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Doch zunächst »blühte« dieser »Lieblingsfrühling«, wie Robert es hieß.

Denn auch er hatte sich in einer ganz bestimmten Hinsicht für Cäcilie verändert.

Sein dialektisierendes Wesen pflegte ja zumeist nur dann zum Vorschein zu kommen, wenn sie jene Cäcilie war, die er nicht verstand, die ihn bedrückte, langweilte.

Wie er aber jetzt war, schien diese abscheuliche Eigenschaft doch nur eine Angewohnheit, eine Pose gewesen zu fein. Jetzt war er ganz der Millionärssohn, der wirklich sehr scharmante Kerl.

Cäcilie hatte auch schon deshalb mehr Gelegenheit, ihn als solchen kennenzulernen, weil man wieder in der Saison lebte und sie jetzt mit ihm an deren Zerstreuungen teilnahm.

Aber es gab auch bestimmte andere Gelegenheiten, die ihn ihr noch unmittelbarer von dieser Seite her zeigten.

Er gab hin und wieder bei sich Herrenabende, zu denen seine nächsten Freunde und sonstige Bekannte, Großkaufleute und auch Offiziere der Garnison geladen waren. Man war dann meist bei Champagner miteinander guter Dinge und heute wohl auch.

Cäcilie hatte sich in ihrer jetzigen Stimmung, übrigens zu Roberts Freude auch für diese Herrenabende interessiert und nahm öfter an ihnen, als die einzige Dame, teil. Sie trank Champagner mit, rauchte eine Zigarette und nahm an der Unterhaltung teil. Manchmal machte sie sogar ein Jeuchen mit ...

Man sprach zwar in der Stadt darüber, doch eigentlich nicht gerade in einem Cäcilie nachteiligen Sinn.

Die Herren nannten sie eine »famose Frau« oder einen »prächtigen Kerl« und sprachen mit einer Achtung von ihr, mit der sich eine gute kameradschaftliche Zuneigung und Verehrung vereinte. Sie galt als Ausnahmenatur. Was aber die Damen anbetraf, so war es allgemein bekannt, daß sie mit Robert in einer sehr glücklichen Ehe lebte und mit welcher echt mütterlichen Hingabe sie ihr Kind pflegte, und so gewöhnten auch sie sich, sie eben als eine Ausnahmenatur anzusehen ... Es erhoben sich zwar in den Damenkreisen auch bedenkliche Stimmen, die aber im ganzen überhört wurden.

Ihr Leben schien eine endgültig entscheidende Wendung genommen zu haben.

Es schien, als ob sich die Cäcilie, die sie von Natur und Charakter war, resigniert hätte und ein für allemal jene andere geworden wäre, die Robert und seinen Eltern so gefiel.

Doch in Wahrheit war nichts weniger der Fall als das. Vielmehr: ihre bisherige Unruhe hatte nur vorübergehend ihren Charakter geändert, war aber im übrigen dieselbe geblieben.

Und zwar äußerte sich das zunächst damit, daß sie anfing, ernstlich nervös zu werden ...

Als sie sich von diesen und jenen auffallenderen Nervenbelästigungen her dessen bewußt wurde, übermannte sie ein wunderliches instinktives Erschrecken, eine Angst, die gleichsam ein unwillkürliches Stutzen ihres besten und wertvollsten Selbsterhaltungstriebes bedeutete.

Sie fand zunächst, daß sie sich mehr und gesündere körperliche Bewegung machen müßte, und so kam sie eines Tages auf den sonderbaren, im übrigen aber für ihr eigentliches Wesen vielleicht kennzeichnenden Einfall, sie wolle reiten lernen.

Robert war, als sie ihm das mitteilte, zuerst nicht recht einverstanden.

»Cecil,« wandte er ein, »man wird darüber reden! Ich glaube, es wird zuviel Aufsehen machen. Es ist eine zu große Seltenheit, daß eine von unseren Damen reitet.«

»Aber was denn!« beharrte sie gereizt. »Sie fahren allerdings lieber Equipage. Oder das neueste: Automobil. – Sie wissen doch schon, daß ich ein Original bin, daß ich mit euch gezecht und gejeut habe. Ich denke, sie werden's auch ertragen, wenn sie mich spazierenreiten sehen. Außerdem aber: ich tu's doch meiner Gesundheit wegen? Der Arzt kann mir's ja noch extra empfehlen; dann wird ja doch wohl alles in Ordnung sein.«

Sie erreichte wirklich, daß sie Reitunterricht nehmen konnte.

Sie betrieb ihn mit Eifer und Hingabe und mit drängender Ungeduld.

Denn sie hatte eine wahre Gier darauf, ihren ersten und selbständigen Weitritt zu unternehmen.

Auch an den Gesellschaften nahm sie jetzt, wie Robert meinte, mit Hingabe und ganz besonderem Glück teil.

»Was sie für ein merkwürdig vielseitiger Charakter ist!« dachte er.

Indessen wurde sie ihm gegenüber, der das freilich mit dem Umstand entschuldigte, daß sie ja an den Nerven litt, von Tag zu Tag launischer und gereizter.

Einer ihrer harmloseren Einfälle – er gefiel ihm sehr – war der, daß sie Robert eines Tages aufgefordert hatte, sie doch wieder einmal zu einem solchen Souper zu zweien in das gleiche Lokal zu führen, wo sie damals, als sie sich kennengelernt, soupiert hatten.

Er hatte dann aber sehr zu bereuen gehabt, diesem Wunsche nachgegeben zu haben. Denn Cäcilie hatte sich gegen Ende des Zusammenseins immer stummer und seltsamer und, Gott mochte wissen aus welchem Grunde, verstimmter und geradezu langweilig benommen. Und schließlich hatte sie noch vor der Zeit fast bös und in ungnädiger Laune zum Aufbruch gedrängt...

*

Seinen Höhepunkt erreichte dieser unruhige Zustand aber mit einem intimeren Verkehr, in den sie in letzter Zeit mit Helene Vorberg gekommen war.

Mit diesem Verkehr drohte ihr schon eine ernstlichere Gefahr.

Helene galt nicht gerade mit Unrecht für ein eigenartiges, ungewöhnlich begabtes Mädchen, das außerdem also, wie es heißt, in gewisser Hinsicht »den Teufel im Leibe« hatte.

Ihr kühles, schillerndes Wesen, ihre Klugheit, ihr bis zum Spitzfindigen fein spürender Verstand, ihre vielseitigeren geistigen Beschäftigungen, eine aparte Distanz, in der sie sich zu halten wußte, ihre unermüdliche Zähigkeit, wenn es galt, nach irgendeiner Richtung hin seinen Willen durchzusetzen, die dabei bis zur entschiedensten Vorurteilslosigkeit gehen konnte, und das, was an ihr festbestimmter Charakter zu sein schien, hatten von Anfang an auf Cäcilie Eindruck gemacht.

Weniger freilich, weil sie all diese Eigenschaften Helenes mit dem Verstand abzuschätzen imstande gewesen oder weil sie ganz und gar so besonders sympathisch von ihnen berührt worden wäre – eigentlich war eher das Gegenteil der Fall –, aber ein geprägter Charakter zog hier immerhin den anderen an ...

Helene Vorberg aber hatte es schon von jeher auf Cäcilie abgesehen gehabt.

Mehr als einmal hatte sie versucht, ihren Umgang mit ihr zu einem vertrauteren werden zu lassen, doch war Cäcilie damals zu sehr mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt gewesen; auch hatte sie sich, bevor ihr unruhiger Zustand zu seiner eigentlichen Entwicklung gelangt war, von Helene eher abgestoßen als zu ihr hingezogen gefühlt.

Aber Helene war eine Natur, die abwarten konnte ...

Der innere Anlaß, daß jetzt endlich doch ein vertrauterer Verkehr zwischen Cäcilie und Helene zustande kam, lag in Cäciliens Zustand, der sich ja bis zu einem gewissen Grade Helenens Wesen angenähert hatte. Der äußere aber hatte sich damit ergeben, daß Helene gut das Französische und Englische beherrschte, und daß Cäcilie deshalb angefangen hatte, regelmäßig mit ihr zu konversieren.

Das merkwürdige Mädchen schien Cäcilie wirklich schon seit langem eine leidenschaftliche Neigung zugewandt zu haben.

Schon als sie das erste »Du« miteinander ausgetauscht, hatte sie unter ihrem wunderlichen trillernden Lachen und, sie die ältere von beiden, mit jener Märchenhaftigkeit, die in einem so sonderbaren Gegensatz zu ihren eigentlichen Eigenschaften stand, Cäcilie umarmt und hatte sie in einer schnellen, wie pickenden oder stechenden Weise geküßt und ausgerufen:

»O Cäcilie, wie sehr, sehr glücklich ich bin! – Immer, immer hab' ich dich geliebt, und ich habe so gelitten, daß ich dir nicht näherkommen durfte! Du hast soviel Herz, soviel Wärme, soviel warmes, starkes, gesundes, ernstes Gemüt! – O doch! Herz hast du! Ich weiß, ich weiß das: Herz! – Ich weiß ganz genau, wie du im Grunde bist. – Sie sagen, ich hätte kein Gemüt oder keinen Sinn für Gemüt; ich habe das sogar schon selber manchmal geglaubt: aber es ist nicht wahr; es ist nicht wahr! Und das habe ich erst durch die Berührung mit dir erfahren. Und darüber freue ich mich ja so unsagbar!«

Cäcilie hatte zu diesem Ausbruch geschwiegen.

Fast war sie durch ihn erschreckt worden.

Helenes helle, schillernd bewegliche Stimme, ihr trillerndes Lachen, das sie niemals recht verstehen konnte, der sonderbar starre, undurchdringliche und zugleich kluge Ausdruck ihrer goldbraunen Augen, der Umstand bei alledem, daß Helene die Ältere und viel Intelligentere, Klügere, Reifere von ihnen beiden war, hatte sie bang gemacht. Sie wußte zwar, daß man in den Kreisen, in die sie durch ihre Ehe eingetreten war, in seinen gegenseitigen Liebenswürdigkeiten in solcher Weise lebhaft und, wie sie es beurteilte, »exaltiert« ist, aber sie fühlte sich doch außerstande, auf diese Weise einzugehen ...

Helene hatte sich übrigens durch die stumme Zurückweisung, die Cäcilie ihren freundschaftlichen Zärtlichkeitsausbrüchen anfangs entgegengebracht, nicht im geringsten verstimmen lassen, sondern sich ihrer ohne weiteres enthalten. Um so mehr, als Cäcilie sonst in ihrem augenblicklichen unruhigen Zustand einen im übrigen rückhaltslosen Verkehr mit ihr pflegte.

So waren sie denn sehr oft beisammen, und Cäcilie empfand schließlich ein direktes Bedürfnis nach diesen Zusammenkünften zu zweien.

Sie hatten sich bestimmte Teestunden eingerichtet, in denen sie zum Tee echt russische Zigaretten von kleinem dicken Format ohne Mundstück rauchten und petits fours knabberten.

Meistens fanden diese Teestunden bei Cäcilie, seltener in der Stadt bei Helene statt.

Am Spätnachmittag eines Apriltages waren sie wieder einmal bei Cäcilie zu solch einer Teestunde zusammen. Cäcilie hatte solch ein Teagown an, in denen sie Robert so besonders gefiel.

Der Tag war sonnig und die Luft mild.

Sie hatten die Fenster offen, und man sah draußen in der Sonne die Frühlingsblumen auf ihren Beeten und Rabatten, und im Hintergrunde schimmerte der Strom, von dem das Schnarren eines Kettendampfers herüberschallte. Am jenseitigen Ufer zog sich die Silhouette der Stadt hin, die schon, abendlich dunkelnd, sich vom mattblauen Himmel abhob.

Sie hatten etwas Englisch miteinander konversiert, über Kunstgegenstände gesprochen – Helene hatte hier einen etwas aparten Geschmack, der Cäcilie nicht recht zugänglich war und sie dennoch beschäftigte – und sich über ein Buch unterhalten, auf das Helene Cäcilie aufmerksam gemacht hatte. Jetzt aber feierten sie, in nachdenklicherer Stimmung, so etwas wie eine Frühlingsabenddunkelstunde.

»Ich habe dich gestern vormittag auf dem Stromanger reiten sehen«, unterbrach Helene das Schweigen. Sie hatte, den Kopf mit seinem kapriziös lockigen Blondhaar zurückgeworfen, ihre sonderbaren Augen liderverhangen, mit einer Art von blasiertem Ernst den Blick gegen das Fenster gerichtet, vor sich hingeträumt. »Cilli, es war herrlich!«

Trotz des Enthusiasmus, mit dem sie diesen Ausbruch hervorbrachte, hatte sie ihren Blick nicht von dem Fenster entfernt.

»Wie du so im Galopp den langen, flachen Anger hinunterfuhrst! – Wie schnell du's gelernt hast!«

»Aber ich hatte ja solche Lust dazu.«

»Ich hätte für den Augenblick sonst was dafür gegeben, mitzuhalten. Zum erstenmal in meinem Leben, daß mir diese Anwandlung kam«, fuhr Helene fort, scheinbar ohne Cäciliens Worte zu beachten.

»Aber weshalb hast du denn noch nicht reiten gelernt?«

Cäcilie hatte das »du« betont.

»Ich ... Warum?« ... antwortete Helene zerstreut. »Ach, ich verstehe mich doch überhaupt nicht auf Sport.«

Sie ließ ihr trillerndes Lachen hören.

Plötzlich aber wandte sie ihren starren, goldbraunen Blick zu Cäcilie hin.

»Da überschätzt du mich, Cilli! Ich bin direkt zu faul dazu. Mit Müh' und Not ein bißchen Tennis oder Krocket. – ›Lust dazu gehabt.‹ ... N.. nein, es ist noch was anderes, was ich meine.«

Sie lachte und fixierte Cäcilie einige Zeit.

Als sie aber wahrnahm, daß Cäcilie durch ihren Blick beunruhigt wurde, wandte sie ihn ab und fuhr in ihrem schillernden, lachenden Plauderton fort:

»Du bist so gesund. Du hast soviel Gemüt. – Nein, Cilli, wie herrlich du zu Pferde aussiehst! Rank und geschmeidig wie eine Gerte! Nie hab' ich so empfunden, daß du glücklich bist! Gerade so muß sich das bei dir äußern!«

»Aber ich habe ja eigentlich halb und halb meiner Gesundheit wegen reiten gelernt«, äußerte Cäcilie zerstreut.

»Halb und halb.« Helene lachte. »Aber denkst du denn wirklich, daß du nervös bist, Cilli? Das ist doch Unsinn. – Sieh', ich glaube überhaupt nicht, daß es Nerven gibt.«

Sie kniff die Lider zusammen und blies mit einem hörbaren Laut den Rauch ihrer Zigarette in einem langen, geraden Streifen vor sich hin, der plötzlich eine Lungenkraft verriet, die man ihrer schmächtigen Schlankheit kaum zugetraut hätte.

»Wie denn: keine Nerven?« fragte Cäcilie naiv.

Helene ließ ihr trillerndes Lachen hören.

»Aber einfach: es ist der Übergang! Du fängst an zu leben! – Hihihi! – Ach nein, bist du närrisch! Nerven! Cilli mit den Nerven! Nächstens wirst du in eine Kaltwasserheilanstalt gehen müssen. Nicht wahr?

Nein, sag' mal: hast du schon mal Whisky getrunken?«

»Whisky?« fragte Cäcilie ungewiß. »Ja, ich glaube in Norderney gelegentlich mal.«

»Na, so ein Nippgläschen! – Aber hast du schon mal einen Whiskyrausch gehabt?«

»Nein.«

Cäcilie lachte. In ihren Augen war ein sonderbares Funkeln.

»Oder hast du schon mal Eau de Cologne getrunken?«

»Aber wie denn? Kann man denn Eau de Cologne – trinken?«

»Wie?! Na warte!«

Helene war aufgesprungen und zur Tür hingeeilt, wo sie den elektrischen Knopf in Bewegung setzte.

Als das Mädchen erschien, forderte sie es auf, der gnädigen Frau aus dem Schlafzimmer die Eau-de-Cologne-Flasche zu bringen.

»Aber natürlich kann man Eau de Cologne trinken, du Mamachen!« lachte Helene, während sie, die Zigarette im Mundwinkel, mit wunderlich gekniffenen Augen zu ihrem Sessel zurückkam. »Ich: wie ein Russe!«

»Aber schadet dir das denn nichts?«

»Aber Mamachen!« – Aus irgendeinem Grunde wiederholte sie diese Benennung. »Was heißt denn schaden? – Nein, was du für Begriffe hast! Schaden! – Hihihi! – Weißt du, ich hab' manchmal so was im Leib, das will dann einfach Whisky oder Eau de Cologne, und dann geb' ich's ihm. Es muß doch am besten wissen, was es braucht?«

Unter diesen Worten erschien das Mädchen und brachte eine Flasche Eau de Cologne von größtem Format, die es auf den Tisch setzte.

Helene ergriff die Flasche, die noch so gut wie voll war, entkorkte sie und schüttete ihre Teetasse, eine flachbreite japanische Teetasse, gut halb voll Eau de Cologne.

»Sieh', so macht man das!« rief sie dann lachend, führte die Tasse an den Mund und trank. »Na, willst du mal probieren?«

»Ja, gib doch!« rief Cäcilie und streckte den Arm lachend und mit funkelnden Augen der Flasche entgegen, die Helene ihr reichte.

Sie goß etwas von der Eau de Cologne in die Untertasse und trank.

»Nun?«

»Oh, es schmeckt ganz gut«, lachte sie

»Nun?« wiederholte Helene in einem kurzen, intelligenten Ton, halb unbewußt diesmal.

»Ja, ja, es – tut gut«, antwortete Cäcilie, die, die Arme unterm Kopf verschränkt, auf der Chaiselongue lag, während sie Helene zusah, die sich noch einmal eingoß und trank.

Es fiel Cäcilie auf, daß Helene jetzt schneller und hinter geschlossenen Augen atmete. Sie saß in ihrem Sessel zurückgelehnt, die Augen geschlossen und strich sich, den Ellbogen seitwärts gespreizt, mit etwas zitternder Hand langsam über das Haar.

Und in dieser Haltung sagte sie plötzlich, wunderlich zwischen zusammengeknirschten Zahnen durch:

»Paß auf! Ich werde dir was vorspielen.«

Einen Moment saß sie noch in dieser wunderlichen Weise da, plötzlich aber fuhr sie mit einem jähen Ruck, die Augen starr geöffnet, auf, stürzte zum Flügel hin, öffnete und ließ sich nieder.

Einen Moment starrte sie, die Lippen fest zusammengekniffen, vor sich hin auf die Klaviatur, mit einem Ausdruck, als nähme sie einen krampfhaft gespannten Anlauf, dann aber setzte sie an und begann die ungarische Rhapsodie von Liszt zu spielen.

Sie spielte das Stück völlig fehlerfrei und mit ungewöhnlich feurigem, intelligentem Temperament von Anfang bis zu Ende herunter.

»Na?« wandte sie sich dann gegen Cäcilie hin, mit einer ein wenig schweren, aber im übrigen ganz präzisen Stimme. »Hast du bemerkt, daß ich einen Rausch habe–? Hast du gemerkt, daß mir schwindlig war?«

»Aber wie konntest du denn das da spielen, wenn dir schwindlig war?« fragte Cäcilie erstaunt. »Es hat mich furchtbar angegriffen. Es ist so furchtbar lebhaft.«

Helene antwortete nur mit ihrem trillernden Lachen, während sie mit völlig sicheren, nur etwas nervös belebten Bewegungen wieder zum Teetisch zurückkam, wo sie sich niederließ und eine frische Zigarette ansteckte.

»Sieh' mal: sogar noch eine Zigarette!« lachte sie. »Warst du neulich in dem Vortrag über Kultur und Nerven?«

Cäcilie bejahte.

»Na ja, aber ...« Helene griff noch einmal nach der Eau-de-Cologne-Flasche und nahm sich noch einen kleinen Schuß.

»Aber Lene!« rief Cäcilie. Doch sie lachte.

»Aber was denn!« Helene trank. »Ja, na: er sprach doch darüber, daß wir im ›Zeitalter der Nervosität‹ lebten, daß Nervosität aber durchaus nicht einseitig Krankheit wäre. sondern daß sich in unserem Zeitalter das Nervensystem veränderte oder sich schon verändert hätte. Wir wären nur noch zu hypochondrisch, weil wir uns damit noch nicht auskennten.–Ich sprach nachher mit Otho darüber. Der weiß ja mit all solchen Sachen Bescheid. Er sagte, es wäre ganz richtig von mir, wenn ich Stimulantien und Narkotika nähme, weil ich einen entschiedenen Instinkt dafür hätte. Er meint, es würde sich dann schon eine Krise einstellen. Er hat mir direkt geraten, alles mögliche durchzuprobieren und meinem Appetit nachzugeben.«

»Ach, das hat er dir gesagt?!« fragte Cäcilie, mit einem unwillkürlich entrüsteten Schreck.

»Ja, ja, tatsächlich! Er meint, daß mein Nervensystem sich schon kulturell angepaßt hätte. Er sprach ja von einem wissenschaftlichen Aufsatze, den er in einer französischen Zeitschrift gelesen hat. Danach bekämen wir direkt Bedürfnis nach einer anderen Ernährung, z. B. durch Spirituosen.«

»Ach nein, ich meine: er hat dir geraten, alles mögliche auszuprobieren?«

»Aber ja!–Tatsächlich!«

Cäcilie ließ ein sonderbares Lachen hören.

Plötzlich aber reckte sie den Arm nach der Eau-de-Cologne-Flasche hin, und mit roten Wangen und blitzenden Augen schenkte sie sich von der Eau de Cologne ein und trank mit einem Zug leer ...

Eines Tages waren sie auf den Einfall gekommen, Pekkotee zu rauchen.

Das war wohl der neueste Damensport der Londoner »obersten Tausend«. Auch Helene hatte ihn ganz vor kurzem erst in Erfahrung gebracht.

Sie rauchten den Pekko, als sie wieder einmal bei Cäcilie zusammen waren, aus zierlichen Shagpfeifchen. Es war ein wunderbar angenehmer Geschmack und zwang den Nerven und dem Gehirn ein gleichmäßig heiteres Wohlgefühl auf, die Stimmung einer paradiesischen Harmonie, und belebte zugleich in ganz besonderer Weise die Geisteskräfte.

Sie betrachteten miteinander Kunstblätter; besonders das Album eines bedeutenden belgischen Malers du Feu, das Helene mitgebracht hatte. Eine außerordentlich sensibel differenzierte Zeichnung und ein unerhört vollkommenes und apartes Farbenraffinement. Meist galante Sachen, Schickdamen usw.

Auch Cäcilie hatte unter der Einwirkung des Pekko zum erstenmal von etwas dergleichen einen sehr beweglich und fein eindringlichen Genuß.

Auch als Helene ihr nachher einige Sachen von Chopin vorspielte.

Unter diesem Musikvortrag ereignete sich nun aber, daß Robert eintrat.

Er war zufällig gerade nach Hause gekommen und hatte draußen das Spiel gehört.

»Das duftet ja hier so köstlich? Was raucht ihr denn da?« erkundigte er sich.

»Pekko!« antwortete Helene unter ihrem trillernden Lachen.

»Ach was?! Pekkotee?!« lachte er.

»Pekkotee, yes! Kennen Sie noch nicht. Das Allerneueste aus London.«

»Ach nein!–Darf ich mir mal ein Pfeifchen anstecken?«

»Bitte.«

Er war an den Teetisch herangetreten und nahm jetzt eins von den Reservepfeifchen, das er sich voll Pekko stopfte. Cäcilie hatte jede seiner Bewegungen aufmerksam beobachtet.

Sie saß in einer Haltung, in der Robert sie noch niemals gesehen, auf der Chaiselongue. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, hatte sie beide Beine, die Füße auf der Chaiselongue, an den Leib gezogen und, die Hände gefaltet, beide Arme um die engzusammengedrückten Knie geschlungen. Dazu hatte sie das Pfeifchen im Munde und rauchte, hin und wieder den Rauch durch die Nasenlöcher stoßend, während ihre Blicke mit einem stumm und starr lachenden Funkeln an Robert hafteten.

Robert hatte eben das Pfeifchen angezündet und zu rauchen angefangen, als sie plötzlich in ein lautes Lachen ausbrach und rief:

»Lene! Lene! Er kostet Pekkotee! Er kostet unsern Pekkotee!«

Robert, von ihrer Munterkeit angenehm berührt, lächelte ihr über das Pfeifchen hin gemütlich zu.

Sie beobachtete dieses gemütlich gutmütige Lächeln eine Zeitlang mit starren Augen: plötzlich aber warf sie sich mit dem Gesicht vornüber lang auf die Chaiselongue hin und brach in ein geradezu tolles Lachen aus; in ein Lachen, das sich fast schon wie ein Lachkrampf ausnahm ...

Aber dieser Verkehr mit Helene bedeutete nur einen verhältnismäßig kurzen Übergang in Cäciliens Zustand.

Mit Schreck erwachte sie eines Tages aus diesen gefährlichen Betäubungen; und jetzt verfiel sie in eine Art von Müdigkeit, in eine dumpfe Versunkenheit, bis diese aus sich selbst als neue Unruhe auffuhr. Doch eine gute Unruhe, die sich als verständiger Tätigkeitstrieb äußerte.

Als sie gelegentlich draußen in der Fabrikvorstadt Mama einen Besuch gemacht hatte, die wieder einmal an ihrem nervösen Kopfschmerz litt, kam sie auf den Gedanken, die Frau Justizrat aufzusuchen und sie zu bitten, sie wieder in Frauenbundangelegenheiten zu beschäftigen.

Von da an leistete sie für den Frauenbund jede Arbeit und selbst die schwierigste und unangenehmste.

In schlichter Kleidung bediente sie in den Volksküchen und Kaffeebuden, gab gelegentlich Unterricht in der Blindenanstalt, widmete sich der Armen- und Krankenpflege und übte sonst allerlei schwieriges Wohltätigkeitswerk.

Robert verwunderte sich über diese plötzliche »Anwandlung« und machte ihr Vorhaltungen, die Cäcilie aber mit stummem Widerstand zurückwies.

Es beunruhigte ihn, daß sie wieder ganz in jenes Wesen hineinzugeraten schien, für das ihm jedes Verständnis abging.

Sie war wieder im Begriff, »langweilig« zu werden.

Sie war still und in sich gekehrt, ernst, und hielt sich außerdem von Robert möglichst fern. Dabei bekümmerte sie sich aber auch jetzt nicht mehr um das Hauswesen, noch auch um den Kleinen ...

Was Robert aber ganz besonders beunruhigte, war der Umstand, daß sie sich im ehelichen Verkehr gänzlich gleichgültig zu zeigen anfing. Es schien sich geradezu eine »Veränderung in ihrem physischen Wesen« vollzogen zu haben.

Dieser neuerliche Zustand zog sich bis in den Herbst hinein weiter.

Doch wechselte er mit nervösen Anfällen. Ganz besonders, bis zu Angstzuständen, hatte sie sich nervös gezeigt während des Sommeraufenthaltes, den sie diesmal in der Schweiz genommen hatten. Sie hatte Augenblicke gehabt, wo ihr die Hochgebirgsluft, die weiten Täler und der Anblick der Berge geradezu unerträglich geworden waren.

Ihr Verkehr mit Helene hatte diesen Zustand noch dadurch verwickelt, daß er ihr die Augen zu öffnen anfing für den Unterschied, in dem ihr ehelicher Verkehr mit Robert während der ersten Monate ihrer Ehe zu dem stand, den sie jetzt mit ihm führte.

Nie zwar hatte sie es über sich gebracht, mit Helene über die vertrauteren Angelegenheiten ihrer Ehe zu sprechen, wohl aber hatten ihr Helenens Ansichten und exzentrische Neigungen, hatte ihr der unüberbrückbare Gegensatz, der zwischen Helenens und ihrem Wesen bestand, einen Maßstab gegeben, an welchem sie Roberts Verhalten erst zu verstehen und zu beurteilen lernte.

Und nun überkam sie zum erstenmal so etwas wie eine Angst vor ihrer Lage und der Zukunft.

Die Welt, in der sie lebte, Robert, seine Mutter, selbst ihr Schwiegervater waren ihrem Empfinden mit einem Male so seltsam entglitten, gleichsam – genau so fühlte sie es – zu Helene und ihrer Art, das Leben zu nehmen und zu leben, hin entglitten.

Sie fühlte sich plötzlich in einer völligen Einsamkeit, ohne jeden wärmeren Zusammenhang mit ihren Angehörigen mehr ...

In dieser wichtigen Wende ihres inneren Zustandes geschah es aber, daß sie an einem Spätherbstnachmittag einen Ritt den Stromanger hinab unternahm.

Das Wetter war trüb, trocken und windig.

Aber gerade so hatte ihr es für diesen Ritt zugesagt. Den ganzen Tag über hatte sie sich mit ihren Gedanken herumgequält.

Ihre Liebe zu Robert war endgültig erstorben.

Es bedeutete ihr noch einen Trost, daß auch er angefangen hatte, sie in Ruhe zu lassen.

Aber was sollte daraus werden?

Niemals würde er ihr wieder werden können, was er ihr damals gewesen. Das war gänzlich unmöglich.

Wie aber war eine solche Zukunft zu ertragen? Was sollte aus ihr selbst dabei werden?

Hier erstarrten ihre Gedanken in ein undurchdringliches Dunkel hinein ...

Die Entschädigungen, die ihr etwa ihre Stellung einer Millionärsgattin bieten würden?

Sie dachte kaum an sie. Sie wußte nur, daß sie ihr nur etwas gewesen waren, solange sie Robert liebte oder wenigstens noch eine Spur von Liebe und Neigung zu ihm gefühlt hatte; im übrigen aber waren sie ihr nicht im entferntesten das geworden, was ihre früheren Mädchenträume von dergleichen erhofft und geschwärmt hatten.

Wenn sie hätte werden können, wie Helene Vorberg war!

Aber in diesem Gedanken war für sie nachgerade schon ein wahres Grauen. Das würde eine Betäubung sein, von der ihr sicherster Instinkt fühlte, daß sie nur zu ihrem Untergang führen konnte. Für Helene mochte ja das Leben, das sie führte, keine Betäubung sein; sie war eben ein solcher Charakter, daß so ein Leben ihr Element war ...

Seltsamerweise wollte ihr aber auch der Gedanke an ihr Kind keinen Trost gewähren.

Sie hatte sich so lange nicht mehr um den Kleinen bekümmert, hatte ihn nur immer fremder Aufwartung überlassen.

Aber das Ausschlaggebende war, daß das Kind, das prächtig gedieh, der gehätschelte Liebling der Familie geworden war. Und so war ihr der Kleine mit dieser Familie entglitten. Für ihr Empfinden gehörte er zu ihnen, hatte mit ihr nichts mehr zu tun ...

Mit einem förmlichen Angst-, so etwas wie einem Fluchtgefühl hatte sie das Pferd satteln lassen und war ausgeritten.

In einer wunderlichen, wie von allen ihren bisherigen Lebensverhältnissen – denn was sollte Mama von ihr denken, daß die Dinge eine solche Wendung genommen hatten? Es war ausgeschlossen, daß sie bei Mama jemals ein Verständnis für ihre Lage finden konnte – abgebundenen, ausgeschiedenen Empfindung von Heimatlosigkeit und wilder Freiheit – in ein dunkles Ungefähr hinein gab sie dem Pferd die Sporen und sprengte in wilder Flucht den endlosen Reitweg hinab in der der Villenvorstadt entgegengesetzten Richtung, wo sie der Ritt später über einen Park hinaus noch über lange Stromwiesenweiten hinführen sollte.

Die große Einsamkeit, die hier draußen herrschte, empfing sie mit ihrem Schauer.

Auf dem weiten Anger, der der Garnison als Exerzierplatz diente, war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Auch nicht auf der Promenade, die neben dem Reitweg her am Strom hin zum Park hinausführte, der ein beliebter Ausflugsort für die Stadtbewohner war.

Kein Laut, als das Sausen des Windes in den Eschen und deutschen Pappeln, die streckenweise den Reitweg flankierten, das Rascheln der gelben Schwärme des welken Laubes, die der Wind von den Bäumen herab auf die graugrüne, von den schweren Wolken verdüsterte Angerfläche hinauswirbelte, und das Schnauben ihrer Fuchsstute.

In die trüb gelbgraue Masse des Stromes sprangen aus dem Weidendickicht hervor, das die Böschung des Dammes überwucherte, still, starr und beinfahl die Steinmolen hinein.

Man hat Augenblicke vollständiger innerer Ratlosigkeit, die einen auf die äußerste Probe seiner selbst stellen, einen aber gerade damit den sichersten Aufschluß über seine Zukunft geben oder sogar darüber, ob man noch eine Zukunft haben kann.

Es kann in solchen Augenblicken einer äußersten seelischen Krise unter Umständen aber wohl geschehen – und es gibt Naturen, denen gerade dieses seltsame Erlebnis zu begegnen pflegt –, daß auch von außen her das Geschick, das einen erharrte, uns entgegentritt und in unser Leben eingreift: als hätten zwei Mächte, hätte man und hätte das Geschick von zwei Seiten her einander mit unausweichlicher Notwendigkeit entgegenstrebt, um in der Krisis dieses äußersten Augenblickes sich zu begegnen ...

Genau das war es, was Cäcilie während dieses Nachmittagsrittes erleben sollte ...

Sie hatte das Ende des Angers erreicht, den ein hoher Eisenbahndamm abschloß.

Sie ritt jetzt im Paßschritt unter den Bogen einer großen eisernen Brücke hindurch, die über den Strom hinüberführte und hier in den Damm überging.

Dann gelangte sie an einem umbuschten Teich vorbei, der bis an die Sohle des Dammes heranreichte, in den ihr gut bekannten schönen alten Park, der sich weit am Strom hinzog, um dann in das Wiesengelände überzugehen, auf dem im Sommer Pferderennen veranstaltet zu werden pflegten.

Der Reitweg, der in einiger Entfernung einen scharfen Bogen machte, führte zunächst ziemlich lange durch einen Birkenhain hin.

Cäcilie ließ ihre Stute langsam gehen.

Der Hain tat ihr unwillkürlich wohl und heiterte sie auf.

Inmitten all der grauen Trübnis des stürmischen Nachmittags machte er mit seinen schlanken, geraden, hohen Stämmen einen Eindruck von Stille.

Dazu schufen den Nerven die weiße Farbe der Stämme und das lichtbernsteingelbe Laub der Kronen so etwas wie eine Empfindung von Sonnenschein. Und es hatte etwas Liebliches und Lachendes, wie die vielen Stämme in den Hintergründen ineinandergingen, einen Waldboden zwischen sich, dessen von dem gelben Laub wie mit sonnigen Lichtflecken gesprenkelter, ziemlich hoher Graswuchs etwas Reines und wie besonders Gepflegtes zeigte.

Hin und wieder rauschten die Hufe der Stute durch die dicht zusammengewehten Laubhaufen, zwischen denen das herzhaft tiefe Braun des Reitweges hervorsah und seinen Erdgeruch emporhauchte.

Als sie sich aber so ziemlich der Stelle genähert hatte, wo der Reitweg die Biegung machte, fuhr sie mit einem kleinen Schreck zusammen.

Um die Biegung herum tauchte mit einem Male, gleichfalls langsam reitend, ein Reiter auf, dessen Eindruck sie auf der Stelle traf.

Es war ein Offizier.

Was Cäcilie auf der Stelle verwunderte: ein Husarenoffizier. Ein blauer Husar.

In der Garnison lagen aber keine Husaren. Nur Infanterie, Artillerie und Train.

Eine schlanke, aristokratische Gestalt, von so vollkommener Haltung, wie sie sie bisher noch kaum an einem Offizier der Garnison kennengelernt hatte.

Er mochte über die Mitte der Zwanziger hinaus sein.

Vor allem war es aber der Ausdruck seines Gesichtes, von dem sie sich sogleich in ganz eigener Weise berührt fühlte.

Ein wettergebräuntes Gesicht mit einer Adlernase, einem schwarzen Schnurrbärtchen und einer hohen Stirn. In diesem Gesicht zwei lichtblaue Augen, die sie mit einem sehr wohltuenden Ausdruck wie von stumm fragender Bescheidenheit auf sich gerichtet fühlte.

Es war nicht sowohl die Überraschung über die so plötzliche, so ganz unvermutete Begegnung, wie vor allem dieser Blick, der Cäcilie in ihrem augenblicklichen Zustand sofort bis ins Innerste berührte, ihr das Blut in die Wangen trieb und ein Herzpochen verursachte.

Der Offizier legte im Vorbei zu höflichem Gruß die Hand an die Mütze.

Im Begriff nun aber, um die Biegung herumzureiten, wandte sie sich unwillkürlich noch einmal. Und im selben Augenblick wandte auch er noch einmal das Gesicht nach ihr zurück. Beide kehrten, wie ertappt, sofort den Blick wieder ab.

Um die Biegung herumzukommen, setzte Cäcilie die Stute in scharfen Trab.

Ein sonderbarer, herzpochender Schreck war es, vor dem sie gleichsam zu fliehen suchte. Ein plötzlicher Zustand, der wie ein staunendes inneres Auflauschen war.

Zwei Augen, ein Mensch, ein Charakter, ein Mann hatten sie angerufen, hatten sich ihr tief und unverwischbar in die Seele gesenkt. – – –

Als sie am Abend mit Robert beim Abendessen zusammen war, fragte sie ihn:

»Kennst du vielleicht den Husarenoffizier, dem ich heute bei meinem Nachmittagsritt draußen im Park begegnet bin?«

»Ein Husarenoffizier? – Ach so! Ja, ein blauer Husar, nicht wahr? Oberleutnant Freiherr von Löhr. Er ist zum Stab des Oberkommandierenden kommandiert. Er ist kaum acht Tage hier. Otho Vorberg hat mir übrigens zufällig erst heut vormittag von ihm gesprochen, sonst könnt' ich dir nicht mal Auskunft geben.«

»Ach, heut – vormittag?«

»Ja. – Hat er dir gefallen?« lachte Robert. »Ich denke, schon in den nächsten vier Wochen kannst du gut und gern das Vergnügen haben, dich von ihm zu Tisch führen zu lassen ...«

*

Auch auf Helmut von Löhr hatte der Gedanke einen tieferen Eindruck gemacht, daß diese so ungewöhnlich schöne junge Dame, der er da begegnet, eine Dame der Gesellschaft war, mit der er schon in allernächster Zeit irgendwo zusammentreffen konnte ...

Doch war in diesem Gedanken nichts weniger als die Anwandlung eines Lebemannes gewesen.

Er galt unter den Kameraden, wenn auch für keinen Spielverderber, so doch eher für etwas zu solide, was mit seinem starken militärischen Ehrgeiz in Zusammenhang gebracht wurde.

Es galt für ausgemacht, daß er eine bedeutende Laufbahn vor sich hatte.

Doch befand man sich nicht im Recht, wenn man ihm, im Zusammenhang mit seinem ausgeprägten Ehrgeiz eine allzu strenge Starrheit seines Charakters nachsagte.

Es lag seinem allerdings sehr bestimmt und sicher geprägten Wesen eine starke Romantik zugrunde, mit der Helmut von Löhr nicht nur den Begriff des Krieges verklärte – er war ein ausgesprochener Verherrlicher des Krieges –, sondern die ihm auch eine sehr hohe und reine Vorstellung von Weib und Weibeswert gab.

Diese Charakteranlage war wohl der Grund, daß er dem Weib gegenüber noch unberührt war.

Als ein solcher war er jetzt zum Stab des Oberkommandierenden beordert, der als ein hervorragender Stratege galt, und gerade zu diesem Zeitpunkt, der eine wichtige Wende seiner militärischen Laufbahn bedeutete, hatte er mit Cäcilie zusammentreffen und von ihr einen so tiefen Eindruck erfahren sollen ...

Bald nach diesem ersten Zusammentreffen hatte er sie auf einer Abendgesellschaft bei Kommerzienrat Waentigs gesehen.

In ihrem lichten Gesellschaftskleid, ihre weizenblonde, veilchenäugige Schönheit verklärt von dem Schmuck ihrer Brillanten, war sie ihm als die schönste und liebreizendste Dame der städtischen Gesellschaft erschienen, als die sie galt, und hatte ihn in eine tiefere Unruhe versetzt.

Nicht verliebt, bedenklicher: als ein Liebender war er von jener Abendgesellschaft nach Hause zurückgekehrt.

Und noch dazu mit der nagenden Unruhe eines Liebenden, der sich keine Hoffnung machen darf.

Er fühlte, daß er Cäcilie niemals wiedersehen durfte, doch wie war das zu vermeiden? ...

Und trotz allen Widerstandes seines gediegenen, ernst gerichteten Wesens wurde er außerdem der Sehnsucht nicht Herr, wieder mit ihr zusammenzutreffen.

Um so weniger, als zum erstenmal in seinem Leben alle Macht seines unschuldigen Trieblebens auf ihn einstürmte.

Doch auch mit Cäcilie hatte sich eine tiefe, plötzliche Veränderung vollzogen.

Sie fühlte sich nicht mehr allein.

Die Angst vor ihrem jetzt so tief vereinsamten Zustand, der sich in letzter Zeit zuweilen bis zu einem jähen Entsetzen gesteigert hatte, war einer warm aufpulsenden Erregung gewichen, die keine Unruhe mehr bedeutete, sondern einen tief in sich gesammelten Lebenstrieb.

Da sie niemand besaß, dem sie sich hätte mitteilen können, wandte sie sich jetzt wieder ihrem Kinde zu.

Mit einer Rührung, die ihr eine stille Träne in die Augen trieb, nahm sie wahr, wie der kleine, dicke, kräftige Kerl mit seinen munteren Augen und seinen trotzigen Pausbäckchen, der nun schon zu sprechen anfing und seine ersten, selbständigeren Entdeckungsreisen unternahm, sich inzwischen auf eigene Faust in die Welt seiner Kinderstube eingelebt hatte.

»Als hätte er seine schlimme Mutter wirklich auch gar nicht nötig in der Welt«, dachte sie.

Aber doch war es nicht mehr ihr anfängliches Verhältnis zu dem Kleinen. Und doch befreite sich in der Fürsorge, die sie ihm wieder zu widmen angefangen hatte, eine Liebe und ein Glück, das sich seines eigentlichen Gegenstandes nur noch nicht ganz bewußt war ...

Schon hatte sich der Mann, der ihre Seele so tief zu beschäftigen angefangen, in diese Stunden hineingedrängt, die sie neuerdings wieder hier in der Kinderstube zubrachte, und sie ersehnte ein weiteres Zusammentreffen mit ihm, das übrigens ein um so unvermeidlicheres geworden war, als inzwischen Helmut von Löhr nächstens der Gast ihrer Schwiegereltern sein sollte.

Sie bekam ihn diesmal sogar zum Tischherrn.

Der alte Herr selbst war es gewesen, der diese Wahl vorgeschlagen hatte.

»Wir haben dann das schönste Paar des Abends beieinander«, hatte er in seiner humorvollen Weise gesagt.

Helmut von Löhr hatte an diesem Abend mit der Empfindung nach Hause zurückkehren dürfen, daß er auf Cäcilie Eindruck gemacht. Außerdem hatte das junge Ehepaar Voges die Hoffnung ausgesprochen, ihn bei sich zu sehen ...

Aus dieser Einladung wurde dann aber besonders deshalb ein näherer und schließlich vertrauterer Verkehr, als Robert ohnehin Anschluß an die Offizierskreise der Garnison pflegte.

In dieser Zeit geschah es eines Tages, daß Robert Cäcilie fragte:

»Sag' mal, Cecil: hast du dich eigentlich mit Lene verfeindet?«

»Nein. Warum?« fragte sie gleichgültig.

»Ach, ich meine nur. – Sie selber hat sich mir gegenüber ja durchaus nicht etwa in diesem Sinne geäußert. Ich glaube übrigens freilich, das würde sie sogar dann nicht tun, wenn es der Fall wäre. Sie ist in so etwas so sonderbar. Ich meine nur: weil ihr doch so ganz und gar nicht mehr zusammenkommt.«

Sie fühlte sofort heraus, daß er mit einer bestimmten Absicht fragte; daß Helene nur ein Vorwand für ihn war. Aber sie wurde von dieser Absicht schon gar nicht mehr berührt.

Noch vor zwei Monaten hätte er sie damit innerlich unglücklich machen oder reizen können. Jetzt begnügte sie sich zu sagen:

»Aber wir verkehren ja doch miteinander.«

»Ja, aber es tut mir, offen gestanden, leid, daß es so selten geschieht. Immerhin ist es möglich, daß sie dir das im stillen übelnimmt. Sie ist ja ein so sonderbarer Charakter.«

»Aber was sollte sie denn für Ursache haben, mir das übelzunehmen. Sie weiß ja doch, daß ich ihre Extravaganzen auf die Dauer nicht mitmachen kann, daß mir das nicht bekommt. Wenn sie's aber wirklich übelnähme, so wüßt' ich ja nicht, wie ich noch Verkehr mit ihr halten könnte. Ich wär' das nicht imstande. – Übrigens habe ich von ihr selbst aus, mit ihren eigenen Worten, die Gewißheit, daß sie mich verstanden hat. Wir verkehren jetzt zwar seltener miteinander, aber doch in aller Freundschaft. Ich kann doch kaum annehmen, daß sie heuchelt.«

»Heuchelt ... Nein, nein, aber natürlich nicht«, brach er etwas unsicher und zerstreut ab. »Aber entbehrst du sie eigentlich nicht in mancher Hinsicht? Ihr könntet ja trotzdem oft wie früher zusammenkommen, ohne daß du ihre Touren mitmachst. Du hast von ihr doch so viel Gutes und Anregendes gehabt. Sie hat dich übrigens wirklich so gern, wie sie, glaub' ich, noch niemals jemand gern gehabt hat. Du kannst mir das glauben. Ich kenne sie genau. – Es ist doch schade.

Verzeih', ich denke manchmal, du fühlst dich nicht recht wohl, wenn du dich so sehr für dich allein hältst: du willst mir etwas verbergen. Ich mache mir wirklich manchmal Sorge, du lebst zu abgeschlossen.«

»Ach, mir ist ja ganz gut und wohl; so gut, wie mir lange nicht mehr gewesen ist«, wich sie fast ungeduldig aus. »Ich muß mich doch schließlich um das Kind kümmern.« Und mit einer wunderlichen, wie abwesenden Bitterkeit setzte sie hinzu: »Ich bin nur zu sehr bloß Dame gewesen, die ganze Zeit her. Ich glaube, daß dir das viel zu sehr gefällt. – Oh, wer weiß: vielleicht sogar – um der anderen, um der Leute willen.«

Es blieb ein Schweigen. Robert ging nicht auf diesen letzten Vorwurf ein. Obgleich in diesem Augenblick eine letzte, fernste Spur ihrer einstmaligen Neigung zu ihm darauf gewartet hätte ...

»Na ja«, sagte er endlich. »Die Hauptsache ist ja, daß du dich wohlfühlst.«

Er erhob sich, um sich, wie er sagte, zur Stadt zu einem abendlichen Zusammensein mit Freunden zu begeben.

Sie schwieg.

Er drückte ihr zum Abschied einen leichten Kuß auf die Stirn und ging.

*


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