Friedrich Schlögl
Skizzen
Friedrich Schlögl

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Alte »Achtundvierziger«

(Ein Wiener Straßenbild aus der Märzwoche 1881)

Sie hatten sich wieder einmal eingefunden. Fast vollzählig kamen sie und stellten sich auf die gemeinsamen Sammelplätze. Sie folgten keinem namentlichen Aufruf, keiner allgemeinen Verabredung – in spontaner Herzensregung trieb es sie nach den Orten, wo man sich selbstverständlich treffen mußte, wo man sich nach Jahren wieder sah und sich stumm begrüßte und bewegt die Hände reichte. Ohne Kommando erschienen sie, aber trotzdem pünktlich und gewissenhaft: Sonntags auf dem Schmelzer Friedhofe vor dem Grabe der Märzopfer, und montags am Sarge Füsters. Ein sehenswerter Anblick, diese Zivilveteranen, die letzten lebenden Überbleibsel aus der glorreichen Sturm- und Drangperiode!...

Schon frühmorgens konnte man am ersten Fest- und Trauertage markante Gestalten bemerken, die uns jahrüber gar nicht auffällig und die erst da wieder ihre Bedeutung bekamen, durch die Bedeutung des Tages. Meist grauhaarig, eilten oder trippelten und humpelten sie vorwärts, alle nach einem und demselben Ziele. Ein herber, eiskalter Orkan strich über den weiten Plan, aber die Unbill des Wetters hinderte sie nicht, den harten Marsch zu machen, aus fernen Vorstädten, von den entlegensten Punkten. Manchem fiel's sichtbar schwer, und schier mit Mühsal und Anstrengung schleppte er sich fort, aber dabei sein mußte er, und so achtete er nicht der brutalen Witterungslaunen, die sich ihm entgegenstellten, und daß es ihm bei jedem Schritt den Atem verlegte. War man einmal draußen, so vergaß man leicht die paar Fatiguen und stand mit gehobener Brust vor dem imposanten Denkmale. Ein beredtes Bild! Wortlos die Menge, doch wie Ehrfurcht spricht es aus ihren Mienen. Die Zeugen jenes Tages entblößen das Haupt, sie falten die Hände, ihre Lippen bewegen sich, und sie lispeln ein kurzes Gebet. Feuchten Auges nehmen sie dann Abschied und kehren heim zu den Ihren und erzählen den Söhnen und Enkeln von jenen großen Geschehnissen, wie das arg verlästerte Wien für ganz Deutschland das Zeichen zur Erhebung gab, welche Männer mit zweifelloser Todesverachtung die hehrsten Menschengüter uns eroberten und mit welchem Heldenmute die wackere Jugend allen voranstürmte!

Die Goldjungen! Am nächsten Tage umstanden ihre Erben einen toten Mann, der einst das lebendigste Symbol begeisterter Freiheitsliebe war! Wer da auf den Stufen der Karlskirche Heerschau hielt über die tausendköpfige Schar edelster Fortschrittskämpfer und sah, wie sie mit flammenden Blicken und geröteten Wangen den empfundenen Worten lauschten, die ein treu gebliebener und bewährter Streiter von damals mit vor Erregung zitternder Stimme sprach, der konnte den Glauben an die Zukunft nicht verlieren und atmete völlig erleichtert auf. »Noch gibt es eine Jugend«, sagten sich die Greise, die der Totenfeier beiwohnten, »sie wird das von uns Errungene bewachen!« Vernahmst du, den sie unter Lorbeer- und Immortellenkränzen begruben, diesen Trostesspruch? Blumen gab man dir mit auf die trübselige Fahrt, bleiche Schneeglöckchen und duftige Märzveilchen, als Scheidegrüße und zugleich als Lenzboten, als Erstlinge des erwachenden neuen Lebens!

Gerührt sahen die Alten dem Wagen nach, der so reich mit Liebesspenden behangen, gerührt und erschüttert, und sie murmelten so etwas vor sich hin, das klang wie eine bittere Klage: »Wieder einer! Bald sind's ihrer alle!« Dann trennte man sich und sagte sich ein ernstgemeintes Lebewohl, für lange Zeit, vielleicht zum letzten Male und für immer.

Gerührt und erschüttert, aber nicht in unmännliches Schluchzen aufgelöst. Manche blickten sogar stolz und erlabten sich an ihren Erinnerungen. Waren sie doch stets dabei, wo Gefahr drohte oder wo es heiß herging! Der unterschrieb schon am 6. März die Arthabersche Bürgerpetition, jener die Schriftsteller-, dieser die Studenten-Adresse. Der eine war am 13. März in der Herrengasse, als die erste Todessalve krachte, der andere hob einen Redner auf die Schulter, der das »System« und seinen Repräsentanten stürzte, und sein Nächster half in der Nacht zum 14. März das – nicht in Wien geborene – Brand- und Raubgesindel, das vor den Linien, zur Entheiligung des Tages, sein Unwesen trieb, abwehren und die Stadt vor Plünderung schützen. Allüberall gab's zu tun, und man legte Hand an in selbstloser, aufopfernder Hingebung. Welch eine Zeit! Welch Frühjahr, welch Sommer, welch fürchterlicher Herbst und schließlich welch ein entsetzlicher Winter! Ging's doch einigen nachmals auch recht schlecht und verseufzten sie die Jahre in dumpfenden Kasematten, oder auf ruheloser Flucht, unablässig verfolgt und wie ein Wild gehetzt von der blutgierigen Meute der Spione und Angeber! Müde und gebrochen kehrten sie später in die Heimat zurück, nichts mit sich bringend als die alte Liebe im Herzen, die Liebe zur »Sache«, die sie einst hieß, wenn's sein sollte, auch in den Tod zu gehen.

Die alten Achtundvierziger! Sind's doch ohnehin nicht mehr ihrer allzu viele! Längst deckt die meisten die Erde; hier und dort, in weiter Ferne scharrte man sie ein, fremd unter Fremden schlossen sie ihre Augen, aber gewiß noch einmal des Tages gedenkend, an dem die Menschenwürde ihre Auferstehung fand. Das Häuflein, das sich noch erhielt und seinen Schwüren treu blieb, das schlüpft jedoch bei solchen Anlässen aus seinen Kämmerlein hervor und steigt hinab auf die Straße und hält Umschau nach jenen, die ebenfalls pflichttreu dahergekommen. Eine Kontrollversammlung, eine Ehrenparade von Gesinnungsgenossen! Man teilt sich in kleine Gruppen und plaudert von entschwundenen Zeiten. Das eine Pärchen saß in der Reitschule und beriet die Grundrechte, das andere tagte im Sicherheitsausschusse und machte die fatale Exkursion nach Innsbruck und die riskante und gefahrvolle nach Prag mit. Täglich neue Kämpfe, Straßenschlachten und Hinrichtungen und so weiter. Sie hatten viel erstrebt und viel erreicht, zu viel verloren und zu viel gelitten, um die gewaltigen Einzelheiten jenes denkwürdigen Jahres je vergessen zu können. Wie eine Fata Morgana dämmert's nun in ihrem Gedächtnisse auf und zaubert ihnen die tragischesten Ereignisse wieder vor Augen. Ehret doch, ihr blühenden Jungens von heute, die Vorkämpfer eures Strebens, die Verteidiger von Licht und Recht und Wahrheit!

Ich spreche immer nur von jenen, die sich unter allen Umständen und Verhältnissen und in allen Lebenslagen als echtfärbig bezeugten und es heute noch sind; von jenen, von denen A. Grün singt:

Wem ihren Strahl die Freiheit einmal durchs Herz gegossen,
Abfällt der nie und nimmer, trotz sond'rer Kampfgenossen!

– von jenen, an denen jegliche Versuchung scheiterte, sie ins andere Lager zu bringen, die Armut, Not und Entbehrung litten und annoch leiden und den schnöden Judaslohn zurückwiesen, den ihnen gewisse Söldlinge anboten, wenn sie sich herbeiließen, zu Verrätern zu werden an der heiligen Sache. ich spreche nicht von jenen feilen Seelen, die einst groß getan mit ihrem Heldentum und dann jedem zu Füßen krochen, der ihnen einen Brocken zuwarf. Ich spreche, wie ich sie schon genannt, von den Treugebliebenen, nicht von den Überläufern und Glücks-Spekulanten, ich spreche von der allerdings arg zusammengeschmolzenen Garde der wahren und richtigen Achtundvierziger, die ihren Glauben nie verleugneten und die in ihrem Glauben sterben werden. Ja, auch diese »Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht!«

Es wurde in letzter Zeit, als die Glücksjägerei in alle Schichten der Gesellschaft drang und ihre Proselyten machte, fast schon Mode, über einen unbeugsamen Achtundvierziger zu spötteln und über die damalige Bewegung und ihre Anhänger faule Witze zu reißen. Namentlich der Idealismus dieser guten Leute wurde stark ins Zeug genommen und ad absurdum geführt. Der Idealismus! Wie lächerlich erscheint er den pfiffigen, verschmitzten, gefinkelten Praktikern! Nun, diese läppischen Idealisten erkämpften damals die gigantischeste Umgestaltung der staatlichen Organisation und begnügten sich mehrenteils mit dem Kampfesbewußtsein; daß an dem Gewinne später andere partizipierten, kümmerte sie nicht. Sie ebneten die Wege; daß sich auf dem ausgereuteten Raume mitunter das bedenklichste Gezücht dann breit machte, war nicht ihre Schuld, sie selbst drängten sich nicht herbei, von ihrer Saat zu ernten. Das taten die sogenannten »Klugen«, welche sich den Teufel darum scherten, wem sie es eigentlich zu danken haben, daß sie an so reicher und vollgefüllter Krippe ihr täglich Futter finden. Wenn die Neuzeit so manchen aufs üppigste nährt, denkt er daran, wer diese Neuzeit schaffen half? Die ehrlichsten »Gründer«, und wie höhnte man sie!

Die alten Achtundvierziger! Bewegt reichte mir vor dem Monolith einer die Hand, mit dem ich vor dreiunddreißig Jahren im Hofe des Landhauses stand, der in den Oktobertagen mir und meinem jungen Weibchen mit brennender Fackel den Weg über die Barrikaden zeigte und der dann aus meinen Augen entschwand. Jetzt traf ich ihn wieder. Die Jahre und das Exil haben ihm das Haar gebleicht und Furchen in die Wangen gezogen, aber die Augen blitzten noch immer. Lächelnd erinnerte er mich an unser bescheidenes Kneipenleben im frühesten Vormärz, wie wir da eine kleine Verschwörerbande bildeten und nur zu einer Göttin schwuren: zur gebenedeiten Freiheit! Der holden Dame durften wir jedoch unsere Huldigung nur in maskierter Weise darbringen, und so feierten wir sie unter dem Namen »Ännchen von Tharau«. Wenn dann ein Delegierter der vorstädtischen Hermandad die Ohren spitzte und unsern Gesprächen seine geneigteste Aufmerksamkeit schenken wollte, dann intonierte der Kantor das Dachsche Lied, und wir sangen verständnisinnig den für uns parabolischen Text:

Ännchen von Tharau, mein Reichtum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut;
Käm' alles Wetter gleich auf uns zu schlahn,
Wir sind gesinnet, bei einander zu stahn:
Krankheit, Verfolgung, Betrübnis und Pein
Soll unsrer Liebe Verknotigung sein!

Die naiven Idealisten! »Nun, komme es, wie es sei!« meinte mein Jugendgefährte, »aber zusammenhalten müssen wir, was, wir alten Bursche von damals! ›Noch muß man spüren Treu'!‹ ruft Hutten; Tröpfe mögen lachen, Lumpe mögen abtrünnig werden, eitle Gecken Tand und Flitter ergattern, der Rest ist doch gediegen Gold! Und sollte es schlimm und schlimmer werden, ich harre aus, und Sie wohl auch? Was? Ist's so oder nicht? Mag der große Haufe nach seinem Pläsier denken und leben und nach seiner Façon selig werden, wir sind's in unserer Art. Gedenken Sie Schenkendorfs

Wenn alle untreu werden,
So bleiben wir doch treu!«

Dann eilte er fort. Wahrhaftig, ein Unverbesserlicher – ein rechter alter Achtundvierziger! –

 


 


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