Friedrich Schlögl
Skizzen
Friedrich Schlögl

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»Allerweil fidel«

»Bei seiner Anhaltung gestand er, die defraudierte Summe in liederlicher Gesellschaft durchgebracht zu haben, weshalb er in Folge dieses Geständnisses sofort in Haft genommen wurde.«
Localcorrespondenz X.

Vielleicht lebt – außer den bekannten oberen Zehntausend – die Mehrheit der Bevölkerung doch noch zu gut?

Ich weiß, daß diese fiskalisch klingende Bemerkung, als dem entmenschten Busen eines passionierten Steuererfinders und -erhöhers entsprungen, von weichherzigen Humanisten klassifiziert zu werden verdiente, aber sie muß trotzdem ausgesprochen werden, denn sie drängt sich selbst dem oberflächlichsten Beobachter, wenn er seine Augen nicht absichtlich schließt, unwillkürlich auf. Gewisse Leute leben wirklich zu gut und nach ihren Verhältnissen in mancher Beziehung sogar verschwenderisch.

Ja, man verschwendet, man verjuxt und verjuckt, verschleudert und vergeudet nicht nur die sauer erworbenen blechernen Zehnerl, sondern auch die papierenen Einserl und Fünfer, und zuweilen noch breitere Noten. Was liegt dran? Eine lustige Stunde, ein lustiger Tag verschlingt den Verdienst einer Woche. Nun, unser Herrgott ist ein guter Mann, er läßt (angeblich) einen echten Wiener nie ganz zugrunde gehen, und was man heute in übermütiger Laune verputzt, für das wird sich schon morgen der Ersatz wieder finden. Oder übermorgen. Oder nächstens. Mittlerweile lebt man »auf Puff«, oder man versetzt Entbehrliches, oder man pumpt und borgt, oder man wagt Schlimmeres.

Und alles oft der schalsten Unterhaltung wegen. Aber man will sich eben unterhalten, und geschehe es mit nachträglich schwerster Buße. Ich kenne und kannte Familien, wo die Kinder hungern und barhaupt und barfuß auf der Straße herumvagieren, während Vater und Mutter mit einem erschnorrten Gulden zum Heurigen wallfahrten und sich dort »anstrudeln« lassen. »Allerweil fidel!« Man johlt und pascht, daß es an den Wänden hallt. Heimgekehrt prügelt man die winselnden Kinder, wenn sie nach Brot verlangen. Aber nachmittags hat man sich doch unterhalten.

»Nur lusti, Augusti!« heißt das Sprichwort. Vor zwanzig Jahren wohnte ein Weib in meiner Nähe, eine arme Wittib, die, um den ersten Maskenball im Theater an der Wien besuchen zu können, ihr Bettgewand verpfändete und ihr Kind beim Greißler zum Aufheben gab. Letzteres abzuholen vergaß jedoch die edle Mutter und rief, als man sie am zweiten Tage daran mahnte: »Jessas, richti, mein' Katherl! Auf den Nickl hab' i gar nimmer denkt!« Und dann erzählte sie lachend vom Ball, und »daß's a Herz war, wie's nix Zweit's mehr gibt!« Und dem merkwürdigen Weibe konnte man eigentlich nichts sonderlich Schlechtes nachsagen, es war arbeitsam, wusch daheim für die Leute und verdiente sich das Notdürftigste zum Leben auf rechtschaffene Art. Aber ein bodenloser Leichtsinn und ein untilgbarer Drang und Hang, eine Unterhaltung mitzumachen, verleitete dieses unverfälschte Wiener (Voll-)Blut zu Zeiten zu den närrischesten Streichen. Der Sonntag mußte ihr gehören – »wenn's Graz gilt!« So verkaufte sie ein Stück nach dem andern aus dem Nachlasse ihres Mannes, eines kleinen Arbeiters, und als das Letzte beim Teufel, der Zins nicht mehr gezahlt werden konnte und sie delogiert wurde, da ging sie, das Kind an der Hand, eigentlich noch wohlgemut beim Tore hinaus und warf den sie lautlos Anstarrenden die Worte zu: »Na, macht das was? Das is schon noblichern Leuten a g'scheg'n. Dessentweg'n lass'n m'r do no ka Traurigkeit g'spürn und derentweg'n geh'n m'r a no nit unter! Kumm, Kathi, laß dös Volk gaffen, wann s' lang g'nua g'schaut habn, wern s' schon aufhör'n. Kumm!« – Und dann höhnisch: »Ihr' Dienerin allerseits, bleibn S' halt g'sund und denken S' öfter an mi!« – Und sie entfernte sich mit dem Kinde. Wohin sie ging? Ich weiß es nicht. Beide entschwunden für immer meinen Augen. Nur ihre hellen Lachtriller summten mir noch lange in den Ohren.

Mit solchen Auswüchsen, die vielleicht nur im Temperamente ihre Wurzel haben, sei die ehrliche Armut im allgemeinen nicht stigmatisiert. Ich habe in dumpfen, feuchten Kellerlöchern, in ausgepfändeten Kämmerleins, auf elendem Strohlager, mit wirr herabhängendem Haare, mit ausgeweinten, blöde blickenden Augen, mit abgezehrten bleichen Wangen und schlotternden Knien die in Verzweiflung brütende wahrhafteste Not, den herzzerreißendsten Kummer gefunden und kennen und den Seelenkampf solcher Mütter und Väter achten gelernt. Ich beuge mich, wie oft, vor der Größe solchen Unglücks und vor dem Heroismus jener, die es zu ertragen hatten und es ertrugen. Was erzählte mir manch wackerer Armenvater, der es mit seiner Aufgabe ernst nahm; was erlebte ich selbst für Szenen, wo einem das Mark und Blut zu Eis gefriert! Doch das ist, wenn der Ausdruck nicht ungehörig, die edlere Sorte der Armen, denen selten ein Selbstverschulden ihres Loses zum Vorwurf gemacht werden kann, die ich auch nicht unter jene Typen rangiere, von denen ich hier im besonderen spreche und denen es zeit ihres Lebens nicht eingefallen, auf jene Devise zu schwören, die ich an die Spitze meiner Schilderung stellte: »Allerweil fidel!« Sie wußten nie etwas davon, nicht einmal in ihren sonnigeren Tagen. Sie blieben bescheiden, es traf sie nur Schlag auf Schlag.

»Allerweil fidel!« Andere rufen's in greller Lust, wenn's auch an allen Ecken und Enden bei ihnen hapert. Ja, noch mehr. Wenn alles »vergitscht«, dann fühlen sie sich erst auf der rechten Höhe ihrer Stimmung. Wie viele Verbrechen wurden begangen, nicht aus drängender Not, nicht in Hungersqualen, sondern, um mit dem Gelde, woran Blut geklebt, ein paar lustige Augenblicke sich zu gönnen. Und foltert diese Unseligen später etwa doch Reue? Selten. Ich durchschritt Strafhäuser und hörte in den Zellen und Arbeitsstuben die tollsten Lieder plärren. Man nannte es mir Galgenhumor. Ich hatte Briefe von zu lebenslangem Kerker verurteilten Raubmördern in Händen, die an Freunde und Verwandte geschrieben, als Motto und Schluß drastische G'stanzel und die Bemerkung enthielten: »Ich bin ein schlechter Kerl, aber lustig bleib' ich doch!« Einer dieser Auswürflinge versicherte: »Sollte ich doch einmal amnestiert werden, dann gibt's eine Remasuri in Hernals, wo ganz Wien davon reden soll!« Wir werden's wohl nicht erleben.

Es kam mir zuvor das Wort Temperament in die Feder. Vielleicht ist die Bezeichnung nicht genau, vielleicht ganz unrichtig, und ich sollte bei dem Worte »Leichtsinn« bleiben. Aber der Leichtsinn, wie er dieser Spezies Menschen eigen und sie kennzeichnet, ist ja nach Galenus und Heinroth eben ein Produkt des sanguinischen Temperamentes, das, leicht erregbar, für tiefere Eindrücke nicht empfänglich, und mehr für Scherz, Zerstreuung und Erheiterung den damit Begabten prädestiniert, der also folgerichtig für sich und seine Handlungen nichts könne, weil »seine Natur« ihn dazu treibe? Ach, seien wir aufrichtig; glauben wir an eine Selbstbestimmung, an einen freien Willen des Menschen und nennen wir die Sache bei dem rechten Namen: Gemütsverrohung, Nichtsnutzigkeit, Gedankenlosigkeit und – Dummheit, die allerdings auch eine Gabe Gottes ist, der den Menschen erschaffen.

Ja, die Dummheit ist der leitende Faktor bei so vielen unbegreiflichen Fällen. Die Dummheit ist unberechenbar in ihren Taten und weit gefährlicher als absolute Schlechtigkeit. Der veritable Strolch überlegt und kalkuliert und bedenkt die Folgen, der Dummrian handelt nach momentaner Eingebung, nach augenblicklicher Neigung, ohne die nächsten Konsequenzen zu prüfen. Wir haben Gerichtsverhandlungen erlebt, bei denen fünfzehnjährige Burschen und auch dreißigjährige Männer figurierten, die ihre Chefs oder ihre Angehörigen oder die Amtskasse bestahlen, und schon in der nächsten Nacht in einem Café chantant oder Tingel-Tangel, wo sie auffällig traktierten, mit dem Geld herumwarfen und überhaupt recht aufhauten, arretiert wurden. Ihre vermeintliche Herrlichkeit, ihre fidele Stimmung dauerte ein paar Stunden, für den Rest ihres Lebens waren sie verloren, Schmach und Schande brachten sie über ihre Familien, aber – wie ein solches Lümpchen beim Abführen zum Kerkermeister sagte: »Is alles eins, wenigstens hab' i a amal guat g'lebt!« Gut gelebt, mit dem Bewußtsein, ein Dieb zu sein.

Und ohne Zweifel auch heiter gewesen. Nun wohl bekomm's! Einer meiner Bekannten, der sich gern mit derlei Menschenrätseln, d. h. mit der Erklärung solcher Probleme befaßt, gelangt am Schlusse seines Deliberierens immer und immer wieder auf die entschuldigende Ansicht von der mangelhaften Organisation manchen Gehirnes. »So wie es Blind- und Taub- und Stummgeborne gibt«, meint mein Anwalt aller Bresthaften, »so gibt es auch geborne Esel! Haben wir Mitleid mit den Unglücklichen, und die Dummheit ist das ärgste Unglück!« Jawohl, aber das Leiden braucht nicht immer unheilbar zu sein und könnten manchmal Versuche nicht fehlschlagen, das Übel wenigstens zu mildern. Doch dazu gebricht's bei manchem meist an wirklichem Wollen, man fühlt sich in dem allgewohnten Dusel heimischer.

»Allerweil fidel!« Es ist dies die Leibmelodie und das Kriegsgeschrei auch jener, deren Mittel es anfänglich noch erlauben, stets in dieser Stimmung zu sein. Fesch Vater und Sohn z.B. schwören nur auf diese Formel, huldigen keinem anderen Prinzipe, kennen keine andere Aufgabe und ergänzen sich sogar gegenseitig in ihren ohnehin gleichartigen Bestrebungen und Tendenzen und helfen einer dem andern mit Ideen und Einfällen aus, wenn das Tages- oder Wochenprogramm monoton zu werden droht. Was der Alte nicht weiß, das weiß der Junge, und auf was der Vater nicht verfällt, auf das kommt der lustige Herr Sohn. Welch Halloh! wenn die Harmonie hergestellt! Man muß in den Hauptquartieren und Stammlagern dieser Gattung Ur- und Originalwiener, in gewissen Cafés, in prononciert altmodischen und altpatriarchalischen Kneipen seine Beobachtungen machen, den Dialogen ein geneigtes Gehör schenken und das Jägerlatein dieser eigentümlichsten Volksschichte verstehen, um sich klar darüber zu werden und es begreiflich zu finden, daß es Leute geben kann, die für ihre irdische Mission sich nur zwei, und zwar identische, Ziele aufgestellt: Jux und Hetz!

Allerweil fidel! Der alte Fesch, ein noch riegelsamer Mann in den sogenannten besten Jahren, Hausherr und Schalweber, in letzterer Eigenschaft nur mehr halb aktiv, da er die Leitung des Geschäftes seinem Sohne übergeben, tritt nach Tische in sein gewohntes Café und selbstverständlich schnurgerade zu dem Häuflein bewährter Spezi, die mit langen »Köllnischen« oder schöngerauchten Meerschaumpfeifen dampfend ausgerüstet, soeben beraten, ob man eine russische Preference oder den üblichen Tapper spielen soll. Zu anderweitigen Erwägungen, zu politischen Kontroversen, zu ernsten Debatten über kommunale Wirtschaftsangelegenheiten und sonstigen Gesprächsstoffen dieser Qualität versteigen sich die Herren nicht – das überlassen sie den anderen, den G'studierten; die Elite, die Crême des zünftigen Pfahlbürgertums interessiert sich für derlei Dinge nicht, sie liest auch nichts, außer (kurze) Notizen des Polizeirapportes und einzelne Stellen aus sensationellen Gerichtsverhandlungen. »Alles and're, was s' in die Zeitungen einidrucken, is ja eh derlogen!« So begnügt man sich als echter und rechter Spießer mit den geistigen Anregungen, die ein angesagter Ultimo bietet oder ein unerwarteter Contra. Damit reicht man schon aus, den Nachmittag und Abend und die halbe Nacht, überhaupt die sogenannte freie Zeit, d. h. jene, die das »Malefizg'schäft z' Haus« übrigläßt, totzuschlagen. »No, so fangen m'r an!« meint ein »vierstöckiger Eckhäusler«, »aufdeckt is schon!« Aber da erscheint eben Vater Fesch.

Vater Fesch ist auch ein »leidenschaftlicher« Tarockierer, und er hat von dem Sechziger, den er am Buckel, gewiß zwei Dritteile am grünen Tischl versessen, aber »a Hetz vor der Liner« ist ihm doch noch lieber. So ruft er denn auch, völlig überrascht von dem gehörten Vorhaben der Freunde und Brüderln: »Ja, was is 's denn? Ös werds bei den schön' Tag (er macht solche Repertoiresänderungen auch im Winter und bei garstigstem Wetter) do nit im Zimmer da knotzen bleibn? Rutsch'n m'r a bißl wohin, außi zum Salvini, oder zum Nußbaumer, oder sunst wo, wo a Tropfen zum Trinken is und a a Jux dabei is. I laß einspannen, wir habn alle Platz!«

»Wahr is 's!« ergänzen rasch die Genossen, »mir können ja die Karten a mitnehmen, wan ma eppa draußt wo ka krieget. M'r muß auf alle Fäll' bedacht sein!« Der gegenseitige Scharfsinn wird bewundert, man zahlt seinen Schwarzen und summt und pfeift und murmelt indessen präludierend einen Vierzeiligen, während Vater Fesch den Marqueurbuben hinüberschickt, dem Micherl sagen lassend, er möge einspannen und vorfahren. »Kann heut a Hetz wer'n! Nur allerweil fidel!«

Diese sämtlich bejahrten Männer haben noch nie im Leben eine Bildergalerie, ein Museum, eine Ambraser Sammlung oder sonst ein wissenschaftliches oder Kunstinstitut besucht, sind im Weltausstellungsraume meist auch nur in der Pilsner oder Kärntner Bierhalle zu finden gewesen; kamen, obwohl gesund und bemittelt, nie auf den Gedanken, eine Reise zu unternehmen, und sahen außer ihrer Vaterstadt, ja oft auch nur außer ihres Grundbezirkes, von der übrigen Welt nichts, als höchstens Liesing des Bieres, Klosterneuburg des Strohweines, Breitenfurt der Milchrahmstrudel und Breitensee der Riesenknödel wegen. Und sie lasen, seitdem sie das Schulbüchel aus der Hand gelegt, auch kein einziges Buch. Und sie blieben doch frisch und wohlgemut und heiter und waren in ihren Kreisen sogar geschätzt und angesehen und waren beliebt, denn sie waren allerweil fidel!

Das macht das Wiener Element ureinzig. Aber hören wir weiter. Der Micherl kann nicht vorfahren, weil – nun, weil Feschs Sohn den Wagen bereits in Beschlag genommen und mit seinen Spezis (jüngeres Blut) soeben ausgeflogen ist. Hm! Der Vater glaubte ihn im Geschäfte, er schüttelt den Kopf, aber da erinnert man ihn, daß heute Freitag, wo die »Harner Buab'n« sich hören lassen und daß es also »everdent« ist, daß der Karl vor die Taborlinie gefahren. Dort beginnt die Geschichte freilich erst spät abends, aber vielleicht sind sie früher zum »Hirschen« im Prater oder zum »Fürst« oder sonst wohin? »Richti, so wird's sein«, beruhigt sich der Alte, »fahr'n m'r ihnen nach, mir wer'n s' schon wo treffen, gibt a Mordgaudi, wann mir a ang'ruckt kommen!« Allgemeine Zustimmung. Und so geschieht es auch, und ein bekannter Fiaker, der sich für ähnliche Unternehmungen schon öfter bewährte und der um drei Fünferln bis früh morgens ein Uhr zu haben ist, bringt die bemoosten Häupter nach Wunsch an Ort und Stelle, und – man findet sich in der Tat. Nun gibt es auf beiden Seiten allerdings einen solchen Freudenspektakel, einen solch inbrünstigen Jubel, ein solch enthusiastisch Geschrei und Gebrüll, wie es in dieser Zügellosigkeit nicht einmal am 15. März 1848, als die Verleihung einer Konstitution proklamiert wurde, zu hören war und wo es an jauchzenden Hochrufen doch auch nicht fehlte.

Aber ich gerate mit meinen Schilderungen, die sich immer mehr ins Weite verlieren, insoferne auch auf Abwege, als ich mich von dem Ziele gänzlich entfernte, das ich mir mit dem zitierten Motto vorgezeichnet. Nun, das Einlenken ist nicht so schwer. Ich sprach ja doch nur von Vergnügungen aus Volkskreisen. Die Form ist die gleiche, die einen haben die Mittel, »allerweil fidel« zu sein, die andern haben sie nicht, aber das lustige Beispiel zieht an, verlockt, verführt, sie wagen, wagen ohne Überlegung, ohne Denkfähigkeit, grundsatzlos, den kurzen Traum, den flüchtigen Taumel beendet der Detektiv. Die alberne Posse ist überstanden.

 


 


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