbekommen), lustiges Lachen, sprühende Rede, schnelle Bewegungen: das ist Mrs. O'Donagan. Sie hat eine so nette, erfrischende Art, sich zu wundern. Ihr drittes Wort ist: »Good gracious!« Das arme Geschöpf ist erst 24 Jahre alt und wurde nach dreimonatlicher Ehe Witwe. Ich kann mir nicht helfen, aber ich glaube, sie macht die Meerfahrt, um dem seligen O'Donagan einen würdigen Nachfolger zu geben! Die Nixe! Aber ich merke auch eigentlich wieder gar nichts. Gegen Lundgren ist sie wenigstens ausgesprochen kühl, was ich auch sehr passend finde. Mit Doktor Eckart scheint sie religiös-philosophische Gespräche zu führen; denn ich hörte neulich im Vorbeigehen, wie er sagte: »Ja, Sie haben recht, Mrs. O'Donagan, auch mir ist es ein Opfer, die Sonntagsmesse so lange entbehren zu müssen.« Eine schöne Eigenschaft an ihr ist ihre große Gutherzigkeit. Sie ist oft stundenlang abwesend, – die Brillenschlange und Karen fehlen dann merkwürdigerweise auch, – und aus einer gelegentlichen Bemerkung des Doktors glaube ich entnehmen zu können, daß sie dann auf dem Zwischendeck ist, betrübte Mütter tröstet und kranke Kinder pflegt.

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Ich wäre auch gerne einmal hingegangen, aber der Doktor meinte ironisch, es wäre schade um mein weißes Spitzenkleid, und die kirschrote Seiden-Blouse würde sich am Ende schämen unter all den armen Leuten! (Ich trage jetzt täglich helle Toiletten, Olaf Lundgren liebt Licht und Farbe so sehr!) Dem Herrn Sittenprediger Eckart, diesem alttestamentarischen Ecclesiastes, aber habe ich kein Wort erwidert und bin schnell zu der kranken Frau Malten gegangen, um ihr Gesellschaft zu leisten. Das ist auch ein Liebeswerk, freilich in angenehmerer Form als der Aufenthalt in schlechter Luft unter ungebildeten und ungezogenen Menschen (wie ich mir wenigstens denke!) auf dem Zwischendeck ... Aber ich bin auch nicht so gut wie die anderen! ...

Frau Professor Malten!

Ein sanftes, blasses Fräuchen mit einem betrübten Gesichtchen, treuen Mutteraugen und einer Fülle goldblonden Haares. Sie hat vor ein paar Monaten ihr erstes Kindchen verloren und das Leid hat sich nicht mehr aus ihrer Seele bannen lassen. Freilich hat sie eine rührende Gottergebenheit, und alle Welt glaubt, daß der liebe Gott sie bald heimruft zu ihrem toten Kindchen. O Hilde, diese Frau mit ihren sanften, frommen Augen wäre im stande, selbst mich zu einer Heiligen auf Erden zu machen! Ihr Anblick spricht lauter zu meinem Gewissen als alle Strafpredigten und aufgedrungenen Gewissenserforschungen zusammen von meinen englischen governesses bis auf Mère Scholastika und den Erzpädagogen Eckart. Nur in einem Punkt stimmen wir nicht zusammen. Ueber Olaf Lundgren nämlich. Ihr Mann hält ihn für einen ungeklärten Geist, einen eingefleischten Secessionisten, einen hohlen Schwärmer, wie er sehr respektwidrig sagt. Sie nannte ihn einmal einen herzlosen Egoisten, der die ganze Welt nur ansehe, als speziell zu seinem Vergnügen geschaffen, und sich nichts daraus mache, jungen Mädchen die Köpfe zu verwirren. Und dabei streichelte sie meine Hand so liebevoll, obschon sie mich nicht ansah, daß ich ihr wirklich nicht böse sein konnte. Ich habe sie verstanden und werde Olaf Lundgren beobachten. Ich hoffe, ihr noch eine andere Meinung über ihn beizubringen, ehe wir uns nach ein paar Tagen in Madeira trennen. Ach, schon so bald!!! ... Die Tümmler verfolgen schon unser Schiff, und Astrid füttert sie.

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Professor Malten ist von einer ganz anderen Kunstrichtung als Herr Lundgren. Er schwört nicht höher als auf Beethoven und die alten Meister und zieht von den Neuen Brahms dem Weltherrscher Wagner vor. Malten sieht auch aus wie ein großer Künstler. Es umgiebt ihn etwas Unnahbares, Geheimnisvolles, und ich habe eine heimliche Scheu vor ihm. Seine Augen scheinen nach Innen zu blicken. Wenn er auf seiner Geige spielt, leuchten sie wie in heiligem Feuer, und dann fällt mir immer die Scheffelsche Strophe ein.

»Der aber hebt schweigend die Fiedel zur Brust ...
Halb brütend, halb geigend – des Volks unbewußt.
Leis knisternd strömt Feuer um Saiten und Hand ...
Der Heini von Steier ist wieder im Land!«

Anmerkung. Weißt du noch, wie ich im Kloster einmal eine furchtbare Strafpredigt bekommen habe, weil ich die letzte Strophe dieses Gedichtes so naturgetreu deklamierte?

Nun komme ich zu meinem »Feind und Widersacher«, dem sehr klugen, sehr edeln und sehr beliebten Doktor Ernst Eckart.

Ich schriebe am liebsten gar nichts über ihn. Meine Gefühle überwältigen mich. Sie stürzen wie ein Wasserfall zur Zeit der Schneeschmelze durch meine Seele. Manchesmal finde ich ihn wider Willen gut, liebenswürdig und anziehend, besonders wenn er so schön von seinen Reisen und so beweglich von der Not der Menschheit erzählt. Er hat nämlich ein sogenanntes großes Herz und sympathisiert mit allem, was leidet, aber viel öfter noch fühle ich einen unbezwinglichen Haß riesengroß in mir aufsteigen. Was habe ich ihm gethan, daß er mich maßregelt, wo er mich sieht? Ich weiß, daß ich mich oft in seiner Gegenwart zwinge, schlimmer zu scheinen, als ich wirklich bin. Es reizt mich ungemein, ihn zum Widerspruch und Tadel herauszufordern. Wende dich nur mit Schaudern ab von deiner unwürdigen Freundin, liebste Hilde, aber ich habe ein Vergnügen daran, in den Augen dieses Tugendboldes boshaft und verweltlicht zu erscheinen! Es wird ein fröhlicher Krieg werden, wenn die anderen alle fort sind und ich mit ihm, Mrs. O'Donagan und der alten Sibylle allein bin. Ich denke mir nämlich abends in meiner Kabine allerlei aus, womit ich ihn am nächsten Tage ärgern und an dem stolzen Tugendtempel seiner altfränkischen Ansichten rütteln kann. Ich möchte, er finge einmal einen Wortkampf mit Olaf Lundgren an! Wie würde ich mich dann auf des letzteren Seite stellen! Aber Lundgren weicht ihm aus, wo er kann, und spricht nicht in seiner Gegenwart. Das ärgert mich eigentlich, ich sähe ihn so gerne als Sieger. ...

21. Mai.

Du darfst nicht über meine Zeichnungen lachen, liebste Hilde! Ich habe mir die größte Mühe gegeben, Porträtähnlichkeit zu erzielen und dabei doch Lundgrens Art und Weise im Auge zu behalten. Heute freilich, da ich das Buch wieder aufschlage, sehe ich, daß die arme Mrs. O'Donagan struwelpeterhaft und Frau Malten zu überirdisch aussieht. Astrid hat zu viel von einer boa constrictor und der »Prediger« von einem Satyr an sich. Das kommt davon, wenn man »Stimmung« erzwingen will ... Wenn ich deine Gabe, zu karrikieren hätte! Weißt du noch M. Scholastika als Hahn?!! Es war zu köstlich!! Ich werde mich also lieber ans Schreiben halten, besonders da wir vor Madeira doch nichts sehen werden, was ich zeichnen könnte.

Gestern hat Lundgren sein fertiges Meerbild »Thalatta« ausgestellt.

Es war süperb! So fremdartig und geheimnisvoll! Ich allein fand Worte, meine Begeisterung auszudrücken. Die anderen, selbst die kleine Karen, standen stumm und dumm wie die Holzklötze da.

» Good gracious! Wer ist das Weib in der gelben Bademütze, unter der sich das Haar wie Schlangen hervorringelt, mit dem roten Flanellrock und dem phosphorescierenden Fischschwanz, das da in den violetten Wollknäueln herumlungert?« fragte Mrs. O'Donagan mit ihrem Kindskopflachen.

Und die alte französische Dame zog ihr Riechfläschchen hervor und that, als sei sie bange vor den halbverfaulten Schlangen und Ungeheuern, die zu Knäueln geballt da lagen.

»Das ist das urewige Meerweib. Seine Kleidung ist das rotgoldene Feuer der Abendsonne, und die ›violetten Wollknäuel‹ sind das Wogen und Wallen des Meeres,« erläuterte der Künstler, strahlend vor Begeisterung.

»Wo in aller Welt bleibt denn das arme alte Meerweib, wenn die Abendsonne Morgensonne ist?« fragte der Kapitän, dem jedes feinere Empfinden abgeht.

»Dann vergräbt es sich so lange in den Urweltsschlamm, wohin es gehört, drunten in der Meerestiefe,« antwortete der Erzpädagog, da Lundgren gekränkt schwieg.

Am Nachmittag hatte ich mit Astrid und Karen eine heftige Auseinandersetzung wegen Lundgrens Richtung. Astrid sprach so wegwerfend über die Symbolisten und Impressionisten, deren »Schmierereien und Schundbilder« sie leider in Berlin zum Ueberdruß habe sehen müssen, und schloß weise, daß ein Publikum, das Gefallen an solchen Tollhäuslereien habe, wirklich dieser Zerrbilder wert sei.

Ich antwortete gereizt, daß die alte verrostete Zahlen-Wissenschaft sie unfähig mache, die Sprache des Genius zu verstehen, und zum Beweis für die geheimnisvollen inneren Schönheiten der neuen Richtung deklamierte ich den Mädchen das Lied des Meisters Maeterlinck.

Die kindische Karen verstand natürlich kein Wort und gefiel sich in unartigen Persiflagen; Astrid aber sagte auf meine Mitteilung, daß er mächtig Schule gemacht, sehr überlegen:

»Ja, wenn ein Verrückter geigt, tanzen die Narren!«

»Bravo, Fräulein Astrid! Gut gesprochen!« klang da Eckarts Stimme neben uns. »Ihnen, Kind, (denke dir, er hatte die Frechheit, mich Kind zu nennen!) möchte ich warnend sagen: »Werfen Sie keinen Blick in die wahnwitzigen »serres chaudes«. Es könnte Sie schwindlig machen. ...

Und was die Lektüre der meisten anderen sogenannten naturalistischen Dichtungen unserer »Jüngsten« angeht, die von den Franzosen gelernt haben, nun, ein junges Mädchen sollte nicht einmal ihre Titel kennen! Die Blumen im Garten eines Mädchenherzens müssen welken in solcher Treibhausatmosphäre und elend zu Grunde gehen in dem Höllenqualm, den leider so viele dieser Dichtungen ausatmen.«

Ich hätte ihm am liebsten eine abweisende Bemerkung gemacht. Aber er hatte so traurige Augen, und seine Stimme klang so ernst und betrübt, daß ich wirklich den Mut dazu nicht fand. Stotternd wie ein gestraftes Schulkind, sagte ich, daß ich schlechte Bücher verabscheue und von der neuen Schule auch nur dieses einzige Gedicht kenne. Lundgren habe das Buch ja gar nicht bei sich. Gedichte wie »Der Peter in der Fremde« aber kenne ich dank meiner klösterlichen Erziehung massenhaft. Da ging ein Leuchten über sein Gesicht, daß er so schön und stolz aussah wie der Erzengel Michael, den Mary O'Flaherty in alten Zeiten einst auf der Höhe des Michelsberges für mich gezeichnet hat. Am Ende ist er doch nicht so schulmeisterlich-bärbeißig; jedenfalls hat die alte Dame mit den Lasting-Schuhen recht, wenn sie ihn einen chevalier sans peur et sans reproche nennt. Furcht kennt er nicht und Menschenfurcht am wenigsten. Nun, wir werden ja sehen ...

22. Mai.

Ich muß dir beichten, liebe Hilde.

Gestern erzählte mir Lundgren von den Lotophagen, den Lotosessern, die das Vergessen lernen wollen. »Auch Sie müssen vergessen lernen, gnädiges Fräulein. Die alten Ammenmärchen von ›Gut und Bös‹, samt aller Pfaffenweisheit. Der Mensch ist frei: sein Wille macht ihn zum Gotte! Und der Name dieses Gottes ist Eros!«

»Halten Sie ein, halten Sie ein!« rief ich da in heftigem Schrecken, und es war mir, als wenn in meinem Herzen etwas zerbreche und ein Wehruf durch meine Seele gehe. Ich erwartete, den Blitz einschlagen zu sehen.

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»Halten Sie ein! Wofür halten Sie mich! Ich bleibe dem Glauben meiner Kindheit treu, und wenn die neue Richtung Gottesleugner aus ihren Jüngern macht, so gehört sie in die Hölle ...«

Ach, wie schrecklich, liebste Hilde! Er wurde gar nicht böse. Er zuckte nur gutmütig lächelnd die Schultern, als wolle er sagen: »O du Tropf!« Ich aber hätte gewünscht, du mit deiner tüchtigen Religionswissenschaft oder wenigstens Doktor Eckart wäret da gewesen, um ihn gehörig heimzuführen. Ach, Hilde, mir fiel das Wort ein, das der Arzt neulich nicht ohne Absicht zu mir sagte: »Götzen haben thönerne Füße!« Dieser Mann, der den Kuß des Genius auf seiner Stirne trägt. ... Es ist zu schrecklich!! Nenne mich wetterwendisch, nenne mich verrückt! ... Einerlei. Ich habe auf einmal einen Ekel und eine Angst vor Olaf Lundgren bekommen und mich zu Frau Malten geflüchtet. Sie hat mich getröstet. An diesem Abend habe ich mein Nachtgebet – leider zum erstenmale seit ich auf dem Meere bin – mit großem Troste gebetet.

24. Mai.

Madeira ist in Sicht. Es gleicht einem aus dem Meere tauchenden Kegel. Diesen Abend wird ein kleines Abschiedsfest veranstaltet. Doktor Eckart und Herr Svenssen geben eine Bowle, und die ganze Gesellschaft ist eingeladen. Der Maler hat abgelehnt. Er möchte vor seiner Ausschiffung noch Porträt-Studien auf dem Zwischendeck machen. Der Kapitän runzelte mißvergnügt die Stirne; aber er konnte ihn nicht daran hindern. Wir Mädchen empfanden eine ungeheuere Erleichterung; denn auch Karen hat mir gestanden, daß sie sich vor ihm fürchte. Denke dir! Er hat auch Karen mit verliebten Redensarten und Schmeicheleien belästigt, und das, während er zugleich schön that mit mir! Astrid erzählte es mir, um mich zu warnen ... O, wie beschämt und gedemütigt ich bin! Wenn ich nur nicht selbst schuld daran wäre! Ach, Hilde, ich habe kein Vertrauen mehr zu mir selbst ... Ich hatte mir eine solche Seelenübereinstimmung so himmlisch, so ganz ohne Arg gedacht! Tante Bertha hat doch recht gehabt mit der Behauptung, daß ein Mädchen gegen junge Leute heiter und freundlich, aber auch stets zurückhaltend sein solle. Wären doch alle Männer alt wie Mathusalem oder strenge wie der Prediger, dann könnte man sich wenigstens gehen lassen! ...

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Abends 10 Uhr.

Wir haben einen herrlichen Abend verlebt. Doktor Eckart hat einen kleinen »Kommers mit Damen« veranstaltet, der glänzend ausgefallen ist. Sogar die majestätische alte Dame strahlte vor Vergnügen. Du hättest sie sehen sollen mit ihrer Mütze aus Seidenpapier, die, wie die unserigen auch, den Knallbonbons vom Nachtisch entnommen wurde! Es war überwältigend! Sie war so stolz auf ihre normannische Mütze, daß ihr die Thränen in die Augen kamen, und sie so steif und feierlich da saß wie der große Buddha. Und schöne alte Volkslieder haben wir gesungen, deutsche, englische und französische, und der Professor hat Variationen darüber auf seiner Geige gespielt, daß alle hingerissen waren. Und dann erst die Reden! Nie hätte ich geglaubt, daß der ernste Mann der Wissenschaft so humorvoll sprechen könne, wie Doktor Eckart es that. Zum Schlusse wurde die Geschichte traurig wie alles in der Welt, das weiß ich nun schon. Es kam zum Abschiednehmen. Da hörte ich, daß Herr Eckart gar nicht bis Rio bei uns bleibt, sondern sich einige Tage im Gebirge auf Madeira aufhält und dann mit einem anderen Schiffe in die Heimat zurückfährt. Sein Kontrakt ist abgelaufen, und er wird in seinem Vaterland Preußen noch weitere Studien an Kliniken machen.

»Wenn ich einmal nach Hamburg komme, Fräulein Dolly,« fragte er, »darf ich Ihrer Frau Tante viel Liebes von Ihnen bestellen?«

»Ich bitte darum, Herr Doktor, und sagen Sie ihr auch, daß ich wieder einmal die ganze Zeit ein rechtes enfant terrible gewesen bin ...« Ich schämte mich so, daß ich stotterte, und als ich fühlte, daß ich rot wurde, schämte ich mich noch mehr. So den Eindruck eines Babys zu machen!!! Gräßlich dumm!

Er lachte und sagte leise: »Hüten Sie sich vor den Götzen mit den thönernen Füßen, halten Sie an den Grundsätzen fest, die Ihnen in der Klosterschule gegeben wurden, und Sie werden so glücklich sein, wie ich es Ihnen aus tiefstem Herzen wünsche! ...« Dann war er gegangen, und da stand ich nun! Ist es nicht schrecklich, daß ich mich schon wieder ärgern mußte trotz aller besseren Einsicht? Er ist und bleibt für mich der »Prediger«! ...

25. Mai. Vor Funchal.

Sie sind fort, und Mlle. Delaporte, Mrs. O'Donagan und ich sind allein sehr betrübt zurückgeblieben. Die alte Dame hat sich gleich mit geschwollenen Augen in ihre Kabine zurückgezogen, und Mrs. O'Donagan und ich haben ihnen lange nachgeschaut. Karen hat einen Briefwechsel mit mir verabredet für den Fall, daß Aenderungen in unserem Lebenslauf vorkommen sollten. Der lieben Frau Malten leuchtete die Heiterkeit der Verklärten aus den Augen. Ach, sie wird ihr schönes Vaterland nicht wiedersehen. Ich hörte, wie Doktor Eckart es traurig zum Kapitän sagte. Von dem einst (wie lange kommt es mir vor, und es sind doch erst ein paar Tage!) so bewunderten Olaf Lundgren habe ich einen eisigen Abschied genommen ... Gott sei Dank, jetzt brauche ich keinen Hummersalat mehr zu essen!!! ...

Unser Schiff ist umgeben von einer Menge kleiner Boote, darin fliegende Händler alles Mögliche zum Verkaufe anbieten: Korallen, Muscheln, Früchte, Blumen, Bouquete aus Vogelfedern, Affen, Pagageien, Kanarienvögel, Schmucksachen aus Samenkörnern, Kokosnüsse usw. O mein herrliches Vaterland, wie nahe rückst du mir! Das schöne Funchal mit seinen weißen Landhäusern in paradiesischen Gärten und dem herrlichsten Waldgebirge im Hintergrund liegt wie eine Märchenstadt vor mir, aber du, o mein Rio, bist noch tausendmal schöner!

26. Mai.

Das Märchenland liegt im Nebel hinter uns, und wir steuern mit Macht in die weite See hinaus. Leider werden wir den berühmten Pik von Teneriffa nicht sehen, da der Nebel zu stark ist. In einigen Tagen laufen wir S. Vincente, eine der Kap-Verde-Inseln an, um Kohlen einzunehmen. Sie gehören geographisch schon zu Afrika. Ich möchte gern einmal aussteigen, um im schwarzen Erdteil gewesen zu sein, aber das giebt's leider nicht. ...

Diesen Nachmittag habe ich mit Mrs. O'Donagan die armen kranken Kinder auf dem Zwischendeck besucht. Wir brachten ihnen Obst und Konfekt von unserem Dessert von ein paar Tagen, und da hättest du die Freude der Kleinen sehen sollen, und das dankbare Lächeln der Mütter! Wie leid thut es mir, nicht eher da gewesen zu sein! Aber dann hätte am Ende Doktor Eckart gemeint, er hätte mich mit seinen ironischen Bemerkungen dazu gebracht! So ist's besser. Der neue Arzt sieht aus wie die verkörperte Langweile. Sandfarbig von Haar, sandfarbig von Gesicht, sandfarbig von Kleidung und den ganzen Tag mit dem Ordnen seiner Käfersammlung beschäftigt, die er von Madeira mitgebracht hat. Jetzt sehe ich doch immer mehr ein, daß ich Doktor Eckart Unrecht that. Der Neue ist in Wahrheit langweilig und ungenießbar wie ein Gelehrter.

30. Mai.

O Hilde, welch schreckliche Nacht haben wir durchlebt! Ein Höllengewitter und einen Sturm, der die Erde aus den Angeln zu heben schien! Ich bin noch ganz elend und betäubt. Die arme Nina liegt vor Schrecken krank in der Kajüte, und jetzt bin ich die Pflegerin. Ich beschreibe dir den Sturm nicht, erstens würde es mich übel machen, und zweitens kannst du es in jedem Lesebuche besser finden.

Mrs. O'Donagan hilft mir, die arme Alte pflegen. Sie ist am Krankenbette trotz ihrer sonst so lebhaften Art so sanft und zart und freundlich wie ein Frühlingssonnenstrahl, und ihre Hand weich wie ein Blumenblatt. Als ich mich offen darüber wunderte, lachte sie: »Das ist auch nötig zu meinem Berufe!« Und als sie mein verdutztes Gesicht sah, lachte sie erst recht und so laut wie ein übermütiges Schulmädchen. Nun kam das Schreckliche: Mrs. O'Donagan, die lebenslustige, elegante junge Frau, geht als Barmherzige Schwester zu den Franziskanessen nach Porto Alegre. Ich konnte mich nicht beherrschen, ich mußte weinen, als ich es hörte. Sie aber schalt mich a silly girl, und ihre Augen strahlten wie Sterne, als sie von ihrer Herzensseligkeit sprach.

Juni.

Morgen früh fahren wir in den Hafen des gelobten Landes ein. Viele Tage schon sind wir längs der Küste hingefahren immer im Angesicht des majestätischen meilen- und meilenweiten Urwaldes. In stillen Nächten hörte ich nicht selten das Geschrei der Affen und Papageien, das Grunzen der Tapire und Peccaris, das unheimliche Brüllen der Pumas und Jaguare.

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Schon sehe ich in zarten Luftlinien das Orgelgebirge am Himmel sich zeichnen, und morgen früh werde ich das feste Land sehen und den gewaltigen Zuckerhut, die Pao d'azzucara, der wie ein grimmer Riese die Wache hält an der engen Einfahrt in unseren schönen, weiten Hafen.

Morgen werde ich wieder das geliebte Portugiesisch, die Laute meines Vaterlandes, hören, und morgen werde ich als junge Herrin einziehen in das Haus des teuern Vaters. Morgen auch werde ich am Grabe meiner Mutter knieen. O, die überströmenden und überwältigenden Gefühle! Sei stille, mein Herz! ...

Wenn ich wieder in dies Tagebuch schreibe, bin ich glücklich, sind meine goldenen Träume herrliche Wirklichkeit! O Hilde, meine gestrenge Vestalin, möchtest du diese Nacht auf dem weichen Ruhekissen deines guten Gewissens so köstlich schlafen und träumen, wie es in der Erwartung ihres ungeheuren Glückes thut

deine Dolly.

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