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Aus: Düsseldorfer General-Anzeiger vom 23.7.1911;
Der Säugling und andere Tragikomödien, Leipzig 1911
Gott, das war schon eine maßlose Aufregung und ein unglaubliches Durcheinander bei Beckers! Es wurde das erste Baby erwartet. Schon seit Wochen harrte man gespannt darauf, es hätte schon lange da sein müssen.
Tante Tine aus dem Westfälischen, Tante Meta aus Düren, Tante Hucklenbroich aus Gladbach, Barbara Tröpfeli, eine unendlich ferne Verwandte aus dem Breisgau, Mutze Mandel, die Patin von Frau Becker, sie alle hatte es auf das Gerücht von dem bei Beckers zu erwartenden Ereignis nicht länger mehr in ihrer Heimat gehalten, und sie hatten sich eine nach der anderen bei Beckers zum Logierbesuch eingefunden. Sie führten ein für einen längeren Aufenthalt vorgesehenes umfangreiches Gepäck mit sich. Außerdem brachte eine jede, mit Ausnahme von Mutze Mandel, eine monumentale Amme aus ihrer Gegend mit.
Herr Becker war im allgemeinen ein Mann von einer gewissen Energie. Er konnte heroisch werden, wenn der Bäckerjunge zu spät mit den Brötchen kam oder der Kohlenmann sich die Füße nicht abgeputzt hatte.
Aber mit jeder Tante, die bei ihm einzog, schwand sein Mannesmut mehr und mehr.
Tante Tine mit fünf großen Koffern und einer Amme hatte er als ersten Besuch harmlos, ohne Ahnung der folgenden Serie, süßsauer lächelnd, aber höflich entgegengenommen. Er erkannte den guten Willen der Tante an. Edle Beweggründe, ein schönes Menschenmitleid, ein blutsverwandtschaftliches Mitempfinden mochten sie veranlaßt haben, herbeizueilen.
Tante Meta mit acht Koffern und wieder einer Amme bekam schon einen weniger milden Empfang. Aber richtig grob und deutlich wagte Herr Becker nicht zu werden. Tante Meta war nämlich wohlhabend, und Beckers kamen als Erben in Frage.
Als Tante Hucklenbroich aber eines Tages mit einer Burg von Koffern und Körben und einer kolossalen Amme vor seinem Hause stand, war es mit seiner Selbstbeherrschung aus, und er ließ sich zu einigen häßlichen Bemerkungen hinreißen.
Da kam er aber schlecht an bei Tante Hucklenbroich.
Ob er wohl meine, man verlasse sein liebes Gladbach, sein gemütliches Gladbach und mache die anstrengende Reise zum Vergnügen oder gar seinetwegen? Da irre er sich aber gewaltig! Nur ihre Pflicht als Verwandte, als Tante habe sie dazu getrieben. Ja, ja. Wer solle sonst der armen, unwissenden Mutter beistehen und sie beraten? Und woher bekäme er hier in der Stadt eine solche Amme, wie sie eine mitgebracht? Hä. Sie bleibe hier und weiche nicht, da könne er machen, was er wolle. Außerdem habe sie das gleiche Recht hier im Hause wie die beiden anderen Tanten. Und übrigens seien bei so was nie Hände genug. So hatte den zukünftigen Vater die Tante Hucklenbroich angefahren und drohend und bestimmt mit ihrem Schirm – mit einem Storchenkopf aus Elfenbein als Griff – auf den Boden gestoßen.
Herr Becker war ganz klein geworden und hatte nur noch verzweifelt zu stöhnen gewagt. »Aber die Ammen – die Ammen! Wir haben ja auch schon eine engagiert, die bei uns wohnt!«
»Und wenn es nun Zwillinge werden? Oder gar Drillinge, hä? Was dann?« So hatte ihn Tante Hucklenbroich überlegen angeschrien. Und ihre Amme sei eine Kapitalsamme, und sie bestehe darauf, daß sie verwandt würde. Gegen ihre Amme kämen die anderen Tanten nicht an.
Herr Becker resignierte kleinlaut, und als Barbara Tröpfeli mit einer Unmasse von Koffern und mit einer Amme, die aussah wie eine Festung, eines Tages erschien, sagte er kein Wort. Apathisch stierte er den Besuch, die Koffer und die Amme an, wie ein unabänderliches, starres Prinzip.
Mutze Mandel kam nur mit vier Koffern und ohne Amme. Wie ein Irrer sah ihr Herr Becker entgegen und murmelte fragend: »Und die Amme, wo ist die Amme?«
Er schlief, ohne zu mucksen, auf dem Fensterbrett in der Küche. Alle Betten, Sofas und Chaiselongues waren in Anspruch genommen. Er schickte sich darin. Gott, so eine Geburt war eben ein außergewöhnliches Ereignis, das seine Schatten vorauswarf. Er war ein Neuling, das mußte vielleicht alles so sein. Frau Becker war ruhig und gelassen und handelte nach allen Ratschlägen – sie mochten einander noch so entgegengesetzt sein – die ihr die Tanten und sonstigen Leute gaben.
Beckers hatten, bevor die Tanten über sie kamen, bereits alles, was nur eben für das kommende Ereignis nötig war, auf das reichlichste und sorgfältigste vorbereitet. Man hatte, wie gesagt, schon eine Amme ins Haus genommen, hatte Stöße von Tüchern, Bändern und anderem Zeug gerüstet, einen Kinderwagen, eine Wiege, eine Badewanne und eine Kinderwaage und alle möglichen anderen, nach Aussage der Leute in den Geschäften unbedingt nötigen Gegenstände gekauft. Von allen Seiten hatte man sie haufenweise mit gehäkelten Jäckchen, Mützchen und dergleichen in liebevoller Weise bedacht. Man hielt sich für alle Fälle gerüstet.
Die Tatsache des Massentantenbesuches allein war schon äußerst schlimm, aber wehe! furchtbar wurde es, als sie anfingen, sich zu betätigen. Die Anschaffungen von Beckers wurden nach eingehender Prüfung in Grund und Boden verworfen. Da hieß es eingreifen. Jede Tante hatte dabei auch wieder ihre eigene Ansicht, die denen der anderen ganz entgegengesetzt war.
Tante Tine bestand auf neuer Wäsche, da die Beckersche ganz und gar unhygienisch sei. Nur in der Gesundheitswäsche »Prinzessin Alice« aus Pflanzenfasern liege das Heil und die Gesundheit eines Säuglings. Ballenweise schleppte sie diese Wäsche ins Haus.
Tante Meta erklärte den Kinderwagen für altmodisch und unpraktisch. Sie beschaffte einen raffinierten Patentkinderwagen, der durch entsprechende Handgriffe nach der Gebrauchsanweisung in eine Wiege, eine Schaukel, ein Karussell, einen Rundlauf, einen Schlitten und in die unmöglichsten Dinge verwandelt werden konnte.
Tante Hucklenbroich war für Wolle. Nur in Kamelhaarwolle würde das Kind gedeihen können. Sie ließ eine ganze derartige Wäscheausrüstung kommen.
Barbara Tröpfeli rannte aufgeregt umher und konnte sich nicht beruhigen: Die Ammen müßten Doppelkraftmalzbier »Goliath« trinken. In großen Mengen; davon hinge viel ab. Dieses Bier wäre die Basis eines Heldengeschlechtes. Fünftausend Flaschen dieses gepriesenen Bieres wurden Beckers in den Keller gelegt.
Herr Becker sah idiotisch und ergeben dem Tun der hilfreichen Tanten zu und bezahlte eine Rechnung nach der anderen. Die Summe, die er für die Aussteuer, wenn es ein Mädchen würde, für das Studium, wenn ein Junge käme, zurückgelegt hatte, hatten die Anschaffungen der Tanten völlig verschlungen. Aber Gott ja, hier durfte man nicht knausern, da es sich doch um das Wohl und Wehe seiner Nachkommenschaft handele. Alles was getan wurde, diente doch nur diesem Zweck.
Mutze Mandel, eine begeisterte, fanatische Anhängerin von künstlicher Kinderernährung, ließ die kompliziertesten Sterilisierapparate mit Batterien von Flaschen ins Haus schaffen. Sie propagierte von früh bis spät ihre Theorie. Herr Becker hatte nichts gegen die Sterilisierapparate einzuwenden und bezahlte die erhebliche Rechnung ohne Murren, ungeachtet der fünf Ammen. Man konnte nicht wissen!
Oft saß er stundenlang vor all den fremden Dingen und sann über deren Zweck und Bestimmung nach. Aber er fand den Sinn nicht. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß so eine Geburt und das Drum und Dran schließlich für ihn, der das zum ersten Male mitmachte, ein notwendiges Mysterium sein mußte.
Nur das Doppelkraftmalzbier »Goliath« schien ihm verständlich. In ungeahnten Quantitäten tranken es die Ammen in sich hinein. Man sah in der Tat einen eklatanten Erfolg.
Die junge Mutter glaubte in ihrem Zustande zuversichtlich, daß alles notwendig und gut war, was um sie geschah.
Woche auf Woche verging, aber das Baby kam nicht.
Das Malzbier nahm rapide ab – die Ammen erschrecklich zu. Sie gingen zu fünft nicht mehr in ein Zimmer. Herr Becker mußte im Hause die zweite Etage mieten und jeder Amme ein Zimmer für sich geben. Er ließ für jede Amme ein vierschläfiges Bett herstellen.
Die Ammen aber tranken unentwegt das Doppelkraftmalzbier »Goliath«.
Das Baby blieb aus. Man erinnerte sich anderer Fälle aus der Bekanntschaft, wo es auch so lange gedauert hatte. Bei Bösheims gegenüber – Gott, die hatten damals jede Hoffnung aufgegeben. Das war das Gespräch von früh bis spät.
Es wurden weitere fünftausend Flaschen Kraftbier »Goliath« eingelegt. Die Ammen füllten ihre Zimmer völlig aus. Sie glichen Riesenplumeaus oder auch vorsintflutlichen Tieren.
Wochen vergingen. Man wußte schon fast nicht mehr, um was es sich handelte, und hatte das Baby schier vergessen. Da plötzlich eines Morgens um fünf Uhr war das Ereignis eingetreten. Jetzt konnte man es sich kaum erklären. So unerwartet! Gestern waren Beckers noch im Stadtgarten. Kalbfleisch mit Kartoffelsalat hatte Frau Becker gegessen. Und jetzt war ein Junge da.
Das Kind wurde natürlich für so schön und kräftig befunden, wie man noch keines bisher gesehen hatte. Herr Becker ging mit enorm herausgedrückter Brust stolz durch das Haus.
Der Junge wanderte von Hand zu Hand. Die Tanten rissen sich um ihn. Eine jede hatte die krampfhafte Sucht, etwas mit dem Baby anzustellen. Es war ein seltsames Stimmendurcheinander, ähnlich einer wilden Unterhaltung von Papuanegern oder dem Lautgewirr in einer Irrenanstalt.
»Pi, pi, pi, kleine Jung, kleine Jünke! Tö, tö, tö, püh, püh, püh, hatu Weweeke? Teine Terlche, teine Terlche, kis, kis, kis!« klang es wirr durcheinander.
Tante Meta hatte das Kind auf dem Arm und fragte es fortgesetzt: »Wo is et liebe Kerlche, wo is der kleine Jung?« Diese sinnige Frage wurde von dem Baby nur mit einem mörderischen Geschrei beantwortet.
Frau Becker hatte die fieberhafte Sorge aller jungen Mütter, horchte begierig und vertrauensvoll allen Vorschlägen und ließ die Tanten in allem gewähren.
»Gewickelt, feste gewickelt muß das Kind werden«, wurde vorgeschlagen. Der Junge wurde gewickelt mit einer Begeisterung, daß er ein gutes Stück länger wurde. Das Kind brüllte.
»Was wickeln? Um Gottes willen!« hieß es von anderer Seite, »das Kind muß frische Luft haben, muß strampeln können.« Das Baby wurde bei 0 Grad auf die Bleiche gelegt. Das Kind brüllte.
»In die Wiege muß das Kind, es muß geschaukelt werden«, ein neuer Vorschlag. Man schaukelte das Baby mit Vehemenz, daß es im hohen Bogen hinausflog. Es brüllte.
»Es muß in den Kinderwagen und hin und her gefahren werden«, schrie eine Stimme überzeugt.
Das Kind wurde in den Kinderwagen geschleudert und wie irrsinnig durch die Wohnung gejagt.
Der Fanatismus der eifrigen Tanten, die alle hartnäckig auf ihren Theorien bestanden, wurde unheimlich und wuchs zu einer Besessenheit aus.
»In Wolle muß der Knabe gebettet werden«, tobte Tante Hucklenbroich. Sie warf die Pflanzenfasergewebe von Tante Tine beiseite.
Tante Tine riß dann den Jungen wieder aus den Umhüllungen der Hucklenbroichschen Kamelhaarwäsche und legte ihn zurück in ihre Idealwäsche »Prinzessin Alice«.
Das Baby brüllte mörderlich.
»Der Junge muß gepudert werden. – Der Junge darf nicht gepudert werden, er muß mit Fett eingerieben werden. – Nein, er muß mit Spiritus abgerieben werden. – Er muß kalt gebadet werden. – Heiß, ganz heiß muß er gebadet werden.« Alle Ratschläge wurden befolgt.
Das Baby brüllte unentwegt.
»Das Kind wird Hunger haben«, meinte der Briefträger Pempelfort. Auf die Idee war noch niemand gekommen.
Man schrie nach den Ammen.
Mit den Ammen war aber nichts mehr anzufangen, sie konnten wegen ihrer Fülle nicht aus ihren Zimmern heraus. Außerdem waren drei schon geplatzt, und die beiden anderen gingen demselben Ende entgegen.
In der Not griff man zu dem Sterilisierungsapparat der Mutze Mandel.
Die Entdeckung des Radiums war ein Kinderspiel gegen die Bemühungen der mit Vater Becker vereinigten Tanten, den Sterilisierapparat in Szene zu setzen. Gläser mit Maßstrichen und gebogene Glasröhren hatte man schon reichlich kaputt gemacht, sich auch bereits genügend die Finger verbrannt.
Das Kindchen schrie, daß es bereits blau im Gesicht war, nach Atzung. Die Nachbarn beschwerten sich. Ein Polizist kam von der Straße herein im Glauben, es würde jemand ermordet.
Man wußte nicht, was in die Flaschen kam. Das vor allem wußte man nicht.
»Milch«, schlug der Polizist vor.
»Richtig, natürlich Milch«, rief man froh und erlöst durcheinander.
Das Baby lag fast in den letzten Zügen, als man endlich die erste Pulle Milch bereitet hatte. Der Kleine sog die Milch mit Behagen. Mutze Mandel triumphierte. Der Sterilisierapparat ward anerkannt. Das Baby schlief nach seiner Pulle ein. Der Polizist ging weg.
Man müßte das Kind mal wiegen – Tante Tine kam auf die Idee. Das Kind wurde auf die Waage gelegt, wurde wach und begann natürlich wieder zu schreien. Man legte es wieder in die Wiege, da man aus der Waage doch nicht klug wurde.
Dann kam man in den nächsten Tagen endlich zum Verständnis der Waage. Man wog den Knaben vor und nach jeder Flasche und konstatierte triumphierend, daß er nachher immer schwerer war. Das war ein gutes Zeichen. Er gedieh, hurra!
Aber eines Tages bemerkte man, daß das Baby am nächsten Tage vor der Flasche gerade soviel wog, wie am Tage vorher vor der Flasche. Das war ja äußerst seltsam. Da man keinen Mathematiker zur Hand hatte, blieb diese Erscheinung unerklärt.
Dann empfahl eines Tages die Bügelfrau das Idealrapidsäuglingskraftwachsnährpulver »Koloß«.
Man gab dem Kind abends eine tüchtige Dosis, und bereits am nächsten Morgen fand man das Baby aufgeschossen zur Größe eines zehnjährigen Jungen, mit den Beinen und den Armen aus der Wiege baumelnd vor. Entsetzen packte die Tanten und die Eltern.
Und das Kind wuchs sichtbar. Die Wiege brach zusammen.
Die Tanten flüchteten in die Heimat. Die Eltern ergaben sich dem Malzbier.
Niemand wagte mehr, nach dem Kinde zu schauen.
Der Junge hatte in wenigen Tagen die Größe eines ausgewachsenen Mannes mit dem Intellekt eines Säuglings.
Er ging ins Leben hinaus, geriet in die Diplomatenkarriere und brachte es in kürzester Zeit zu einer leitenden, hohen Staatsstellung.
Niemals ist das Land so auffallend gediehen, wie unter dem Regime des jungen Becker.