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Erster Teil.
Grundlagen der Kulturphilosophie


1. Die Leistung des Verstandes

Das Verwunderliche und Fragwürdige an dem Verhältnis zwischen Natur und Kultur ist, daß überhaupt ein Unterschied zwischen ihnen besteht. Kultur ist nicht einfach ein Stück Natur, sondern steht im Gegensatz zu ihr. Diesen Gegensatz zu verstehen und durch die Erkenntnis seines Ursprungs seine Überwindung vorzubereiten: das ist die einzige Aufgabe der »Kulturphilosophie«. Aber wie bange muß einem um den gegenwärtigen Menschen werden, wenn man sieht, was heute unter diesem Namen geht! Es sind klapperdürre Gedanken, deren Dürftigkeit sich durch erhaben wallende Gewänder zu verhüllen sucht, gelehrte, gequälte Untersuchungen über die Methode der »Kulturwissenschaften«, die nur denen tief scheinen, die da meinen, alles, was Mühe kostet, müsse aus der Tiefe stammen (als ob man sich nicht auch auf Oberflächen weidlich abrackern könnte), es sind hochmütige Lobpreisungen des »Geistes« auf Kosten der »Natur«, während der Geist sich doch nur dann preiswürdig zeigt, wenn er von sich selber gar nicht und von der Natur nichts Schlechtes spricht. Kulturphilosophie ist heute ein Ausweg für schlechte Philosophen, die gleich Doktoranden, denen ein Thema fehlt, verzweifelt nach einem Eckchen des Wissens suchen, das von den großen Denkern der Vergangenheit vergessen wurde. Tatsächlich beginnen die Kulturphilosophen damit, Kant und seinen Vorgängern ihre »naturwissenschaftliche Einseitigkeit« vorzuwerfen, vermöge deren sie alles mögliche übersehen hätten. Aber sie wären keine großen Denker gewesen, wenn sie wirklich Wesentliches übersehen hätten.

Kultur kann nicht dadurch verstanden werden, daß man sie als gegebene Größe, als natürlichen Schmuck des Menschen einfach hinnimmt und auf ihre eigenen Begriffe bringt, sondern man muß sich zuerst über sie wundern. Es ist ein tiefer Unterschied zwischen den Menschen, ob diese Verwunderung die Gestalt eines freudigen Staunens oder eines Erschreckens annimmt, ob man in der Kultur mehr die Erhöhung über die Natur oder mehr die Abwendung von ihr sieht: auf jeden Fall muß man es am Anfang als Rätsel empfinden, daß es in der Welt, die doch Natur ist, überhaupt so etwas wie einen Gegensatz gegen die Natur gibt, daß die Gegenüberstellung nicht sinnlos ist – sonst wird man nicht einmal das Problem sehen. Der Gegensatz aber will zuerst gefühlt sein; wer nur seinen Verstand daran abmüht, ohne seine Seele daran wundgestoßen zu haben, wird nimmermehr imstande sein, zur Entwirrung des großen Knotens beizutragen.

Niemand kann den Gegensatz verneinen; niemand kann leugnen, daß es Unnatürliches gibt und dies nur innerhalb der Kultur. Daß man den Tieren keine Kultur zugesteht, mag nur daran liegen, daß in ihrem Leben nichts Unnatürliches zu entdecken ist. Daß die Biene ihre Waben herstellt, die Ameise ihre Städte baut, gehört zur eigentlichen Natur dieser Tiere. Nur in menschlichen Städten gibt es häßliche Bauwerke und andere Geschmacklosigkeiten – sollen wir einfach sagen, auch dies gehöre zur »Natur« des Menschen, oder sollen wir hier nicht lieber konstatieren, daß ein Problem vorliegt?

Vielleicht gibt es Menschen, die sich in ihrer Kultur, so wie sie gerade ist, vollkommen zu Hause fühlen, so daß sie ihnen, um mit Freud zu reden, kein »Unbehagen« bereitet. Es wären solche, die in der Gesellschaft und allen ihren Institutionen als in ihrem rechten Element sich tummeln und auch das, was sie daran etwa mißbilligen, als natürlichen, unabwendbaren Lauf der Dinge hinnehmen. Aber das sind sicherlich Menschen, die an der Oberfläche leben und nie an einen höheren Punkt gelangen, von dem das Menschliche sich überblicken läßt und die Kritik herausfordert, ihnen fehlt der Wille und die Kraft, selbst Kultur zu schaffen und umzuschaffen, ihnen fehlt der große Antrieb, über den eigenen Tag und den eigenen Umkreis hinauszudenken, sie fühlen die Grenzen ihrer Zeit nicht als Beschränkungen der Menschheit, sondern strecken sich behaglich innerhalb dieser Grenzen; für sie ist die Welt in Ordnung.

Der tiefere Mensch aber, scheint mir, kann nicht leben, ohne entweder ständig oder doch in entscheidenden Augenblicken an der Kultur zu leiden. Denn es handelt sich um Leiden; aus bloßem Unbehagen erwüchsen ihm keine Probleme. Es ist ein Leiden, an dem viele zugrunde gingen.

Jeder selbständige Geist muß einmal mit Staunen oder Schrecken an den Rand des Abgrunds treten, den die Kultur zwischen ihm und der Natur aufgerissen hat, erschüttert in die Tiefe und sehnsüchtig hinüber schauen – sehnsüchtig, obgleich es durchaus nicht das Paradies ist, das auf der andern Seite liegt. Denn die Natur ist ebenso furchtbar, wie sie mild und gütig ist; sie duldet überall Kampf, Schmerz und Tod. Sie überliefert die harmlose Antilope den reißenden Zähnen des Tigers, sie stattet den Haifisch mit seinem gräßlichen Gebiß aus, sie läßt Pest und Lepra wüten, ohne dem entsetzten Menschen freiwillig den geringsten Wink zur Hilfe oder Linderung zu geben. Der Unterschied zwischen diesseits und jenseits der Kluft ist also nicht der zwischen Hölle und Paradies; beides ist auf beiden Seiten, der Boden der Mutter Erde ist überall; auch in den Gebilden der Kultur ist nichts, was nicht ihm entstammte. Was also macht den Unterschied zwischen hüben und drüben, worin besteht die sonderbare Fremdheit, mit der die Kultur in der Natur dasteht und über sie hinblickt?

Wer sie entfremdet hat, ist nicht schwer zu sehen. Es ist oft gesagt worden und wir wissen es alle: der menschliche Intellekt ist es, der die große Kluft verschuldete. Nur durch dieses scharfe, gefährliche Werkzeug, das die Natur dem Menschen zum Kampfe ums Dasein gab, konnte die Kultur gemacht werden. Sie ist selbst zuerst aus jenem Kampfe hervorgegangen, sie bestand aus lauter Schutzvorrichtungen gegen Kälte und Hunger, d. h. gegen den Winter und die Dürre der Natur. Der Mensch schützt sich gegen die Härten der natürlichen Umwelt durch Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeit. Da Erkenntnis darin besteht, das Neue auf das Alte zurückzuführen (nämlich in beidem dieselbe allgemeine Regel zu finden), so ermöglicht sie ihrem Besitzer, auch in ganz neuen Situationen richtig zu handeln, auf unvermutete Ereignisse zweckmäßig zu reagieren. Hiedurch ist eine viel vollkommenere Anpassung an die Umwelt möglich als durch die Instinkte, welche das Verhalten der Tiere regulieren, denn diese sind ihrem Wesen nach auf ganz besondere und bestimmte Umstände eingestellt, während Erkenntnis das Allgemeine, Beliebige umfaßt. Denken heißt: Möglichkeiten erwägen; durch das Denken, durch den Verstand bereitet sich also der Mensch auf mögliche Gefahren und Gelegenheiten vor, die Instinkte dagegen beziehen sich auf typische, also oft vorgekommene wirkliche Gefahren und Gelegenheiten.

Die erste Tat des Verstandes bei einer allgemeinen Vorbereitung ist die Erfindung des Werkzeugs – der Mensch ist nach Carlyle the tool-using animal –; anfänglich dienten Erfindungen wohl zu Schutz und Abwehr, doch wird dieser negative Zweck mit den positiven Mitteln der Lenkung der Naturgewalten erzielt, und die Kulturtätigkeit nimmt allmählich einen immer mehr positiven Charakter an. Viehzucht, sodann Ackerbau werden erfunden, durch sie und durch die Erzeugung von Kleidern und Wärme gelingt es, kalte und ursprünglich unfruchtbare Erdstriche wohnlich zu machen, d. h. der Mensch sucht nicht nur Kälte und Unfruchtbarkeit in seiner Heimat zu bekämpfen, sondern er zieht ihnen erobernd entgegen. Wie sehr sein Wille und alle seine Fähigkeiten hiebei geübt wurden, hat man oft geschildert, indem man darauf hinwies, daß die Geburtsstätte aller großen menschlichen Fortschritte in den gemäßigten und nördlichen Zonen zu suchen sei.

An dieser Entwicklung ist nichts Sonderbares und Wunderbares; der Verstand erfüllt hier offenbar seine »natürlichen« Aufgaben; er ist dazu da, dem Menschen auf diese Weise zu helfen, er steht im Dienste der Lebenserhaltung, des Nahrungs- und Wärmebedürfnisses. Die Kultur, die er bis hieher geschaffen hat, ist noch ganz »natürlich«. Das Unnatürliche entsteht offenbar ganz allein durch den Mißbrauch der Vernunft. Dies ist nun eben das Merkwürdige; hier ist unsere Frage an dem Punkt angelangt, wo der Knoten geschürzt ist. Sie lautet jetzt: Was heißt denn überhaupt »Mißbrauch« der Vernunft? Wie kann denn überhaupt Erkenntnis, das Wissen um die Zusammenhänge der Welt, mißbraucht werden? Ist es nicht seiner Natur nach nützlich, ist das nicht sein Wesen? Wie also kann es auch schädlich sein?

Daß dies wirklich eine Frage ist, sieht man gerade dort am deutlichsten, wo sie – nicht gestellt wurde, wo der Philosoph eben dadurch, daß er sie nicht sah, aufs Glatteis geriet. Dies geschah dem Sokrates, dessen Gleichung »Tugend = Wissen« nur daraus entsprang, daß Mißbrauch der Erkenntnis für ihn etwas schlechthin Unvorstellbares war. Er konnte sich gar nicht denken, wie dergleichen zugehen sollte.

Es ist aber nicht schwer, die verschiedenen Möglichkeiten zu überschauen, wie der Verstand zu einer Quelle des Leidens werden konnte.

Erstens ist er zwar das Werkzeug der Erkenntnis, aber, wie alles in der Welt, ein unvollkommenes. Das Produkt seiner Tätigkeit ist daher durchaus nicht immer Erkenntnis, sondern auch Irrtum. Er versagt, wenn ihm zu schwere Aufgaben gestellt werden, und zu Anfang ist er nur den allerleichtesten gewachsen. Zum Beispiel bildet die Voraussetzung für den Ackerbau die Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges zwischen Saat und Ernte; die Summe aller Vorbedingungen aber, die zu einer guten Ernte gehören, ist für den Menschen zunächst ganz unüberschaubar. Auf der Suche danach schlägt er zunächst ganz falsche Wege ein, und so kommt es, daß in prähistorischer Zeit der Glaube erstaunlich weit verbreitet war, eine gute Ernte lasse sich durch Menschenopfer kausal hervorrufen. Dieser Aberglaube war natürlich nur innerhalb eines größeren Komplexes anderer Irrtümer möglich, aber ein um so besseres Beispiel bietet er uns dar, ja sogar ein ganz typisches; denn was auf dieser Stufe Starrheit des Aberglaubens ist, bleibt auf höheren Stufen als Heiligkeit der Gebräuche und Unerbittlichkeit der Sitten erhalten und fordert auch hier seine Menschenopfer, wenn auch in weniger sichtbarer Weise. Daß wir heute Menschenopfer als verabscheuenswerte Barbarei ansehen und unsere Ernten nicht mit ihrer Hilfe, sondern vermittelst Stickstoffdüngung zu bessern suchen, ist zweifellos dem Fortschritt der Erkenntnis zu danken. Hier macht also der Verstand seine Fehler im Laufe der Zeit wieder gut, indem er sich vervollkommnet. Der Schaden, den er in einem Durchgangsstadium seiner Entwicklung angerichtet hat, verschwindet mit der Überwindung dieses Stadiums. Die Rationalisten und Aufklärer glauben, daß dies überhaupt der Weg zur Überwindung der Kulturschäden sei. Sie wären danach einfach die Folge von Rechenfehlern; diese würde der Verstand mit dem Wachsen seiner Klugheit und der Mehrung seiner Erfahrung korrigieren und so schließlich zu einer Kultur gelangen, in der das Glück der Menschen durch keine seiner eigenen Institutionen gestört und vermindert wird, sondern vielmehr die größte Höhe erreicht, welche die Natur zuläßt, d. h. die Gesamtheit der durch den Menschen nicht mehr veränderlichen Bedingungen irdischer Existenz.

Es besteht aber zweitens noch eine ganz andere Möglichkeit, wie die Erkenntnis innerhalb der auf ihr selbst beruhenden Kultur deren Zwecken entgegenwirkten und Unglück und Unlust in das Leben hineintragen kann. Auch vollkommen richtige Einsichten des Verstandes können nämlich »mißbraucht« werden. Nachdem der Mensch gelernt hat, Feuer zu erzeugen, wird er von dieser Erfindung zum Schutz gegen Kälte und zur Bereitung seiner Speisen Gebrauch machen; wenn er aber die Hütte seines Nachbars in feindlicher Absicht anzündet, so werden wir von einem Mißbrauch sprechen. Als die Chinesen das Pulver erfunden hatten, verwendeten sie es zu der harmlosen Spielerei der Feuerwerke; als aber dieselbe Erfindung in unserem Europa wiederholt wurde, machte man bekanntlich einen ganz anderen Gebrauch davon. (Diese Tatsache allein spricht Bände und verdiente, den Ausgangspunkt einer ganzen Kulturphilosophie zu bilden.)

Auch in diesen Fällen werden durch Einsichten der Vernunft Wünsche befriedigt, die ohne sie ungestillt bleiben müßten – worin besteht also hier der Mißbrauch? Offenbar gerade darin, daß jene Wünsche besser unbefriedigt geblieben wären. »Besser«, heißt natürlich: im Hinblick auf die Glücksfolgen besser. Es ist zwar ein trivialer und flacher Satz, daß Freude und Glück der Menschen den einzigen Wertmaßstab der Kultur – und nicht nur der Kultur – liefern, aber das ist kein Einwand gegen seine Wahrheit und enthebt uns nicht der Verpflichtung, ihn auszusprechen. (Wer die Wahrheit nur dort erkennt oder anerkennt, wo sie in der Tiefe liegt und Geist fordert, ist ihrer nicht würdig, und sie wird sich ihm schließlich auch in der Tiefe entziehen.) Aber wenn »besser« hier auch einen andern Sinn hätte, so müßte es doch einer sein, der schon vor der Kultur liegt und ebenso bereits im rein Natürlichen gefunden wird, wie Lust und Leid. Auf jeden Fall liegt also die Ursache der Kulturübel schon im Menschen bereit und der Verstand ermöglicht nur ihre Entfaltung. Der Wilde hätte die Hütte seines Nachbarn vielleicht schon gern zerstört, bevor das Feuer ihm die Gelegenheit dazu gab; der Wille zur Vernichtung des politischen Feindes bestand schon, ehe die Erfindung von Explosivstoffen einen Weg dazu wies.

Zusammenfassend können wir sagen: der Verstand ist an den Mißlichkeiten des Kulturlebens erstens dadurch schuld, daß er zu schwach, zu ungeschickt ist, in schwierigeren Fällen wahre Erkenntnis zu gewinnen, also richtige Voraussagen zu machen; zweitens aber dadurch, daß er durch seine Einsichten den gefährlichen Trieben des Menschen Vorschub leistet. Anders ausgedrückt: unvollkommen ist sowohl das Vermögen, das Bessere zu erkennen, als auch das Vermögen, das Bessere zu wollen. Noch anders ausgedrückt: der Mensch leidet sowohl infolge seiner Dummheit als auch infolge seiner Schlechtigkeit.

Das erste ist hauptsächlich eine Angelegenheit des Soziologen und des Technikers, das zweite interessiert zuerst den Ethiker.

Im zweiten Falle handelt es sich um Gut und Böse, und damit hat es nun eine ganz eigentümliche Bewandtnis. Hievon wollen wir zu allererst sprechen, denn wir stehen da in einem Zentrum und auf einer Erhebung, von wo aus wir nach allen Seiten Umschau halten und allmählich nach außen vorwärts schreiten können.

Wir hatten soeben festzustellen, daß im Menschen, bevor er noch in den Kulturzustand tritt, allerlei Triebe sicherlich wirksam sind, die, für sich betrachtet, einem zufriedenen Leben innerhalb der Gesellschaft nicht förderlich wären. Neben freundlicheren, sozialen Trieben besitzt er wahrscheinlich eine gewisse Roheit und Grausamkeit, die er vielleicht nötig hat, um sich überhaupt im Daseinskampfe zu erhalten, die aber bestenfalls notwendige Übel darstellen, denn sie bewirken häufige Störungen des friedlichen Zusammenlebens. Es sind aber Eigenschaften, die auf dieser Stufe als »natürlich« anzusehen sind und daher dem Menschen keinen »moralischen« Tadel eintragen.

Bedienen sich aber diese natürlichen Triebe der durch die Kultur, also durch Vernunft geschaffenen Mittel, so werden sie auf einmal »schlecht«, so verliert der Mensch auf einmal seine Unschuld, die wir auch dem bösartigsten Tiere nicht absprechen, dem scheußlichen Skorpion so wenig wie der grausamen Schlange, die ein Kaninchen lebendig verschlingt. Es ist also wahr, was Shakespeare sagt: »Nothing is either good or bad, but thinking makes it so«. Es ist also wahr, was die Legende der Bibel in der Genesis erzählt: daß der Genuß der Frucht vom Baum der Erkenntnis schuld daran war, daß der Mensch die Unschuld einbüßte. Es ist also wahr, daß es im reinen Naturzustande kein Gut und Böse gibt, daß Moral erst mit der vernunftgeschaffenen Kultur beginnt. Die Kultur ist eine moralische Angelegenheit. Das Kulturproblem ist ein moralisches Problem.

Die Vernunft hat also irgend etwas mit der Moral zu tun, sie ist irgendwie schuld an der Moral. Viele Philosophen ahnten hier dunkel einen Zusammenhang. Aber wie sehr haben sie ihr unbestimmtes Gefühl mißdeutet: Drei so grundverschiedene Ethiker wie Sokrates, Bentham und Kant glaubten, jeder auf seine Weise, daß die Moralregeln direkt aus der Vernunft stammten – während es uns doch eben scheinen mußte, als ob vielmehr die Vernunft die Erfinderin der Unmoral, des Bösen sei. Kant bemerkte, daß nur bei vernünftigen Wesen von Moral die Rede sein kann, aber er ließ sich dadurch zu zwei schweren Irrtümern verleiten: erstens zur Erfindung des besonderen menschlichen Vermögens der »praktischen Vernunft« und zweitens zur Verdrehung des Gegensatzes zwischen instinktiv-natürlich und vernünftig-künstlich in den Gegensatz zwischen natürlich-amoralisch und übernatürlich-moralisch. Alle Neigungen des Menschen, ob sanfte oder gefährliche, sind nach Kant natürlich, ihnen zu folgen, ist bloßer Egoismus, sie gehören dem Menschen als »bloßem« Naturwesen an; um moralisch zu sein, muß er sich zum mindesten über die Natur erheben, meist sogar sie bekämpfen. Auf jeden Fall ist Moral nach Kant nichts Natürliches, und ich muß gestehen, daß mir diese Lehre als eine Beleidigung der Natur erscheint. Ich werde jedenfalls die entgegengesetzte These verteidigen, daß nämlich das Unmoralische immer das Unnatürliche ist, daß moralische Gesinnung in gar keiner Weise etwas Naturfremdes ist, sondern vielmehr gerade definiert werden kann als diejenige Gesinnung, auf der die »natürliche« Kultur ruht, d. h. jene gute, echte, die nicht im Gegensatz zur Natur steht, sondern ein Stück von ihr selber ist.

Böse ist alles, was diesen Gegensatz schafft. Ja, nur das ist böse, was die Kluft aufreißt und das Menschliche vom Natürlichen abtrennt. Schreckliches und Gefährliches gibt es überall, auch in der menschlichen Natur, aber zum Bösen wird es erst, wenn es dadurch, daß es die Erkenntnis in seinen Dienst zwingt, in ein Widernatürliches umschlägt.

Nichts kann »gut« sein, nichts zur »echten« Kultur gehören, das sich nicht in die Natur als ein Stück von ihr einfügen läßt. Dies werden wir einsehen und damit den wahren Sinn des ὁμολογουμένως τῇ φύσει ζῆν (in Übereinstimmung mit der Natur leben) entdecken.

So also verhalten sich Natur, Verstand, Kultur und Moral zueinander: in der Natur geht es gefährlich zu, und der Zufall ist dort ein mächtiger Herrscher; die Tiere und zuerst auch der Mensch schauen nicht weit voraus und leben daher in der Dämmerung; im Dunkel braucht man Kraft und harte Haut; gegen zufällige Gefahren sind es die einzigen Schutzmittel. Dann zündet der Verstand das Licht der Erkenntnis an und es wird heller um den Menschen. Sehr weit leuchtet er zwar nicht, und Schopenhauer hatte recht, den Verstand einem schwachen Laternchen zu vergleichen; dennoch gelingt es, mit Hilfe des Brennglases »Wissenschaft« auf kleinste Bezirke unerhörte Helligkeit zu konzentrieren und dadurch schließlich die innersten Zusammenhänge aufzudecken – aber das hat zu unserer Frage nur indirekte Beziehungen: das Wichtige ist, daß der Mensch überhaupt sehend wurde, daß seine Instinkte nicht mehr im Dunkeln tasten und anrennen. Das Licht genügt, sich jeweils ein Stückchen sehend zurechtzufinden und Wege, jeweils ein Stückchen, anzulegen – eben die Wege der Kultur –; und nun kommt alles darauf an, ob die Helligkeit wirklich benutzt wird, um zu neuen Glücksmöglichkeiten vorzudringen oder um das Getümmel und den Streit zu vermehren, die vorher im Dunkel planlos stattfanden. Geschieht das letztere, so wird, um Ausdrücke Leibnizens zu borgen, aus dem physischen Übel das moralische, der Mensch beginnt auf eine neue, besondere Art zu leiden. Dies Leiden ist die Qual der Schuld: sie ist wie von einem dunkel drohenden Orgeltone von dem Gedanken begleitet: »Es könnte anders sein, dieser Schmerz ist nicht notwendig, wir haben ihn selbst verursacht«. Ein solches Gefühl gibt es nicht gegenüber den Schmerzen, die von der Natur (dem »Zufall«, dem »Schicksal«) verhängt sind durch Krankheit, Mißernte, Sturm und Erdbeben. Sie erscheinen als das »Notwendige«, Unabwendbare, die moralische Haltung ihnen gegenüber ist Ergebung; den Kulturübeln gegenüber aber ist die moralische Haltung der Entschluß zur Besserung, die sittliche Tat. Wir verstehen nun, wie der Mensch zu dem Gefühl kommt, eine Freiheit zu besitzen, die er dem Tiere abspricht. Man muß Vernunft besitzen, damit das Gefühl der Freiheit entstehen kann, denn es setzt ja voraus, daß man bewußte Absichten haben und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung erwägen kann – man darf aber nicht so viel Verstand haben, daß man die Zukunft haarscharf vorauswüßte, denn wüßte man sie, so könnte ein Bewußtsein von »Freiheit« niemals sich einstellen, weil dann der Begriff des Willens gar nicht gebildet werden könnte. So liegt in den Philosophenreden vom »Reich der Freiheit und der Vernunft« ein Körnchen Wahrheit – aber in welchem Haufen metaphysischen Gerümpels versteckt!

Es ist ganz richtig, daß Geist, Kultur, Sittlichkeit, Freiheit, Geschichte – oder was sonst alles noch als Widerpart der »Natur« betrachtet wird, nur das Wesen »Mensch« auszeichnen. Man müßte sehr blind sein, um dies nicht zu sehen und nicht zu bemerken, daß alle jene Worte keineswegs nur verschiedene Dinge bezeichnen, die sich zufällig in diesem Wesen zusammenfanden, sondern daß es sich hier vielmehr um Namen für verschiedene Seiten einer und derselben Sache handelt. Was das für eine Sache ist, scheint aber schwer zu verstehen zu sein, wenn man anders (was nicht selbstverständlich ist) aus den vergeblichen und absurden Anstrengungen der Philosophen an diesem Punkte schließen darf, daß sie sich um eine schwierige Frage bemühten. Die meisten von ihnen haben den billigen metaphysischen Ausweg eingeschlagen, daß sie außer der Natur die Existenz eines zweiten Reiches behaupteten und für den Menschen allein das Vorrecht in Anspruch nahmen, Bürger beider Welten zu sein. Man sollte sich endlich einmal darüber klar sein, daß es immer viel leichter ist, eine metaphysische Konstruktion zu machen, als den empirischen Zusammenhängen, den stets maßlos verwickelten Tatsachen auf den letzten Grund zu sehen. Vollends die Statuierung einer zweiten Welt als Ort für alles das, was man in der ersten nicht gleich unterbringen kann, ist der billigste, verbrauchteste philosophische Kunstgriff, dessen sich kleine Geister mit solcher Regelmäßigkeit und Skrupellosigkeit bedienen, daß wir seiner wirklich überdrüssig geworden sein sollten. Zu entschuldigen, ja zu bewundern war er nur, als er das erste Mal angewendet wurde, nämlich von Platon, eben weil es das erste Mal und sehr kühn war wie alle Anfänge. Seitdem aber sind die tiefen Wasser Platons durch den philosophischen Schutt der Jahrhunderte längst flach geworden, der Gedanke der zwei Reiche ist heute sehr seicht. Es könnte natürlich trotzdem zufällig etwas Richtiges daran sein, denn es wäre ja möglich, daß in der Welt in irgendeinem Sinne zweierlei zu unterscheiden wäre (wie z. B. Räumliches und Zeitliches in der Natur): aber dann müßte dies durch besondere Gründe erfahrungsmäßig dargeboten werden, liebe Freunde! Und tief wäre es durchaus nicht, sondern gerade das Nächstliegende und Trivialste. Wer sich einbildet, einen profunden Gedanken dadurch angedeutet zu haben, daß er vor das Wort »Natur« das Wort »bloß« oder »unfrei« setzt, oder was ihm sonst noch an Ausdrücken der Geringschätzung einfällt, der weiß gewiß nicht, was tiefes Denken heißt, und wir müssen ihn im Verdacht haben, daß er für tief hält, was irgend seinem kleinen menschlichen Stolz schmeichelt oder mißverstandenen Wünschen entgegenkommt. Wenn man die Fragen, die zum sogenannten psychophysischen Problem führen, einfach durch die Statuierung eines Dualismus von Leib und Seele beantwortet, wenn man die Frage nach dem Wesen der Kultur durch die Statuierung des Dualismus von Natur und Geist erledigt, so hat man damit einfach zu dem allerbequemsten Mittel gegriffen, das niemand einen Augenblick für besonders vornehm halten würde, wenn es nicht für den Menschen selbst eine Bestätigung seines Glanzes und Ranges zu verbürgen schiene. In Wahrheit ist das erstens nur Schein, denn warum sollte die höchste menschliche Erhabenheit nicht auch ohne Dualismus und innerhalb der Natur möglich sein? Und zweitens bedürfen Rang und Wert des Menschen keiner Bestätigung und Legitimation; wenn sie vorhanden sind, ist es unsinnig, sie beweisen zu wollen; es wäre so, als wollte man den Wohlgeruch der Rose erst durch die chemische Formel ihrer Duftstoffe außer Zweifel stellen. Wirklich tiefe Denker werden die Plattheit des Gedankens einer Stufenordnung von Reichen: Natur – Seele – Geist stets empfinden und in ihr weder Argument noch Ziel irgend einer Beweisführung sehen. Mit welcher Klarheit und Sicherheit hat etwa Nietzsche solche Mittel verschmäht!

Was ich also auch noch für Trivialitäten sagen werde (und ich bemerkte schon, daß ich vor ihnen nicht zurückschrecken werde, sofern sie nur wahr sind) – der gegenwärtig wieder in Mode stehende Gedanke von den zwei Reichen der Natur und des Geistes, welche an der Stelle ihrer Durchdringung die Kultur in ihrer sichtbaren Wirklichkeit erzeugen – dieser Gedanke wird nicht darunter sein. Gerade weil ich für den Gegensatz zwischen Natur und Kultur ein viel stärkeres Gefühl zu haben glaube als aus den Schriften unserer gegenwärtigen Kulturphilosophen spricht, wird ihre banale metaphysische Konstruktion mir niemals ernst genug erscheinen.


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