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2. Biologische und historische Entwicklung

Obgleich wir nichts wissen über die tatsächlichen Vorgänge und ihre zeitliche Ordnung, durch die der Mensch sein Schicksal von dem der übrigen Tiere trennte, so können wir dennoch deutlich angeben, wodurch sein Weg sich von dem aller bekannten Wesen unterscheidet.

Der Mensch hat eine Geschichte, das Tier (und der primitive Mensch) nicht. Was ist damit eigentlich gesagt?

Offenbar mehr als die bloße Behauptung einer zeitlichen Änderung, eines Durchlaufens aufeinanderfolgender Phasen, denn in der organischen Welt, ja auch in der anorganischen, ist nichts unveränderlich, alles entwickelt sich. Nicht-organisches Geschehen kann in unserem Zusammenhange ganz außer Betracht bleiben, und so ist nur die Frage zu beantworten: Was unterscheidet die historische Entwicklung von der biologischen?

Es ist leicht, ein paar unterscheidende Merkmale zusammenzustellen, aber es kommt darauf an, das Wesentliche zu sehen.

Wer sich nicht lange bei Äußerlichkeiten aufhalten möchte, wird geneigt sein zu sagen, daß die Geschichte durch bewußtes, zweckvolles Handeln der Menschen fortschreite, während die biologischen Prozesse sich in den lebenden Wesen ungewollt, ohne Rücksicht auf ihre Absichten vollziehen. Im Biologischen scheint das Individuum Objekt, im Historischen dagegen Subjekt zu sein. Und man wird vielleicht triumphierend darauf hinweisen, daß wir schon hier auf den Gegensatz bewußt – unbewußt, blind – zielstrebend stoßen, also auf Kategorien, die von jeher als wesentlich für die Unterscheidung von Natur und Geist angesehen wurden.

Aber gemach! Ohne bestreiten zu wollen, daß jene Formulierung tatsächlich Richtiges sagt, möchte ich betonen, daß zunächst ihr Sinn klar festgestellt werden muß und daß es dazu notwendig ist, über sie hinauszugehen zu höherer logischer Genauigkeit.

Es ist klar, daß wir von dem Tun irgendwelcher Lebewesen dann – und nur dann – sagen, es geschehe »spontan« oder »mit Bewußtsein«, wenn ganz bestimmte äußere, das heißt sinnlich wahrnehmbare Kriterien vorliegen, und daß es schlechterdings keine andere Rechtfertigung der Rede vom »bewußten« Handeln gibt. (Wollen wir entscheiden, ob ein Mensch bei Bewußtsein ist oder nicht, so können wir das nicht dadurch, daß wir uns auf irgend eine mystische Art in ihn hineinversetzen, sondern ganz allein dadurch, daß wir sein Verhalten beobachten, z. B. seine Reaktion auf gewisse Reize.) Da wir also auf jeden Fall auf jene Kriterien zurückgreifen müssen, so tun wir besser, sie sogleich bei der Formulierung zu berücksichtigen, also nach den wahrnehmbaren Merkmalen zu fragen, welche die geschichtliche Entwicklung vor der biologischen auszeichnen. Wir müssen also zu den »Äußerlichkeiten« zurück, von denen wir vorher absehen zu können glaubten.

Was ist für jede biologische Änderung, also auch die biologische Evolution charakteristisch? Offenbar dies, daß sie somatisch ist, die dauernde körperliche Beschaffenheit betrifft, und zwar nicht bloß des Individuums, sondern stets der ganzen Art. Die historische Entwicklung hingegen läßt den menschlichen Leib und seine ursprünglichen Fähigkeiten unverändert und berührt nur sein Handeln, seine Lebensweise, seinen Aufenthaltsort, kurz jegliche Art seines Verhaltens. Dies alles aber findet seinen Ausdruck in den menschlichen Institutionen.

So deutlich die Grenze ist, die damit gezogen wird, so lassen sich doch leicht Einwände sowohl gegen ihre Durchführbarkeit wie gegen ihre Zweckmäßigkeit erheben. Erstens mag es vorkommen, daß eine Gemeinschaft von Lebewesen bei unverändert bleibendem Körperbau zu einer Modifikation ihrer Daseinsweise gezwungen wird durch Bedingungen, die wir als rein »natürlich« ansprechen, so daß dabei von Kultur oder Geschichte gar keine Rede ist. Eine vulkanische Katastrophe, die Verbreitung einer Malaria kann weite Landstriche zur Besiedlung ungeeignet machen und die Bewohner in neue Gegenden treiben, in denen es auch neuer Methoden der Ernährung und des Wetterschutzes bedarf. In diesen Fällen handelt es sich aber um isolierte Vorgänge, um den einmaligen Übergang von einer Lebensform zur anderen, der nicht den Keim weiterer Veränderungen in sich trägt. Es fehlt ihnen also das Merkmal der Entwicklung. Als Ursache eines derartigen Prozesses ist leicht der grobe äußere Anstoß zu finden und damit ist jener selbst als »Natur«-Prozeß erkannt.

Während uns also dieser erste Einwand keine Schwierigkeiten bereitet, nötigt vielleicht ein zweiter zu tieferen Erwägungen. Man kann nämlich umgekehrt auf die Möglichkeit hinweisen, daß Änderungen der menschlichen Körperbeschaffenheit sehr wohl auch durch solche Entwicklungen herbeigeführt werden können, die zweifellos unter die historischen Vorgänge einzureihen sind. Der Mensch hat planmäßig die Typen seiner Haustiere, seiner Nutz- und Zierpflanzen herangezüchtet; hier ist offenbar das Biologische selbst dem Kulturprozeß dienstbar gemacht und ihm als organischer Teil eingeordnet. Und wir brauchen nur an die Bestrebungen der Eugenik zu erinnern, um ein Beispiel dafür zu haben, daß auch die biologische Fortentwicklung des Genus homo sapiens von der Kultur als ihre eigene, ja vielleicht als ihre höchste Aufgabe ergriffen werden kann. Während aber der Gedanke der Eugenik ein Zukunftsplan ist und möglicherweise bleiben wird, gibt es auch Fälle, in denen eine Umwandlung des Typus zwar nicht absichtlich erzeugt wird, aber doch als Folge und Bestandteil historischen Geschehens eintritt. Hieher gehört die Mischung verschiedener Rassen, die so oft als Ursache und Wirkung von Völkerschicksalen eine große Rolle spielt, ferner die Entstehung des nordamerikanischen Typus und ähnliches. Haben wir hier einen Kultur- oder Naturprozeß vor uns?

Nun, offenbar einen Naturprozeß, der innerhalb der historischen Entwicklung stattfindet und naturgesetzlich zu ihr gehört. Das ist aber gar nichts Besonderes, denn man macht sich leicht klar, daß überhaupt jeder geschichtliche Vorgang, jede Kulturhandlung sich aus lauter natürlichen Prozessen zusammensetzt, die zu einer Kulturerscheinung erst werden durch eine eigentümliche Ordnung, durch ein Ineinandergreifen und Zusammenwirken, das sie der menschlichen Tätigkeit verdanken. Zerlegt man das Geschehen in einer Fabrik, die doch etwas höchst Künstliches ist, in kleinste Teilvorgänge, so stößt man auf lauter chemische Umsetzungen oder physikalische Ereignisse, deren jedes für sich ebenso auch irgendwo in der freien Natur vorkommt. Beim Schreiben ist der Fluß der Tinte aufs Papier ein rein physikalischer Vorgang usf. Analog kommt jeder der Teilprozesse, aus denen das Funktionieren eines lebendigen Organismus besteht, auch im Anorganischen vor, und darauf beruht das Recht, von einer Kulturerscheinung wie etwa dem Staat als von einem Organismus höherer Ordnung (selbst schon aus Organismen bestehend) zu sprechen; aber man glaube nur ja nicht, damit die Sache irgendwie verständlich gemacht oder ihr einen »metaphysischen Hintergrund« gegeben zu haben.

Unsere letzte Überlegung führt zu dem Ergebnis, daß auch der zweite Einwand unser Kriterium des Unterschiedes zwischen biologischem und historischem Prozeß nicht umwerfen kann: Wandlungen des körperlichen Habitus bleiben »natürliche« Vorgänge, auch wo sie als Folge und innerhalb eines Systems menschlicher Institutionen auftreten, wie ein Stein ein Stein bleibt, auch wenn er der Mauer des Hauses eingefügt ist, und dadurch nicht selbst Haus wird.

Das entscheidende Merkmal der Kultur ist das Zusammenfassen, Organisieren der Naturvorgänge nach einem Plan. Ich nannte es vorhin die »Institutionen«; diese sind aber in der Tat nichts anderes als die sichtbar gewordene Organisation. Organisation heißt zweckmäßige Ordnung und planmäßige Lenkung; aber die Worte Zweck, Plan, Lenkung, Steuerung und ähnliche werden in der Biologie und Psychologie mit größter Naivität mißbraucht, um Unklarheiten und unbewußte Denkfehler zu verdecken. Diese Gefahr ist in der Kulturphilosophie zwar viel kleiner, besteht aber doch; wir gehen ihr von vornherein aus dem Wege, indem wir uns unserer Bemerkung entsinnen (die für Psychologie und Biologie noch viel wichtiger wäre), daß der Sinn aller hier anzustellenden Betrachtungen sich prinzipiell durch den Bezug auf empirisch aufweisbare Gegenstände angeben lassen muß.

Die Institutionen also, die zu irgendwelchen Verhaltungsweisen oder Tätigkeiten dienen, sind Komplexe von Vorrichtungen, die der Mensch geschaffen hat und die nun greifbar als diejenigen geformten Gegenstände vorliegen, die man Werkzeuge in der weitesten Wortbedeutung nennt. Es ist wesentlich für sie, daß es unbelebte Gegenstände sind, denn sonst würden sie nach dem Gesagten nicht den Charakter des Künstlichen tragen.

So kommen wir schließlich auf die alte Bestimmung zurück, nach der Kultur mit dem Werkzeug beginnt und mit dem Werkzeug fortschreitet; die Carlylesche Definition des Homo sapiens ist ganz richtig. Die Entwicklung, die mit der Erfindung der Werkzeuge beginnt, unterscheidet sich sehr bald von der rein biologischen auf zwei Weisen:

Erstens durch das unvergleichlich raschere Tempo und zweitens durch die individuelle Mannigfaltigkeit. Beides sind eigentlich die entscheidenden äußeren Kennzeichen, durch die wir tatsächlich das Kulturerzeugnis vom Naturprodukt, das menschliche Leben vom tierischen unterscheiden.

Werfen wir zunächst einen Blick auf das zweite: Auch bei den Tieren findet man oft eine gewisse Verwendung leblosen Materials, die man, wenn auch einigermaßen gezwungen, als werkzeugmäßig bezeichnen könnte. Ich denke etwa an den Sandtrichter des Ameisenlöwen, an die Waben der Bienen, den Nest- und Höhlenbau so vieler Tierarten. Aber hier sind diese Tätigkeiten eben Eigenschaften der Art: Jedes Individuum übt sie unter den gleichen Umständen auf die gleiche Weise. Die Handlungen der Einzelwesen stimmen so genau miteinander überein, daß sie in ihren allgemeinen Zügen mit Sicherheit vorausgesagt werden können. Wir nennen solches Handeln dann »instinktiv«, und es ist wichtig, zu bemerken, daß mit dem Wort Instinkt nur die geschilderte Besonderheit des Verhaltens getroffen wird. Das Werkzeug dagegen wird vom einzelnen erfunden, von dem einen so, von dem andern anders; der eine versteht es zu gebrauchen, der andere ist ungeschickt, dem einen fallen Verbesserungen ein, auf die der andere nicht gekommen wäre usf. Bei dieser Art der Tätigkeit, für welche die große individuelle Verschiedenheit, das Atypische des Verhaltens charakteristisch ist, das für uns die Vorhersage ausschließt – bei ihr sprechen wir von vernünftigem, spontanem, auch von »bewußtem« Handeln, und es ist wiederum wichtig, zu bemerken, daß mit all diesen Worten, soweit sie zur Schilderung des Tuns von Lebewesen dienen, nur die angeführten Eigentümlichkeiten gemeint sein können, denn sie sind ja das einzig Feststellbare.

Das andere der oben aufgezählten zwei Momente, die Rapidität der Entwicklung der Werkzeuge und ihres Gebrauches, ist eine Folge des ersten, weil mit der Verschiedenheit und Zahl der Einzelerfindungen die Zahl der möglichen Kombinationen enorm steigt und die Anpassung der Werkzeuge an die Bedürfnisse und die Umgebung, die sogenannte Beherrschung der Natur, von einem gewissen Stadium ab immer leichter und wirksamer sich vollziehen kann. Die Kombination von Werkzeugen ist die Maschine im modernen Sinn, durch die, wie schon ausgeführt, viele kleine natürliche Prozesse zu einem künstlichen zusammengefaßt werden. Jeder Schritt drängt von sich selbst aus zum nächsten, es gibt da – wenigstens in der für uns überschaubaren Zeit – kein Innehalten. Dies ist eben Geschichte: die schnelle Änderung der Einrichtungen menschlichen Lebens auf der Erde, im Gegensatz zu den langsamen biologischen Wandlungen. Es bedarf keines Hinweises darauf, in wie wenigen Jahrhunderten (und auch ein paar Jahrtausende wäre wenig) der Mensch seine gesamten Daseinsformen und die Oberfläche unseres Planeten völlig umgestaltet hat, während in derselben Zeit keine irgendwie bemerkenswerte Entwicklung der Arten des Menschen stattfand. Die menschlichen Einrichtungen haben sich ganz und gar verändert, der Mensch selbst ist derselbe geblieben.

Oder hat sich, wenn schon einige Jahrtausende über ihn hinweggingen, ohne seinen Körper zu beeinflussen, vielleicht dennoch seine Seele geändert? Das heißt (wenn wir der Frage eine Form geben, in der sie beantwortbar wäre): Reagiert der Mensch anders als ehemals, etwa feiner, mehr differenziert, stärker, tiefer? Oder gröber, dumpfer, oberflächlicher? Der Streit, ob der Mensch in historischer Zeit intellektuell und moralisch gewachsen sei oder abgenommen habe, war deshalb nie zu entscheiden, weil man nicht weiß, ob die Wandlung im Leben und Treiben nur auf die selbsterzeugte Änderung des Milieus zurückzuführen ist oder ob der heutige Mensch auch anders reagieren würde, wenn er sich in der Umgebung von einst befände. Ein Experiment, durch das man dies letztere ermitteln könnte, wäre kaum ausführbar, und so scheinen wir zwei Unbekannte, aber nur eine Gleichung zu haben und an der Lösung verzweifeln zu müssen. Aber hierüber ist bei späterer Gelegenheit noch einiges zu sagen.

Für jetzt halten wir fest, daß die Kultur, das künstliche Leben, mit der Erfindung der Werkzeuge anhebt, und daß dies identisch ist mit dem Eingreifen des »Verstandes« als »Lenkers« der Tätigkeiten, mit der Entstehung der individuellen Differenzen in diesen Tätigkeiten und mit dem Auftreten von »Freiheit« und »Verantwortlichkeit«. Das letztere deshalb, weil erst beim differenzierten Handeln der Begriff des Individualwillens anwendbar wird. Bei den instinktiven Tätigkeiten kann man nur gleichnisweise von einer Manifestation eines »Artwillens« sprechen, wobei von einem Verantwortungsgefühl des einzelnen nicht die Rede sein kann.

Mit dem Werkzeug und dem planmäßigen, verstandesmäßigen Handeln beginnt auch das, was man Technik zu nennen pflegt. Alle Kultur ist technisch begründet (auch die »geistige« Kultur, Kunst, Poesie, Wissenschaft haben ohne Anfang der Technik keine Möglichkeit des Entstehens). Oswald Spengler möchte in seiner Schrift »Der Mensch und die Technik« München 1931, S. 8. den Begriff der letzteren viel weiter fassen, indem er ihn auch auf das Verhalten der Tiere anwendet und etwa von der »Technik eines Löwen« spricht, der »eine Gazelle überlistet«. Damit verscherzt er sich, wie mir scheint, die Möglichkeit, gerade dasjenige zu begreifen, worauf es uns hier ankommt: den letzten Gegensatz zwischen Kultur und Natur. Dabei sieht er durchaus klar den ungeheuren Unterschied zwischen dem Verhalten der Tiere und des Menschen, indem er in jenem eine unpersönliche Gattungstechnik erblickt (wobei er auch das Wort »Instinkt« richtig verwendet), in der Menschentechnik aber, »den einzigen Fall in der Geschichte des Lebens, daß der einzelne aus dem Zwang der Gattung hinaustritt S. 24 f. – Meine oben mitgeteilten analogen Bemerkungen waren geschrieben, bevor ich Spenglers Schrift kennenlernte.. Er läßt die Kultur mit dem natürlichen Prozeß der Entstehung der Hand beginnen und stellt dabei die kühne Hypothese auf, daß dieser Prozeß eine plötzliche Mutation und gleichzeitig mit der Erfindung des Werkzeugs gewesen sei A. a. O., S. 28.. Daß auch die Anthropoiden im Besitz wohlausgebildeter Hände sind – ja sogar deren vier ihr eigen nennen –, übersieht er geflissentlich. Er behauptet: »Technik ist nicht vom Werkzeug her zu verstehen«, und sucht das zu begründen, indem er sagt: »Es handelt sich nicht um Dinge, sondern immer um eine Tätigkeit, die ein Ziel hat … Jede Maschine dient nur einem Verfahren und ist aus dem Denken dieses Verfahrens heraus entstanden A. a. O., S. 8 f.«. Das ist richtig, aber völlig trivial. Denn es wird doch niemand meinen, die Menschen hätten zuerst ein Boot gebaut und seien dann erst darauf verfallen, damit zu fahren. Sicher ist die Vorstellung des Fahrens das Prius, aber bevor nicht die Vorstellung des Bootes oder des Wagens dazukommt, entsteht eben keine Technik.

Gelegentlich werde ich noch auf andere Gedanken in Spenglers Schrift, deren Thema sich ja mit dem unsrigen berührt, zurückkommen.

Es ist ein Lieblingsgedanke Spenglers, daß der Mensch ein Raubtier sei. »Das Raubtier ist die höchste Form des frei beweglichen Lebens … Es gibt dem Typus Mensch einen hohen Rang, daß er ein Raubtier ist A. a. O., S 17.«. Man sieht aus diesen Worten, daß der Gedanke dem Verfasser sympathisch, schmeichelhaft ist, und deshalb (nicht, wie leicht zu zeigen, wegen seiner Richtigkeit) ist ihm fast jedes Argument recht, das seine lieblose These zu stützen scheint. So gilt ihm als besonderes Merkmal des vornehmen Raubtieres das stereoskopische Sehen, wie es durch parallel gestellte, nach vorne gerichtete Augen möglich wird. Aber Adler und Habicht haben seitlich gestellte Augen und noch mehr gilt das von dem raubtiermäßigsten aller Geschöpfe, dem Haifisch. Warum wird er nicht erwähnt? Wer die (doch nur aus einer gefühlsmäßigen Einstellung entspringende) These von der Herrlichkeit der Raubtiere bestechend findet, dem wünsche ich, er möge einmal Gelegenheit haben, einen Blick in das böse Auge jenes entsetzlichen Tieres zu werfen. – Und umgekehrt: die Affen, die ja Pflanzenfresser sind, haben denselben stereoskopischen Sehapparat wie wir. Sollten wir unser nach vorn gerichtetes Augenpaar nicht eher unserer Verwandtschaft mit dem Schimpansen als mit dem Löwen verdanken? Spengler geht diesem Gedanken aus dem Wege. Er sagt von der beschriebenen Augenstellung: »In dieser Art des Sehens, wie sie nur die edelsten Raubtiere besitzen – Pflanzenfresser, z. B. Huftiere, haben seitwärtsstehende Augen … –, liegt schon die Idee des Herrschens.« Für das perspektivische Sehen gilt also dasselbe, was wir schon für die Hand fanden: die Anthropoiden haben, auf keine Weise ein Recht, mit dem Menschen in einem Atem genannt zu werden. »Nur die systematische, klassifizierende Wut bloßer Anatomen«, sagt Spengler A. a. O., S 19 f., »haben ihn in die Nähe der Affen gebracht …« Er sagt ferner, die Ansicht der Naturforscher stark übertreibend: »Gerade im »System« steht der Mensch abseits und außer aller Ordnung«; da er jedoch ganz wohl das Vergebliche aller Versuche fühlt, den Menschen auf wissenschaftliche Art eher zum Vetter des Tigers als des Affen zu machen, so sagt er im nächsten Satz, der Körperbau habe in diesen Fragen überhaupt außer Betracht zu bleiben: »Aber das geht uns, die wir sein Leben betrachten, nichts an. In seinem Schicksal, seelisch, ist er [der Mensch] ein Raubtier A. a. O., S 22 f..« Freilich versteht man jetzt nicht, warum denn vorher körperliche Einrichtungen zum Beweise herangezogen wurden und wie Spengler gar auf derselben Seite seiner Schrift sagen konnte: »Nur der anatomische Standpunkt des Zoologen läßt Körperbau und Lebensart auseinanderfallen. Geht man von der inneren Form des Lebens aus, statt von der des Leibes, so ist diese innere Taktik des Lebens und die Gliederung des Leibes ein und dasselbe, beides Ausdruck einer organischen Wirklichkeit.«

Überall sonst wendet sich Spengler gegen die Feigheit und Flachheit, die darin liegt, den Blick vor den Tatsachen zu verschließen und unseren Wünschen und Neigungen einen Einfluß auf die Farbe und Gestalt des Weltbildes einzuräumen. Mit Recht! Aber die geringere Ähnlichkeit des Menschen mit dem Löwen und Adler, die größere mit dem Affen ist auch eine einfache Tatsache. Seien wir doch auch ihr gegenüber tapfer! Man kann sie übrigens nicht ableugnen, ohne schließlich komisch zu wirken. Aus Spenglers Raubtier-Argumenten folgt weiter nichts, als daß er selbst lieber ein Löwe als ein Affe sein möchte, und vielleicht den gleichen Wunsch für die anderen Menschen hegt. Dies kann uns begreiflich erscheinen, aber nicht gegen die Tatsachen blind machen.


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