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4. Über den Frieden

Die Friedensbeteuerungen der Staatsmänner (ein charakteristisches Symptom unserer Zeit) sind entweder überflüssig oder irreführend. Da die Sorge für den Frieden definitionsgemäß die wesentlichste Aufgabe des Staates ist, so klingt die Versicherung eines Staatsmannes, er wolle den Frieden, ebenso lächerlich, als wenn ein Lehrer zu Anfang jeder Stunde beteuern wollte: Heute will ich euch nur lauter Richtiges lehren! Aber wäre es nur dies, so ließe man sich die Betonung der friedlichen Absichten als eine zwar überflüssige, doch vielleicht beruhigende oder erhebende stereotype Phrase gefallen, wie das Amen am Schlusse des Gebetes.

Leider aber haben die Friedensversicherungen auch eine sehr ernste Seite, denn wir hören sie auch fortwährend aus dem Munde derer, die durchaus nicht friedlich gesinnt sind. Handelt es sich dabei um eine bewußte Irreführung, um eine Verschleierung kriegerischer Absichten und Pläne, so wäre dies schon abscheulich genug. Aber da man solche Absichten meistens leicht durchschaut, so werden daraus noch immer nicht so verheerende Folgen entstehen, wie die wirkliche Situation der Gegenwart sie zeitigt.

Die Wurzeln des wahren Übels sitzen nämlich sehr tief. Es liegt darin, daß die Staatsoberhäupter keineswegs absichtlich die Unwahrheit sprechen, wenn sie von ihrer Friedensliebe reden, sie beabsichtigen keine plumpe Täuschung, sondern glauben wirklich, vollkommen aufrichtig zu sein. Das gibt ihren Reden einen Ton der Ehrlichkeit, der das Volk mitreißt – zu den unsinnigsten Handlungen und eben auch gerade zur Gewalt und zum Kriege mitreißt – welch ein Satyrspiel!

Es gibt eine Bedeutung des Wortes »Friedenswille«, in welcher ihn gewiß jeder Mensch besitzt, der nicht gerade in einem perversen Blutrausch handelt, wie vielleicht Nero oder Attila oder Djingis Khan. Dieser Friedenswille besteht einfach in dem Gefühl, daß man wahrheitsgemäß und aus tiefer Überzeugung mit Nein antworten müsse, wenn man gefragt wird: Willst du, daß dein Volk mit einem anderen in blutigen Streit verwickelt wird, der vielleicht Millionen von Männern hinmordet oder in Krüppel verwandelt, Millionen von Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen macht? Man wird kaum jemals bezweifeln können, daß das Nein auf die so gestellte Frage wirklich aus dem Herzen des Politikers kommt, der es ausspricht; und wir werden ihm auch Glauben schenken dürfen, wenn er versichert, daß er, wenn es nach ihm ginge, die Zahl der Kriegswitwen oder -waisen nicht um hundert, nicht um eine einzige zu vermehren wünsche – und zwar nicht nur in seinem eigenen Lande, sondern auch bei anderen Nationen. Man wird auch kaum ein Staatsoberhaupt finden, das nicht mit dem allerbesten Gewissen sagen könnte, es sei in keiner Weise aggressiv gesinnt. Unter »Aggressivität« versteht nämlich jeder (solange es sich um ihn selber handelt) die Absicht, eines schönen Tages ohne besonderen Grund (d. h. ohne eine Handlung, die er als Herausforderung deuten könnte), vor das Volk zu treten und zu sagen: »Wir sind jetzt gut gerüstet! Laßt uns daher unseren lieben Nachbar angreifen.« Wenn nur dies »Kriegswille« genannt würde, hätte ihn freilich niemand als ein Rasender.

Diese Art des Friedenswillens ist also etwas Selbstverständliches; jeder hat ihn, der nicht gerade ein krankhafter Wüterich ist. Gerade deshalb aber ist es eine bewußte Täuschung und ein um so schlimmerer Betrug, wenn einer in die Welt hinausruft, ihm komme an Friedensliebe keiner gleich, und wenn er damit eben nur dieses Natürliche meint, das in keiner Weise wichtig sein kann, weil es ja überall vorausgesetzt werden darf.

Worin besteht also der echte Friedenswille und die echte Abneigung gegen den Krieg, die allein so genannt werden sollten, weil nur sie die leider nicht überall vorhandenen Gesinnungen darstellen, die für das Glück der Völker unentbehrlich sind? Die Antwort ist leicht genug. Einem Staatsmann, der sie nicht zu geben wüßte, sollte wahrhaftig das Schicksal eines Volkes nicht einen Tag lang anvertraut sein. Die wahre Friedensliebe ist natürlich nur da, wo der Wunsch zur Vermeidung blutigen Streites nicht nur vorhanden, sondern so stark und wirksam ist, daß er siegreich bleibt auch in den heftigsten Konflikten, in die er mit anderen Wünschen geraten kann. Ein Mensch muß nicht so sehr nach den Wünschen beurteilt werden, die er hat, als vielmehr nach den Wünschen, die tatsächlich zu Handlungen führen. Wenn man einen Trinker oder Morphinisten fragt: »Willst du gesund sein und lange leben?« so wird das Ja, das er antwortet, gewiß vollkommen aufrichtig sein – aber folgt daraus etwa, daß er so handeln wird, wie das von ihm anerkannte Ziel es erfordert? Die aufrichtigsten Friedensbeteuerungen sind völlig wertlos, wenn sie nur einen selbstverständlichen Wunsch ausdrücken, wenn aber die Garantie fehlt, daß der Wunsch auch starken Versuchungen gegenüber standhalten und in Taten umgesetzt werden wird. Es hat daher keinen Sinn, ein Staatsoberhaupt im allgemeinen zu fragen: »Bist du ein Freund des Friedens?« Denn seine Antwort wird stets »ja« sein und uns nichts über das lehren, was wir wissen wollen. Die Frage muß vielmehr lauten: »Unter welchen Umständen hältst du einen Krieg für unvermeidlich?« Oder: »Welchen höheren Prinzipien zuliebe würdest du etwa deine leidenschaftliche Friedensliebe opfern?«

Jetzt würde uns eine wahrheitsgetreue Antwort gestatten, die Gesinnung unseres Staatsmannes richtig zu beurteilen. Aber ach, nun entstehen neue Schwierigkeiten. Denn erstens ist es schwer, in diesem Fall eine ganz aufrichtige Antwort zu erhalten und ihre Aufrichtigkeit zu beurteilen, und zweitens müßte hier eine selbst aufrichtige Antwort noch keine wahrheitsgetreue sein, denn sowohl mangelnde Kenntnis der Tatsachen wie auch Selbsttäuschung können zur Verfälschung der Wahrheit führen. Schließlich lehrt die Erfahrung, daß auf solche Fragen mit ganz verschwommenen Begriffen geantwortet wird, weil in allen Köpfen über diese Dinge große Verwirrung herrscht. Und dann sind wir nicht viel klüger als zuvor.

Was die erste dieser drei Schwierigkeiten betrifft, so rührt sie daher, daß ein Staatsmann die Antwort, die er auf unsere Frage nach sorgfältiger Selbstprüfung geben müßte, auszusprechen sich scheut, er sagt also lieber eine Unwahrheit; und – das ist das Schlimme – er fühlt dabei wiederum kein schlechtes Gewissen; im Gegenteil, er glaubt ein gutes Werk zu tun, weil er die anderen nicht erschrecken und aufregen möchte; das nämlich – so glaubt er – könnte leicht zu einer Störung des Friedens führen, vielleicht gar einen Angriff oder Vorbereitungen dazu hervorrufen. Und so nimmt er denn, um dies zu vermeiden, im Interesse des Friedens das Odium einer Unaufrichtigkeit vor seinem Gewissen auf sich, dieser große Friedensfreund! Und wenn einer spricht, der sich selbst wirklich gerechtfertigt glaubt, so ist es sehr schwer, ihm die Unwahrheit seiner Worte anzumerken.

Geht es schon in dem geschilderten Fall nicht ganz ohne Selbsttäuschung ab, so fließt die zweite der aufgestellten Schwierigkeiten ganz und gar aus dieser Quelle. Nicht jeder Lenker eines Volkes besitzt die nötige Phantasie, um sich künftige Situationen richtig vorzustellen und vorauszuwissen, wie er darauf reagieren wird. Ein Diktator ist wohl selten imstande, genau die Umstände zu definieren, die ihn zum Krieg veranlassen werden; er wird auf unsere Frage irgend etwas Selbstverständliches, Nichtssagendes antworten, wie zum Beispiel, daß Krieg geführt werden müsse, wenn ein Volk angegriffen oder wenn es in seiner Existenz bedroht werde und dergleichen. Es wäre zu viel verlangt, wenn wir erwarten wollten, ein Politiker vermöge seine eigenen Triebe so zu analysieren, daß er angeben könne, unter welchen Umständen sein Friedenswille anderen Wünschen unterliegen würde. Die Selbsttäuschung besteht darin, daß er über die Konfliktsmöglichkeiten zwischen seinen Zielen hinwegsieht, daß er sie nicht zusammen denkt, sondern geneigt ist, sie isoliert vorzustellen.

So ist es kein Wunder, daß in den meisten Köpfen ein Nebel die wahre Sachlage verhüllt und daß auf die Frage: »Welche Prinzipien stehen höher als der Friede?« mit unklaren Worten geantwortet wird. Diese Unklarheit, welche die dritte und größte Schwierigkeit bildet, ist typisch für die Antworten, die man beinahe immer hört. Sie lauten nämlich: »Höher als der Friede steht die Ehre«; »Höher als der Friede steht die Freiheit«; »Höher als der Friede steht die Größe der Nation«. Worte wie diese können für wahrhaft gewaltige und herrliche Dinge stehen, sie können aber auch ebenso leicht mißbraucht werden, denn sie haben für sich genommen gar keine bestimmte Bedeutung; jedes dieser erhabenen Worte bezeichnet nur einen Rahmen, in den alles Mögliche eingespannt werden kann. Jemand sagt uns: »Für mich ist das Höchste die Ehre«. Sehr gut. Aber bevor wir wissen, was wir von ihm halten dürfen, müssen wir fragen: »Worin suchst Du denn Deine Ehre?« Vielleicht darin, möglichst viele Skalpe an Deinem Gürtel zu tragen? Oder darin, keine Beleidigung ungerächt zu lassen? Oder darin, in irgendeiner Kunstfertigkeit keinem nachzustehen? Alles dies wird ja wirklich oft unter »Ehre« verstanden. Oder siehst Du sie vielleicht nur darin, Deine Versprechungen zu erfüllen und das Leid der Menschen zu lindern, wo Du nur kannst? Im letzteren Falle gehört Dir meine Sympathie, aber viele Staatsmänner werden mitleidig über Dich lächeln. Wenn sie von der Ehre ihres Volkes sprechen, so wirst Du bei genauer Betrachtung ihrer Reden und Taten meistens finden, daß die Ehre darin besteht, »sich nichts gefallen zu lassen«, einen Besitz unter allen Umständen zu verteidigen, von anderen Nationen als »gleichberechtigt« angesehen zu werden, usw. Daß es vielleicht noch ehrenvoller sein könnte, eingegangene Verträge bis zum äußersten zu halten, wenn es auch Opfer kostet – diese Meinung wird man nicht so häufig hören. Um den Begriff der Ehre hat sich gerade wegen seiner Unbestimmtheit eine Art von Morallehre bilden können, die mit der christlichen (die aber nicht nur christliche, sondern allgemein menschliche Moral ist) wenig gemein hat. Der Stifter des Christentums pflegte nicht von Ehre, wohl aber von Güte und Menschlichkeit zu sprechen; und in der Bibel kommt das Wort, wenn ich mich recht entsinne, überhaupt nur in einer einzigen Kombination vor, nämlich als – »Ehre Gottes«.

Mit dem Worte »Freiheit« steht es ganz ähnlich. Es sagt mir gar nichts, solange ich nicht weiß: Freiheit wovon? und Freiheit wozu? Frei ist man, sofern man nicht gewaltsam gezwungen wird, etwas zu tun, das man nicht zu tun wünscht, und sofern man nicht gewaltsam gehindert wird, etwas zu tun, das man zu tun wünscht. Diese Freiheit ist in der Tat eines der allerhöchsten Güter des Menschen; ich wäre der letzte, dies zu leugnen. Aber man kann sie nur demjenigen einräumen, der ihrer würdig ist, das heißt demjenigen, dessen Charakter und Prinzipien die Sicherheit geben, daß er durch den Gebrauch seiner Freiheit den Bestand und den Frieden der menschlichen Gesellschaft nicht gefährden wird. Wo diese Sicherheit fehlt, muß sie durch Gesetze und Sanktionen beschränkt werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit, die von niemandem verneint wird, denn gewiß hält niemand Gesetze für überflüssig. Eine vernünftige Gesetzgebung bedeutet für wohlgesinnte Menschen überhaupt keine Einschränkung ihrer Freiheit (darin besteht gerade ihre Vernünftigkeit); denn bei ihnen führen die Wünsche, denen die Gesetzessanktionen entgegenwirken sollen, ganz von selbst nicht zu Handlungen, sondern werden von den eigenen Gegenwünschen unterdrückt. Daß Stehlen und Morden verboten ist, daß ich gezwungen werden kann, einen unterschriebenen Vertrag nicht zu brechen, ist keine Begrenzung meiner Freiheit, denn ich wünsche diese Dinge gar nicht zu tun, werde also durch jene Gebote nicht gehindert, so zu handeln, wie ich selber will. Dadurch, daß ich ausdrücklich die Verpflichtung auf mich nehme, nicht zu morden und zu stehlen, gebe ich nichts auf, meine Freiheit bleibt unberührt.

Gibt es Menschen, die jede Verpflichtung als Einschränkung ihrer Freiheit empfinden? Wenn ja, so würden wir sie als Verbrecher betrachten, ihnen die Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft aberkennen.

Es ist nur sehr sonderbar, daß ein Staat, welcher seine »Freiheit« beansprucht, darunter sehr häufig gerade das versteht, was kein Mensch einem Individuum jemals zubilligen würde, weil ihre Gewährung nur für einen Verbrecher, einen völlig asozialen Menschen Interesse hätte. In erster Linie steht da der Anspruch, sich »von niemandem Vorschriften machen zu lassen«. Die »persönlichen« Angelegenheiten des Individuums, in die es keine Einmischung zu dulden braucht, bilden einen sehr engen Kreis; aber die »inneren« Angelegenheiten eines Staates, in denen er unbeschränkt sein will, umfassen eine mächtige Sphäre.


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