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Mieze fuhr mit der Elektrischen, bei der sie abonniert war, in die Stadt zu ihrem Kontor. Es befand sich auf dem Hof eines neuen großen vierstöckigen Gebäudes, das an der Grenze zwischen der Altstadt und dem neuen Stadtteil lag.

Sie war bei einem Produkten-Engroshändler Eberhard Prönnecke beschäftigt. Der Chef war ein grobschlächtiger, knurriger Fünfziger, dem Mieze in seiner Weise sympathisch war. Er nutzte sie indessen gehörig aus. Zwar arbeitete er selber tüchtig mit auf dem Kontor, hatte aber außer Mieze, die die Bücher führen und auch noch den größeren Teil der Korrespondenz erledigen mußte, nur noch zwei Lehrlinge.

Miezes Alltag auf dem Kontor hatte etwa vierzehn Tage seinen gewohnten Verlauf genommen, als der Chef ihr eines Mittags ein großes Kuvert überreichte mit der Aufforderung, es gleich persönlich an seine Adresse zu befördern und auf Quittung zu warten.

Es handelte sich, wie er ihr in seiner knurrigen Art von Vertraulichkeit über seinen Kneifer hinweg mitteilte, um einen gewissen Geldbetrag, den seine Frau dem Vorstand des städtischen Frauenbundes für soziale Hilfsarbeit zu entrichten hatte, dessen Mitglied sie war.

Mieze setzte ihren Hut auf, zog ihren Mantel an und machte sich auf den Weg, nachdem sie auch gleich Urlaub für ihre Mittagspause bekommen hatte.

Auf dem Umschlag las sie: »Ihrer Hochwohlgeboren verwitweten Frau Justizrat Editha Frenzel, Jakobistr. 25 II.«

Es handelte sich um einen Weg von nicht ganz zehn Minuten, aber durch die belebteste, geschäftsreichste Mitte der Stadt.

Nach Ablauf dieser Zeit befand sich Mieze vor einem großen, altertümlichen, mehr als vierstöckigen Hause, dessen obere Fassade indessen in einen machtvollen Rokokogiebel überging. Das ganze Erdgeschoß war von großen glänzenden Schauläden eingenommen. Die Fassade darüber aber wimmelte bis über das zweite Stockwerk hinauf von goldenen, schwarzen und bunten großen Firmenbuchstaben und Reklamebildern.

Der Eingang war ein Portal mit einer Art von Passage davor, die mit Waren- und Photographiekästen ausgefüllt war.

Sie trat in einen breiten, kühlen, dämmerigen Hausflur ein, dessen Fußboden mit Steinplatten ausgelegt war. Eine geräumige, dunkelbraune Wendeltreppe mit kunstvoll geschnitztem Geländer und Stufen, die mit braunroten Tuchläufern belegt waren, führte sie zu dem zweiten Treppenflur hinauf, wo sie an einer breiten, altertümlich kunstvollen Entreetür auf einem Messingschild den Namen »Editha Frenzel« las.

Sie drückte auf den elektrischen Knopf, und ein paar Minuten später wurde sie von einem sauberen Hausmädchen, das ein gekräuseltes, schmales Häubchen wie eine zierliche weiße Raupe auf ihrem kastanienbraunen Haar trug, über Tuchläufer durch einen dämmerigen Korridor zu einer hohen Tür hingeführt, die das Mädchen öffnete, wobei sie Mieze einlud, näher zu treten.

Sie trat in ein großes, helles und außerdem noch licht tapeziertes Zimmer ein, das eine sehr reine, frische Luft erfüllte von einem der beiden großen Fenster her, das weit offen stand. Auch fielen ihr auf den breiten Fensterborden zwei Reihen von Hyazinthen, Tazetten und Krokus mit ihren lichten, sonnigen Farben sofort freundlich ins Auge.

Dicht bei dem einen Fenster, gegen die helle Lichtflut, die hereindrang, an einem geräumigen, mit Büchern, Papieren. Bildern und Statuetten bedeckten Diplomatenschreibtisch befand sich eine Dame mit einem großen, adlernasigen, von einem starken, hellblonden Haarwuchs förmlich umflammten Kopf, der auf einem kräftigen, sehnigen, gebräunten und ganz freien Halse saß.

Die Dame hatte zuerst in ihrem großen Lehnstuhl das Gesicht zu Mieze hingewandt, war dann aber mit irgendeinem Ausruf in die Höhe gefahren und auf dem schönen Teppich, der fast den ganzen Fußboden bedeckte, mit einer elastisch energischen Gangart zu ihr hergekommen. Dann war sie stehengeblieben und blickte nun aus ein Paar großen, runden, blitzenden, lichtgrauen Adleraugen, die von kräftigen, schön gezeichneten Brauen überzogen waren, aus einem gebräunten Gesicht, das ein scharf vorspringendes Kinn hatte, Mieze an.

Sie war mittelgroß, hatte eine angenehme, muskulös sehnige Gestalt und trug ein hellfarbiges Reformkleid aus einem leichten Stoff. Unten war es fußfrei, und Mieze nahm wahr, daß ihre Füße nackt waren, und daß sie Sandalen trug.

Sie hatte kein Korsett, und ihr mächtiger Busen wurde von einem gefalteten Stoffgürtel gehalten. Am Hals war das Kleid ausgeschnitten, so daß außer dem nackten Halse auch noch ein Teil der gebräunten Brust zu sehen war. Das Kleid hatte Halbärmel, aus denen die Unterarme nackt, braun und muskulös hervorsahen.

Mieze hatte eben, von dem seltsamen Aussehen der Frau Justizrat verwirrt, schüchtern einen »Guten Tag« geboten, als auch schon eine kräftige, fast männliche Stimme mit einem Ausdruck lebhafter Überraschung laut und frei die Stille unterbrach:

»Ho! Ah, sieh mal!« Die Dame ließ ein lautes, wohltönendes Lachen hören. »Was tritt denn da mit einemmal für eine seltene weibliche Schönheit in mein Studio ein?! Kommen Sie doch mal näher, kleines Fräulein! Setzen Sie sich doch mal hier gegen mich her in Bewegung? Lassen Sie mich doch mal sehen!«

Einen Augenblick zögerte Mieze, die über und über rot geworden war, dann aber trat sie schüchtern, doch um so anmutiger, ihr den Brief des Chefs darbietend, auf die Frau Justizrat zu.

»Ah?! A la bonne heure?! Das ist ein Gang, der sich sehen lassen kann!«

Und mit grauen Adleraugen blitzte sie Mieze an.

»Ich komme von Eberhard Prönnecke und soll diesen Brief überreichen«, stammelte Mieze verwirrt.

»Den Brief da sollen Sie überreichen? Einen Brief! Schön, schön!«

Sie nahm ihr den Brief ab, blieb aber noch vor ihr stehen.

»Sie sind Kontoristin bei Eberhard Prönnecke?«

»Ja. Buchhalterin.«

»Aha! Wohl! Ist ein Unterschied. Buchhalterin. Nicht wahr? Wie alt sind Sie, kleines Fräulein?«

»Achtzehn Jahr«, antwortete Mieze.

»Was für herrliche Zähne! – Hm, hm, hm –«

Die Frau Justizrat schüttelte in einer sonderbaren Weise den Kopf, und in ihren Worten hatte fast eine Strenge gelegen, so daß Mieze unwillkürlich erschrak, als sie jetzt fortfuhr:

»Und wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Mieze«, gab Mieze Bescheid, in ihrer Verwirrung jetzt beinahe bang.

»Mieze?! Mieze?! Aber gräßlich! Wer hat Ihnen denn den Namen angehängt? Sie sind doch keine Katze?«

»Vater hat mich immer so genannt, als ich noch klein war. Und nachher haben Sie mich zu Hause immer so genannt.«

»Sososo. – Was haben Sie sonst noch für Namen?«

»Frieda.«

Die Frau Justizrat schüttelte protestierend den Kopf.

»Is es nich'. – Wie noch?«

»Luise.«

»Is auch nix! – Noch einen?«

»Cäcilie.«

»Ah, sehen Sie! Nu also! – Also, Sie heißen von jetzt ab Cäcilie. Verstanden?«

Mieze lächelte.

»Also Cäcilie! Cäcilie! – Aber vorderhand! Wollen erst mal sehen, was Mister Eberhard Prönnecke, Esquire, schreibt.«

Sie begab sich zu dem offenstehenden Fenster hin, wo sie dem Umschlag das eingeschlossene Geld entnahm und den Brief las; dann begab sie sich zum Schreibtisch hin, auf dem sie Geld und Brief niederlegte.

»Na, das hat nicht solche Eile«, sagte sie. »Kommen Sie doch mal hierher; setzen Sie sich hier auf den Stuhl, Cäcilie. Ich möchte einen kleinen Speech mit Ihnen halten.«

Sie hatte sich in den Schreibtischsessel niedergelassen, das eine Bein über das andere geschlagen, und auf einen anderen Sessel gedeutet, der neben dem Schreibtisch stand.

Mieze näherte sich langsam und ließ sich zögernd in den ihr angewiesenen Sessel nieder.

»Sagen Sie doch, liebes Kind, wie ist Ihr Familienname?« erkundigte sich die Frau Justizrat, die Arme unter dem mächtigen Busen verschränkt und Mieze mit ihren grauen Adleraugen anblickend.

»Dühring.«

»Sie haben Ihre Eltern noch? Aber – Sie tragen ja Trauer.«

»Vor Zwei Wochen haben wir Vater begraben.«

»Was war Ihr Vater? In welchen Verhältnissen leben Sie?«

Mieze zögerte zu antworten.

»Buchhalter«, gab sie endlich Bescheid und nannte die Firma, bei der ihr Vater beschäftigt gewesen war.

»Nun, nun, haben Sie nur keine Angst vor mir, Cäcilie!« lachte die Frau Justizrat. »Ich bin geradezu und hab' ein grobes Maul. Aber man muß mich verbrauchen, wie ich nun schon mal bin; und ich bin nicht so schlimm, wie's aussieht. – Wie alt ist Ihr Vater geworden?«

»Achtundvierzig.«

»Oh, noch so jung! – Plötzliche Krankheit? Sonst gesund gewesen?«

»Influenza.«

»Ihre Mama lebt aber noch?«

»Ja.«

»Und Sie haben Geschwister?«

Mieze gab Bescheid.

»In was für Vermögensverhältnissen leben Sie?«

Mieze zögerte zu antworten. Hier hatte sie ihre kleine Eitelkeit. Auch regte sich nachgerade ihr Selbstgefühl. Diese Ausfragerei fing an, sie ungeduldig zu machen.

»Wir sind jetzt nur auf das angewiesen, was ich verdiene«, sagte sie endlich kurz, über dem gesenkten Blick ein Fältchen in der Stirn.

»Sie werden bei Eberhard Prönnecke nicht eben gerade ein so besonders großes Salär bekommen«, fuhr die Frau Justizrat fort, ohne sich weiter um Miezes Ungeduld zu kümmern.

»Nein«, antwortete Mieze. »Aber ich will sehen, daß ich eine bessere Stelle bekomme.«

»So! Na genug, genug! Ich will Sie hier nicht in Grund und Boden inquirieren!«

Sie blickte Mieze noch eine Zeitlang an, wobei sie mit ihrem großen flammenhaarigen Haupte kleine Bewegungen machte und unverständliche Worte vor sich hinmurmelte.

Plötzlich aber erhob sie sich mit einem rüstigen Schwung, wandte sich von Mieze fort, trat wieder an das offenstehende Fenster und verlor sich, als ob sie Miezes Anwesenheit ganz vergessen hätte, in den Anblick der Straße, deren Verkehrsgetriebe sein eintönig rollendes Rauschen heraufschickte.

Auch Mieze hatte sich erhoben in der Meinung, daß sie nun entlassen werden sollte. Und da sie nachgerade sich sehnte, fortzukommen und nach all den neuen Eindrücken, die sie hier empfangen, mit sich allein zu sein, so räusperte sie sich ein paarmal, um die Frau Justizrat an die Quittung zu erinnern.

Diese wandte sich auf dies Räuspern hin endlich zu ihr herum.

»Ah, Sie sind ja aufgestanden! Nein, warten Sie doch! Sie sollen noch nicht gehen. Sie müssen ja auch noch die Quittung haben. Sie haben doch keine besondere Eile? Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Oder mögen Sie nicht mehr bleiben?«

Mieze, die nicht lügen wollte, antwortete nur mit einem unbestimmten Lächeln. Es fiel ihr im übrigen aber plötzlich ein, daß es in ihrer jetzigen Lage vielleicht einen praktischen Wert für sie haben könnte, wenn die Frau Justizrat Anteil an ihr nähme und sie mit ihr in einen näheren Verkehr käme.

Die Frau Justizrat aber breitete jetzt ekstatisch die Arme aus, daß ihr die Halbärmel ihres Reformkleides bis über die prallen, mächtigen Oberarme zurückfielen, und rief:

»Ha, ist das nicht herrlich da unten?! Die große brausende Straße mit ihrem Verkehr?! Das nenn' ich Leben, Leben! – Warum ich, als Freiluftmensch, hier in dem alten, zweihundertjährigen Hause wohne? Erstens weil es mir gehört, von meinem seligen Mann, dem Justizrat, und seiner Familie, einer alten, angesehenen Patrizierfamilie her; vor allem aber wegen dieses herrlichen Verkehrs, der mir da vor den Fenstern vorbeibraust. – Das ist der Strom des lebendigen, modernen Lebens. Und immer lebendiger und moderner ist er geworden in den letzten zwanzig Jahren. Erst war's bloß die Pferdebahn, dann wurde es die Elektrische. Erst war es nur ein Gleis, jetzt fahren sie zu sechsen hin und her. Und neuerdings sind auch noch die Automobile und Motordroschken hinzugekommen. Das ist ein Gekribbel und Durcheinander! Lebensgefährlich! Wie?!«

Sie lachte ein fröhliches, robustes Lachen, ein Lachen voll Humor, Begeisterung und Härte Zugleich, und ihre Adleraugen flammten.

»Ha, was?! Aber das Leben ist ein Kampf! Es will nicht, daß wir Dösbartel sind! Seh' jeder zu, wie er sich behauptet und wie weit er's bringen kann! – Aber die ›beängstigend zunehmende moderne Nervosität‹? Pah, was heißt ›Nervosität‹! Begreift doch, wie ihr euch mit ihr einzurichten habt!

Haha! Ich sehe wohl wunderlich aus mit meinem freien Hals, meiner freien Kehle, meinen bloßen Armen, nackten Füßen und Sandalen! Aber was scheren mich Vorurteile, wenn die liebe Luft und das liebe Licht so recht von allen Seiten mir an die Haut kann und mich gesund hält?! Nun, kleine Schönheit?! Hahaha! – Wie eine kleine Dame, ganz wie eine unbewußte kleine Dame sieht sie aus! Eine Baronesse, Komtesse geradezu! Ein schönes Rokokoprinzeßchen. – Hm. hm! Nun, nun! – Nein, ich nehme Anteil an Ihnen! Ich muß mit Ihnen sprechen!«

»Es hat ja seine Schattenseiten!« Sie wurde ernster und fing an, die Hände auf dem Rücken, hin und her zu schreiten. »Seine sehr bedenklichen! Kein Weib – ich betone Weib! – hat vom Schicksal ungestraft die Gabe der Schönheit empfangen. Es ist kein gutes Schicksal, nein, kein gutes Schicksal. Vielleicht das eigentlichste Kapitel und das gefährliche von der Tragik des Weibes!«

Ihre Schritte waren zornig geworden, und in ihrer Stimme war ein verbissenes, unerbittlich entschlossenes Grollen.

»Hm! Sagen Sie mal, haben Sie schon mal was von der Frauenfrage gehört, Cäcilie? Aber setzen Sie sich doch wieder, liebes Kind! Setzen Sie sich!«

Mieze nahm wieder Platz, während die Frau Justizrat wieder mit diesen großen, weit ausgreifenden Schritten hin und her zu gehen begann.

»Ich werde hier in der Stadt für ein Original gehalten«, lachte sie herzhaft auf, ohne Miezes Antwort abzuwarten. »Nun, wenn schon! Daran muß man sich nicht kehren. Ich bin ein Original, weil ich vorgeschritten bin, weil meine Seele frei und couragiert genug ist, schon jetzt in einer Zukunft zu leben, die unfehlbar eines Tages gekommen sein wird.

Ich bin eine Kämpferin: das ist die Hauptsache!

Nun, ich gehe meinetwegen, so wie ich hier bin, nur bei mir Zu Hause umher. Aber ich kleide mich auch außer Hause möglichst naturgemäß. Und ich lebe so gut wie vegetarisch. Hören Sie nur recht schön zu und merken Sie sich das alles, Cäcilie!

Ja, richtig: nicht wahr? Wie gräßlich, daß Sie junges Ding so den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend in dem dumpfen Kontor und seiner muffigen Bureauluft sitzen müssen! Aber sagen Sie, es interessiert mich, machen Sie vielleicht frühmorgens körperliche Übungen?«

Mieze, der schon ein paar Keulen, Hanteln und ein paar andere Apparate aufgefallen waren, die in der Ecke neben dem Schreibtisch standen, verneinte. Sie habe keine Zeit dazu übrig.

»Oh, Zeit hat man stets zu so etwas! Sie sind bloß noch nicht drauf gekommen.«

»Aber ich wasche mich jeden Tag früh und abends«, sagte Mieze, die mitteilsamer wurde.

»So! Nun, das ist gut, ist gut. – Hm! Aber, sagen Sie mal: auch wirklich aus Gesundheitsrücksichten?«

Die Frau Justizrat richtete ihre Adleraugen auf Mieze.

Mieze wurde rot und schwieg einen Augenblick irritiert. Aber dann sagte sie:

»Der Reinlichkeit wegen.«

»Hm, hm, hm! Na, werden wohl ›kosmetische‹ Gründe sein! – Hm! – Ja, ja, ja: die liebe ›Kosmetik‹!« grollte sie im Auf und Ab. »Nun, es ist ja auf alle Fälle gut und gesund, sich oft zu waschen. – Aber turnen Sie! Sie müssen mir versprechen, zu turnen. Hören Sie?«

Mieze sagte, sie wollte es tun. Sie hatte unter der letzten Rede der Frau Justizrat sich auch wirklich schon vorgenommen, frühmorgens nach dem Aufstehen Turnübungen anzustellen.

»Das ersetzt die mangelnde Bewegung. – Ich hab's ja besser. Habe draußen vor der Stadt einen großen Garten, in dem ich möglichst alles selber bestelle. Und dann mach' ich auch Freiluftmärsche. Aber regelmäßige Turnübungen sind ja ein guter Ersatz. Es muß freilich nicht übertrieben werden. Aber darüber werden wir später noch reden, Cäcilie.

Das sieht hier aus wie bei einem Gelehrten, einem Blaustrumpf«, fuhr sie fort, während sie plötzlich vor dem einen Bücherregal stehenblieb. »Aber ich bin keine Gelehrte, ich bin eine Kämpferin. Dazu gehört heutzutage auch das«, sagte sie, auf die Bücher deutend. »Wenn man der hiesige ›Hort der Frauenbewegung‹ ist. Und wenn man Vorsteherin im Frauenverein für soziale Hilfsleistung und wer weiß was noch alles dergleichen ist.

Nun, komm nur mal her, Cäcilie! Sieh dir die Bücher mal an!«

Mieze erhob sich und begab sich nicht ungern zu ihr hin.

»Nun, gefallen dir all die vielen Bücher? Liest du auch gern?«

Sie bejahte. Sie las tatsächlich gern.

»Ich werde dir nachher ein paar davon mitgeben. – Aber sieh mal da hinauf!«

Die Frau Justizrat reckte die Hand gegen eine Reihe von größeren Porträtbildern hinauf, die über dem Regal hingen.

»Das sind alles Kämpfer und Kämpferinnen unserer neuen Zeit. Das ist John Ruskin, da ist Tolstoi, da Ibsen, Björnson, da Walt Whitman – was für ein herrlicher Greisenkopf! –, das ist Charles Darwin usw. usw. Hast du schon von Darwin gehört?«

Mieze bejahte.

Die Frau Justizrat brummte befriedigt.

»Nun, recht so, recht so! – Ja, und da ist Helene Lange, Berta von Suttner usw. usw. Ein andermal! Alles Vorkämpfer, Ritter und Ritterinnen ohne Furcht und Tadel der sich befreienden Menschheit, der großen europäischen Menschengemeinschaft, die im Werden ist.

Möchtest du von alledem was erfahren, Cäcilie?«

Mieze bejahte.

»Nun, recht so, recht so! – Davon und von dem großen Befreiungskampf des Weibes. Und wie Mann und Weib sich von den Uranfängen an bis heute entwickelt haben, und wie das alles, was kommen wird, auch so kommen muß und mußte!

Hm! Sag' mal: hast du etwa einen Schatz?!«

Die Frau Justizrat richtete ihre Adleraugen auf Mieze.

Mieze erwiderte mit einem ungewissen Blick. Aber dann senkte sie die Augen und errötete, ernstlich befremdet, und sagte, leise ihre Verstimmung durchblicken lassend:

»Ach! Nein ...«

»Hm! – Nein! Wirklich nein! – Nun, das ist gut! Es gibt für ein junges weibliches Wesen wahrhaftig auch noch mehr zu tun als solche Talbereien mit jungen Burschen, die heutzutage nichts im Kopf haben als Unfug. – Da gibt es geistig zu arbeiten. Allgemeinbildung! Bildung macht frei! Eine Frau muß sich über staatliche, politische, volkswirtschaftliche, juristische, medizinische Dinge unterrichten. Morgen wird sie wahlberechtigt sein. Und dann gibt es so viel herrliche Dichtung, Kunst und Wissenschaft. Und es gibt soziale Hilfsleistung: Kindergärten, Unterricht, Armenpflege. Volksküchen, Krankenpflege, Waisenhäuser, Blindenanstalten. – Na, über das alles sprechen wir noch. Magst du, Cäcilie?«

Mieze bejahte.

»Nun, sehr gut, sehr gut! – Der Bund der deutschen Frauenvereine ist ein großes und vielseitiges Gebiet. Und es gibt soviel Großes und soviel Not in unseren modernen Übergangszeiten. – Sag', magst du ein paar von den Büchern mitnehmen?«

»O gern!« stimmte Mieze zu.

»Nun gut! – Und kommst also wieder, besuchst mich, sooft du kannst. Nun, denn genug für heute! Denke nicht, daß ich deine Mittagspause vergesse. – Hm, warte!«

Sie überlegte einen Augenblick und zog dann ein größeres Buch und ein paar Broschüren aus dem Regal hervor. »So! Nimm vorläufig das mit. Nimm dir Zeit mit dem Lesen. Es hat keine Eile.«

Mieze nahm die Bücher in Empfang und dankte.

»Und dann – heute haben wir Donnerstag – Sonntag wirst du ja Zeit haben. Komm Sonntag wieder her. Zu Mittag. Ich möchte mal mit dir zusammen Mittag essen. Und nachher wollen wir über allerlei miteinander reden. Und du sollst mir über das berichten, was du bis dahin etwa schon gelesen hast. Einerlei, wieviel es ist.

Und nun die Quittung!«

Sie begab sich zum Schreibtisch, ließ sich nieder, zog aus einem Kästchen einen bedruckten Formularzettel hervor und schrieb etwas drauf, dann tat sie den Zettel in einen Umschlag, erhob sich wieder und reichte es Mieze.

»So, und nun will ich dich entlassen, Cäcilie!«

Aber sie ergriff Miezes Hand und behielt sie in ihrer braunen, muskulösen, die hart war wie die einer Arbeiterfrau, ihre weitere Rede damit bekräftigend, daß sie ab und zu Miezes Hand drückte.

»Auf gute Freundschaft, Cäcilie! Hm! – Sieh' mich von heut ab ohne Umstände für deine zweite Mutter an, liebes Kind! Du mußt recht oft zu mir kommen. – Treue Sorge und Anteilnahme, die sollst du stets bei mir finden, du kleines – Weib!« setzte sie seltsam hinzu. »Wir müssen Zusammenhalten gegen – die Männer!« Sie lachte in ihrer herzhaften Weise. »Wir Weiber von heute! Wir haben uns – nun, ein jeder hat sich seiner Haut zu wehren in der großen Hauptkonstellation des Lebens! Tod aller Knechtung und Unfreiheit! Uns alle hat Gott frei geschaffen. Aber die Weiber, die – schön sind, und die, die vielleicht am tiefsten und naturbestimmtesten – Weib sind, gerade die haben vor allem einen Anhalt nötig in unseren schlimmen, schlimmen Übergangszeiten von heute! – So, und nun leb' wohl! Grüße unbekannterweise deine Mutter! Ich möchte sie gern kennenlernen und werde nächstens mal zu euch hinauskommen. Ich habe überall zu tun, bin überall zu Hause ...«

Mieze verließ die Frau Justizrat in großer innerer Erregung.

Daß es eine Frauenemanzipation gab, wußte sie und hatte darüber auch schon dies und jenes nachgedacht. Sie hatte gemerkt, daß die Frauen und Mädchen heute anders und freier waren und mit den Männern verkehrten, als das, wie sie Mamas Reden entnommen, früher der Fall gewesen war. Mama für ihr Teil war ja ihr Lebtag nur immer Vaters Sklavin gewesen.

Mieze hatte zu ihrem Vater aber von jeher ein ganz eigenes Verhältnis gehabt. Unwillkürlich und aus Instinkt war sie ihm zugetan gewesen, hatte ihm sogar in vielen Stücken Mama gegenüber recht gegeben und ihn verstanden; und dennoch, obgleich sie eigentlich mehr zu Vater als zu Mama hielt, hatte sich in ihr ein starkes Selbstgefühl entwickelt, und wenn sie sich innerlich zugeschworen hatte, sie möchte nie, niemals mit einem Manne so leben wie Mama mit Vater, so war das durchaus kein bloßer leerer Mädcheneinfall gewesen. Sie hatte übrigens auch nie ein weichlich sentimentales Mitleidsgefühl gegen Mama gekannt; so lieb sie Mama auch hatte, so leid ihr Mama tat und so abscheulich ihr die öfteren Roheiten Vaters immer gewesen waren. Aber irgendein sonderbarer Egoismus machte ihr Mama geradezu bedauernswürdig ...

So hatte sie ernstlich Anteil daran genommen, was die Frau Justizrat ihr von der Selbständigkeit der Frau dem Manne gegenüber gesagt hatte.

Trotzdem aber war das nicht die Hauptsache, die Mieze aus diesem Zusammensein mit davontrug. Ein anderes hatte sie weit mehr und unmittelbarer, tiefer berührt.

Die Frau Justizrat hatte sofort ihre ungewöhnliche Schönheit hervorgehoben – deren sie sich übrigens durchaus nicht ganz unbewußt war, und die sie mit allen möglichen kleinen, ihr zugänglichen Mitteln gepflegt hatte –, und sie hatte zugleich auf eine besondere »Tragik« dieser Schönheit hingedeutet. Auch hatte die Frau Justizrat sie in einer so seltsamen Weise ein »kleines – Weib« genannt.

Das hatte ihr irgendwie eine kleine nachdenkliche Bangigkeit mitgeteilt, gegen die sich allerdings auch sofort eine gewisse trotzige Neugier geregt hatte, was für eine Tragik das denn eigentlich sein sollte.

Doch auch darüber machte sie sich eigentlich keine tieferen Gedanken.

Vor allem war es ihr vielmehr sehr viel wert, daß sie eine vornehme Dame kennengelernt hatte, die zu den angesehensten Familien der Stadt gehörte, eins Patrizierdame ...

Sie hatte oft Stunden, Tage, Wochen gehabt, wo sie vor Scham und Niedergedrücktheit unter dem lastenden Eindruck der abscheulichen häuslichen Auftritte zwischen Vater und Mama wie das armseligste, elendeste, verachtetste Bettelkind zitternd und menschenscheu an den Häusern hingeschlichen und sich kaum auf die Straße gewagt hatte, gar auf die große Hauptstraße in der Stadt, wo alle die vornehmen und gutgekleideten Menschen an einem vorbeigingen. Und nun eröffnete sich ihr mit einemmal ein Ausblick in eine Zukunft, in der es dieses entsetzliche Gefühl nicht mehr geben würde! ...

Diese Welt, diese vornehme, stolze, schöne, freie Welt über den anderen Menschen, die arm, gemein, grob, elend, unsauber und ungebildet waren, diese Welt, die ihrem Instinkt, den sie von ehemaligen gutbürgerlichen Familienverhältnissen ererbt, den sie von der weitausgreifenden, stolzen, feurigen Seele ihres Vaters bei der Geburt mit ins Blut bekommen, diese Welt, die ihr von jeher mit einem so besonderen Heimatsgefühl als heißersehntes Ideal vorgeschwebt hatte: in diese Welt sollte sie jetzt also eintreten; heute hatte sie zum erstenmal, so ganz unvermutet, ihre Schwelle überschritten! ...

Kennzeichnenderweise hatte ihr denn auch gerade der Umstand einen ganz besonders nachhaltigen Eindruck hinterlassen, daß die Frau Justizrat sie Cäcilie umgetauft hatte. Ihr altes »Mieze« war ihr jetzt direkt unerträglich. Sie entschied, daß sie unter allen Umständen Cäcilie umgetauft werden müsse ...

Noch an demselben Abend trug sie Mama diese Angelegenheit vor.

»Frau Justizrat fand ›Mieze‹ gräßlich«, sagte sie, nachdem sie Mama ausführlich über das Zusammensein berichtet hatte. »Sie meinte, daß das ein Katzenname wäre. Sie ließ sich alle meine Vornamen sagen und hat mich dann nur noch mit Cäcilie angeredet. Und so will ich auch von jetzt an heißen. Ich lasse mich einfach so umschreiben.«

»Aber, Kind! Was das nun wieder für ein Einfall ist!« wandte Mama in ihrer wehleidigen Weise erschrocken ein. »Aber, warum willst du denn mit einemmal nicht mehr Marie heißen? Frau Justizrat hat doch sicher nur gescherzt.«

»Nein, sie hat's vollständig im Ernst gemeint!« gab Mieze zurück. »Ich lasse mich auch ganz bestimmt auf Cäcilie umschreiben, Mama!«

»Aber wie denn! Mieze! Wo wir dich doch immer von klein auf so genannt haben, Vater, ich, deine Geschwister!«

»Ihr könnt mich ja auch getrost weiter so nennen: nur will ich Cäcilie mit Rufnamen heißen«, bestand sie, »Man kann sich ja doch im Kirchenbuch und auf dem Standesamt umschreiben lassen.«

»Aber, Kind, das ist doch eine so umständliche Sache! Und was hat es denn auf sich! Ich müßte doch deshalb mit dem Vormund sprechen. Ich bitte dich, was soll der denn dazu sagen, wenn ich's ihm vortrage und er mich nach dem Grunde fragt!«

Mamas Einwand versetzte Mieze in einige Verlegenheit, aber sie ruhte nicht eher, als bis sie einen Grund ergrübelt hatte, den man dem Vormund angeben konnte.

»Was soll er denn weiter einwenden, wenn wir's wollen?« sagte sie, noch in Verlegenheit.

Aber dann hatte sie's.

»Du kannst doch sagen, daß es aus Familienrücksichten geschehen soll! So hat doch die Großtante geheißen, die in ihrem Leben so viel Glück gehabt haben und so klug gewesen sein soll!«

»Aber, Kind! Weshalb hast du denn der Frau Justizrat überhaupt gesagt, daß wir dich Mieze nennen?« entgegnete Mama, die sich noch immer nicht an die Sache herantraute. »Du hättest ihr doch sagen müssen, daß du Marie heißt, und das muß doch jeder Mensch für einen verständigen Namen ansehen.«

Mieze errötete bis in die Haare hinein. Sie schämte sich mit einemmal nachträglich furchtbar. Denn das war richtig: Wie war es nur möglich gewesen, daß sie ihren Namen nicht richtig angegeben hatte? Es kam ihr zum Bewußtsein, daß daran die Schüchternheit und Verwirrung schuld gewesen war, die sie anfangs empfunden hatte, und diese Schüchternheit war ihr nachträglich furchtbar verdrießlich.

Doch nun hatte sie die Sache schon mal so weit betrieben, und nun lag die Sache schon mal, wie sie lag, und ihre Verlegenheit machte sie nun erst recht beharrlich.

»Aber, wenn mich die Frau Justizrat doch nun schon Cäcilie nennt?« bestand sie auf ihrem Willen. »Sie will mich doch sicher in den Frauenbund einführen und wird mich da auch vor allen Leuten so nennen. Was ist denn weiter dabei, wenn ich umgeschrieben werde? Es kann mir doch nur von Nutzen sein!«

Zwischen ihren Brauen zeigte sich das Fältchen.

Frau Dühring seufzte, wie sie es sah, und sagte endlich zu, daß sie mit dem Vormund reden wollte.

Doch begab sich Mieze nach diesem Gespräch mit Mama nicht gerade ganz unbefangen und befriedigt hinter in ihr Kämmerchen.

Mamas schließliche Nachgiebigkeit und ihre Hilflosigkeit griffen ihr zwar nicht besonders ans Gewissen, rührten sie aber und machten sie in einer ganz bestimmten Hinsicht nachdenklich.

Daß sie verständigerweise ebensogut Marie wie Cäcilie heißen konnte, leuchtete ihr wohl ein; es war aber etwas anderes gewesen, was sie auf ihrem Willen hatte bestehen lassen, und eine unruhige Nachdenklichkeit machte sie das jetzt erst ganz klar fühlen. Sie empfand, daß es ihr eine tiefere Notwendigkeit war, sich für die Zukunft, sicher nicht von Mama, Fanny und ihren Brüdern abzulösen – das würde sie um keinen Preis der Welt jemals getan haben und zu tun imstande sein –, wohl aber von dem, was in ihren bisherigen kläglichen Familienverhältnissen ihrem Wesen entgegen war. Doch spürte sie gerade auch darüber eine wunderliche Rührung. Ja, so war sie ...

Schließlich aber machte sie sich, tief befreit aufatmend, daß diese Sache abgetan war, bis in die tiefe Nacht hinein über die Lektüre her, die die Frau Justizrat ihr mitgegeben hatte ...

*

Als sie am Sonntag gegen Mittag bei der Frau Justizrat eintrat, wurde sie von dieser mit einem prüfenden Blick von oben bis unten gemustert, der endlich mit einer gewissen grobschlächtigen Strenge an ihrer Taille haften blieb.

»Sag' mal,« rief die Frau Justizrat, »ich wollte dich schon neulich fragen: Du trägst ein Korsett? Und noch dazu so ein ganz neumodisches?«

Mieze bejahte.

»Na ja! Und heute, nicht wahr, noch dazu ein ganz besonders neumodisches?«

»Ja,« bestätigte Mieze betroffen, »mein Sonntagskorsett.«

»Ach, sieh mal! Also zwei Korsette hast du!« polterte die Frau Justizrat. »Das für die Woche ist, leider, nicht wahr, schon etwas zu ausgeweitet, aber an dem sonntagschen da können alle Leute dann um so besser erkennen, was für eine unvernünftig enge Nummer du trägst und wie verrückt du dich einschnürst! Wie bist du denn eigentlich darauf gekommen, sag' mal?«

Mieze schwieg. Sie traute sich nicht recht, das zu sagen. Sie hatte sich ihre Begriffe von Mode in manchen Dingen so auf eigene Faust gebildet.

Sie war gut mittelgroß, von herrlicher Gestalt und wenn auch gerade nicht auffallend, so doch entwickelter als die meisten ihrer Altersgenossen, von einer geschmeidig fleischigen Schlankheit, schön geformt in den Hüften und hatte eine prächtige, kerngesunde Brust. Und so machte sie sich in der Mitte gern schlank. Im besonderen war sie aber auf diesen Einfall gekommen durch die Rokokodamen, die sie in ihrem Kämmerchen zu hängen hatte und die sie als das Ideal von Mode, Vornehmheit und Schönheit anschwärmte.

Sie wurde rot. Denn dieses Vorbild einzugestehen, schämte sie sich, obgleich ja in den neuesten Modezeitungen auch wieder solche eng geschnürten Korsette vorkamen.

Im übrigen aber zog sie sich, obgleich sie sicher mit nichts so wenig als mit irgendeiner Zurückhaltung gekommen war, sofort in ihr Innerstes hinein vor der Frau Justizrat zurück, bereit, um jeden Preis den Kampf um ihr Korsett mit ihr aufzunehmen.

»So! Und das ist wohl so besonders schön und vor allem ›schick‹, wie?« polterte die Frau Justizrat weiter. »Sag' mal: hast du schon mal 'ne Drechselpuppe gesehen? Und hast du schon mal in den ›Fliegenden Blättern‹ die Dame mit der ›Wespentaille‹ gesehen, die sich beim Brotschneiden mittendurch in zwei Hälften schneidet? – Hier, sieh mich an! Ich habe mein Lebtag kein Korsett getragen, und ich denke, ich sehe deshalb noch lange nicht wie ein Fleischkloß aus! – Hier, komm mal her!«

Sie war mit zornigen Schritten an eins der Büchergestelle herangetreten und zog jetzt ein Buch daraus hervor, das sie mit der Aufforderung an Mieze, herzukommen, auf den Tisch legte und aufschlug. Es waren in dem Buche allerlei nackte Weibergestalten mit unnatürlich engen Taillen abgebildet.

»Da, sieh dir mal deine ›Schönheiten‹ an!« rief die Frau Justizrat. »Das nennt man Deformation des weiblichen Körpers durch jahrhundertelanges Tragen des Korsetts. – Aber hier« – sie blätterte weiter – »kannst du dir deine ›Schikösen‹ auch mal von innen besehen! Sieh mal: so nehmen sich ihre Eingeweide aus! Alles zusammengequetscht, nichts an seinem rechten Fleck! Krebs, Eingeweidekrankheiten, Geschwüre, na, pfui Deibel! was weiß ich alles; Leberquetschungen, die aber auch meistens tödlich verlaufen, sind noch das Appetitlichste. Ich hoffe, ich werde dir den Geschmack an deiner Höllenmaschine da etwas verdorben haben, wie? Im übrigen aber laß dir sagen, daß es heutzutage bei vornehmen Damen nachgerade für geradezu geschmacklos gilt, sich eng zu schnüren.«

Die Frau Justizrat hatte sich hier auf einen kleinen diplomatischen Kniff verlegt, der denn auch sofort auf Mieze seine Wirkung tat.

»Man trägt heute Brusthalter und Leibchen; kein verständiges Weib, dem seine Gesundheit und seine gute Gestalt etwas wert ist, trägt heute mehr solch einen Panzer des Todes da!«

Mieze beschloß, als ihr die Frau Justizrat dann in dem Buch noch verschiedene namhafte vornehme Damen der Gesellschaft wies, die Brusthalter und Leibchen trugen, in Zukunft auch nur noch ein solches zu tragen ...

Hernach aber hatte die Frau Justizrat, als sie drin im Eßzimmer bei Tisch saßen, noch etwas anderes an Mieze auszusetzen.

»Na, sag' mal,« fing sie an, nachdem sie ihr eine Zeitlang aufmerksam beim Essen zugesehen hatte, »wie ißt du denn da eigentlich? Wo hast du denn die Mode her?«

Mieze erschrak auf der Stelle so heftig, daß sie mit einem kleinen Ruck zusammenfuhr und förmlich erbleichte.

Sie hatte allerdings in der Annahme, daß das sich so gehöre, beim Essen die Ellbogen zur Seite gespreizt und dann die Hände, Messer und Gabel zwischen den Fingern, mit einer Schwunglinie, die sie für schön und zierlich hielt, über den Teller hängen lassen.

»Deine Hände sind doch Hände und keine Fransen!« polterte die Frau Justizrat. »Und es braucht zwischen deinen Ellbogen doch kein Pudel durchzuspringen? Nu, sieh nur her, wie ich esse! Ich denke, ich bin auch eine Dame und weiß, wie man ißt. Am gescheitesten bist du aber, wenn du in Gottes Namen ganz einfach so ißt, wie dir am bequemsten ist. Löffel, Messer und Gabel werden sich schon gebrauchen lassen, und eine Kuhmagd bist du ja auch nicht von Geburt und Erziehung. Man muß wahrhaftig nicht alle Narreteien mitmachen, die vornehm sein sollen oder die aus anderen Gründen Anno damals mal ›mode‹ gewesen sind!«

Als sie dann aber nach Tische drin im Arbeitszimmer in schönen resedagrünen Korbstühlen am Kaffeetisch saßen und die Frau Justizrat im Laufe des Gespräches »Cäcilie« aufforderte, ihr über das zu berichten, was sie inzwischen schon in den neulich mitgenommenen Büchern gelesen hatte, da wurde ihr eine rechtschaffene und wohl sogar unerwartete Freude zuteil, denn Mieze bot in der geläufigsten Weise ein sehr ausführliches und erstaunlich intelligentes, aufmerksames Referat, das um so erstaunlicher war, wenn man bedachte, wie wenig Zeit ihr zum Lesen daheim übrigblieb ...

Dann aber begann die Frau Justizrat in ihrer lebhaften Weise ihr einen Vortrag über die Frauenfrage zu halten, der vor allem von praktischen Dingen und von der sozialen Hilfsarbeit der Frauen handelte. Aber Mieze erfuhr, daß auch die Mitarbeit von Mädchen sehr erwünscht war und daß sie Mitglieder des Frauenbundes werden konnten.

Es verstand sich von selbst, daß sie Mitglied werden mußte. Mit dem jährlichen Beitrag war das nicht so schlimm. Eigentlich bezahlte man ja jährlich mindestens fünf Mark, doch kamen Unbemitteltere mit einer Mark davon. Man brauchte nur eine schriftliche oder mündliche Eingabe zu machen, die sich in Miezes Fall aber erübrigte.

Mieze war einverstanden, doch ohne einen besonderen Eifer zu zeigen. Die Frau Justizrat hielt diesen Umstand für Schüchternheit.

Doch darin täuschte sie sich.

Mieze wurde zwar Mitglied, besuchte auch, wie es nur ihre Zeit erlaubte, gewissenhaft die Versammlungen und Vorträge und versah die Hilfsarbeiten, zu denen sie herangezogen wurde, Korrespondenz, Aushilfe im Waisenhaus, gelegentlich auch in einer Blindenanstalt, wo sie vorzulesen oder die Kinder nach der Methode der Hoboldtafeln, die sie sich zu dem Zwecke erst aneignen mußte, im Lesen zu unterrichten hatte, zur Freude der Frau Justizrat mit großer Sorgfalt und Geduld, doch geschah es nicht ein einziges Mal, daß sie sich an Erörterungen ungefragt beteiligte oder etwas aus eigenem Antrieb oder aus dem Bedürfnis, sich zu unterrichten, gefragt hätte. Vielmehr beobachtete sie hier, in den mehr theoretischen Angelegenheiten, eine merkwürdige Zurückhaltung.

Auch die Versuche, die die Frau Justizrat machte, sie für Reformkleidung oder gar für die vegetarische Lebensweise zu gewinnen, mißlangen gänzlich, nur daß Mieze jetzt ein für allemal kein Korsett mehr trug ...

Sie leistete hier und in allem, was ihr nicht lag, einen so unerschütterlichen passiven Widerstand, daß die Frau Justizrat sich zuerst verwunderte und gelegentlich wohl auch Bedenken hatte. Da ihr aber die persönliche Anhänglichkeit, die Mieze ihr entgegenbrachte, nicht entging, so ließ sie sie als ein Wesen ausgeprägter »individueller Eigenart« gewähren, zumal sie im übrigen eine sehr nützliche Mitarbeiterin in allen praktischen Angelegenheiten wurde und da sie besonders im Verkehr mit Kranken und Kindern ein überraschendes natürliches Geschick und eine zwar gelassene, gehaltene, aber deutlich ausgeprägt liebevolle Art zeigte ...

Es war gerade der letztere Umstand, der der Frau Justizrat eine ganz eigentümliche Nachdenklichkeit erregte, ein Gefühl, in dem so etwas wie ein unwillkürlicher staunender Respekt wie vor etwas ganz Außergewöhnlichem war ...

Es schien sich in einer so ganz eigenen Weise wirklich zu bestätigen, was die Frau Justizrat gleich beim ersten Zusammensein mit Mieze über diese geäußert hatte, daß sie im intimsten und eigentlichsten Sinne – Weib war ...

Gelegentlich machte die Frau Justizrat dann auch einen Besuch draußen in der Vorstadt bei Mama, der Mieze indessen recht geniert hatte. Denn die arme Mama, die zeit ihrer unglücklichen Ehe niemals einen rechten Verkehr gehabt und unter Menschen gekommen war, hatte alles mehr als Haltung gezeigt.

Und das hatte Mama, nach Miezes Empfinden, doch durchaus nicht vonnöten. Die Frau Justizrat aber hatte Mama gegenüber, vielleicht auch durch Mamas wunderliches und ängstlich-freundliches Wesen selber in eine gewisse Verlegenheit versetzt, eine wohlwollend und schonend liebenswürdige Art gezeigt, die für Mieze fast schon kaum zu ertragen gewesen war.

Doch wußte sie sich die Frau Justizrat in dieser Zeit auch unbedenklich und mit Geschick für ihre eigenen Interessen zunutze zu machen.

Abgesehen davon, daß sie durch sie mit den ersten Kreisen der Stadt in Beziehung kam, benutzte sie sie vor allem, um zu einer besseren und für einen weiblichen Buchhalter schon ungewöhnlich gut besoldeten kaufmännischen Stellung zu gelangen. Die Frau Justizrat war in der Lage, ihre eine zu verschaffen, die ihr 100 Mark pro Monat einbrachte.

Doch kam Mieze, alles in allem, mit der Zeit durch all diesen neuen Verkehr in eine wunderliche Unruhe hinein ...

*

April war ins Land gekommen. Eines Sonntags nachmittags machte sie bei schönem Wetter einen einsamen Spaziergang im Adelheidpark.

Sie waren umgezogen, wohnten jetzt dicht am Park, im dritten Stock eines neuen Hinterhauses, eines sogenannten Gartenhauses, von wo aus Mama jetzt sogar einen angenehmen Blick über den Park hin bis zum Strom genoß, der dicht hinterm Park vorbeiging.

Am Park lag auch ein großes Vergnügungshaus, wo Sonntags getanzt wurde. Miezes Bekannten, wie sie Buchhalterinnen oder Ladenmädchen, pflegten dort mit ihren Liebhabern, meist jungen Kaufleuten oder kleinen Beamten, zu tanzen. Gelegentlich war sie auch mal hingegangen, hatte dies Treiben aber dermaßen abgeschmackt und unter ihrem Standes- und Selbstgefühl gefunden, daß es bei diesem einzigen Mal geblieben war.

Sie war allein.

Und es kam ihr bei diesem einsamen Spaziergang zum Bewußtsein, daß sie, trotz all der Beziehungen, die sie durch den Frauenbund gewonnen, eigentlich keinen Verkehr und niemand zum Freund habe.

Einsam fühlte sie sich. Und so einsam, wie sie sich bis dahin noch niemals in ihrem Leben gefühlt hatte; in einer so ganz besonderen Weise ...

Die jungen Männer hatten zwar ihre Versuche gewagt, mit ihr anzubändeln, aber sie hatte mit ihnen keine Umstände gemacht. Im Grunde hatten sie sich von vornherein durch ihre ungewöhnliche, aparte Schönheit und ihre gute Rasse verwirrt gefühlt. Außerdem aber war sie gelegentlichen Annäherungsversuchen mit einem Schweigen begegnet, dessen unbedingter Verachtung man sich zum zweitenmal nicht aussetzte. So ließ man sie denn als dummstolz oder als »kühle Blonde«, was hier ihr Spitzname war, links liegen ...

So war sie denn während dieses Spazierganges in einer recht unglücklichen und unruhigen Stimmung. Und eigentlich fühlte sie sich sogar auch körperlich nicht recht wohl.

Doch war es nicht eigentlich Schwermut. Nichts lag ihr von Natur so wenig als irgendwelche Grübelei. Es war mehr ein seltsames inneres Federn, Drängen, Angst und eine dunkle, zornige Ungeduld als eigentlich wehleidiger Trübsinn, was ihr zusetzte.

Die Witterung trug auch mit schuld.

Es herrschte eine schwere, herb süße, betäubende Frühlingsluft; eine Luft, die einem zu wohl tut, mit einer seltsamen wonnigen Feuchte darin. Eine echte Frühlingsluft, die einem ins Blut geht, es unruhig und zugleich müd und schwer macht, einem ein elektrisches Prickeln verursacht, einen betäubt und zugleich doch beständig wieder aufpeitscht.

An einem allzu blauen, wie ausgewaschen blauen Himmel zogen übermäßig weiße, milchige Wolken mit flau verwischten Konturen langsam und mit wonniger Trägheit dahin.

Überall schallte es in Gebüschen und Baumwipfeln und über die neubelebten Wiesen hin von dem metallisch scharfen Gesang der Amseln und Drosseln, ein überlauter Metallton, der einen Widerhall wie aus unendlichen, gärenden, leis und wonnig umdampften Sonnenweiten her hatte, der aufreizte und süß peinigte und erschreckte. Nicht minder wirkte so der wunderlich geschmeidig huschende Flug dieser Tiere, deren schlanke, schwarze und graubraune Leiber überall über Wiesenfläche, durch krißlige Baumwipfel und durch die Büsche hinglitten, die sich wie mit zahllosen grün elektrischen Flämmchen entfacht hatten. Mehr als einmal verursachte es ihr in ihrem unruhigen Zustand einen jähen Schreck, wenn solch ein schlanker, dunkler Vogelleib plötzlich dicht vor ihr über den Promenadenweg hinhuschte oder unten zwischen dem Gebüsch durch, im vorjährigen Laub raschelnd, geschmeidig dahinschlüpfte.

Dann gab es am Rande der Wiesenflächen Beete mit Priemeln, Märzglöckchen, Leberblümchen, Tazetten und Hyazinthen oder über ein Stück Wiese hin, deren Grün etwas aufreizend frisch und grell Smaragdenes hatte, zahllose Krokusflämmchen in allen Farben: Eindrücke, die wonnig, mit schmerzender, seltsam ins Weite und Unbestimmte reizender Wonne ins Blut drangen und es einem bis zum Zerspringen mit purpurnen, brausenden Taumelwellen zum Kopf trieben ...

Unter Menschen zu sein, hätte sie heute schon gar nicht ausgehalten. So hatte sie die Gegend um das Lokal herum vermieden und sich den tieferen und einsameren Stellen des Parkes zugewandt, die sich in der Nähe des Stromes befanden.

Aus ihrem Verkehr machte sie sich gar nichts, aber auch Träumereien lagen ihr nicht. Doch hatte sie wohl oft eine ganz bestimmte Vorstellung von dem Manne, den sie liebte und den sie einst haben wollte, oder außer ihm gar keinen ...

Aber es war nicht eigentlich Schwärmerei, die ihr dieses Mannesbild vorgaukelte, sondern es handelte sich hier um einen ganz bestimmten Trieb ihres Charakters, ihrer Rasse, einen Trieb und eine Sprödigkeit, die, je notwendiger sie in ihrer Natur begründet waren, um so mehr alles andere ausschlossen und von sich abwehrten ...

Wenn es unter ihren Bekannten hieß, sie wäre kalt, so war das vielleicht in gewisser Hinsicht etwas nicht Unrichtiges. Sie hatte keine Gefühl für die jungen Männer, die sie kannte und haben konnte.

Außerdem war dieser Trieb und diese Mannesvorstellung viel zu tief mit ihrem Bluts- und Familiengefühl verknüpft.

Seltsamerweise hatte der Mann, dessen Bild ihr Herz schlagen machte, etwas von ihrem Vater.

Vater war ein stattlicher, robuster Mann gewesen, mit dunklen, feurigen Augen und einem echten Mannesgesicht, voll festem Willen, eine Falte in die breite Stirn hinein, stolz, selbstbewußt und dennoch leutselig. Und er war geradezu schrecklich gewesen, wenn sein Zorn ihn übermannte. Doch hatte das – wenn Vater dann nicht gerade roh gewesen war – stets einen ganz eigentümlichen Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte dann nicht eigentlich Angst vor ihm empfunden, als vielmehr einen Schreck, eine wunderliche Besorgnis, die sie gerade zu Vater in solchen Augenblicken hingezogen hatten ...

Und einen so festen und leichten Gang hatte Vater gehabt, kleine Füße und kleine, aber so kräftige Hände und eine so angenehme, wohltönende Stimme.

Es war ihr auch ausgefallen, daß Vater sich für sich hielt und daß er oft von anderen Männern, selbst von solchen, die in einer höheren Lebensstellung oder in großem Ansehen standen, mit einer humorvollen, lachenden Ironie sprach, ohne sich doch eigentlich über sie lustig zu machen. Stolz und selbstbewußt war er gewesen und doch nicht eingebildet, verachtend und dünkelhaft; vielmehr achtete er jeden und konnte oft so freundlich und lieb sein. daß es die Leute ganz seltsam berührte und jeder ihn lieb hatte ...

Besonders hatten ihn die Arbeiter und kleinen Leute sehr gemocht und hätten, obgleich er stets nach dem Rechten sah und nichts durchgehen ließ, wie der alte Anton in der Fabrik für ihn durchs Feuer gehen können.

Niemals hatte sie bis jetzt einen zweiten Mann gesehen oder kennengelernt, der so ganz und gar, wie sie's empfand, ein Mann gewesen wäre wie Vater.

Und das hatte dann später die unbestimmten und von einem zum anderen schweifenden, auf den Mann im allgemeinen gerichteten gewöhnlichen Jungemädchenschwärmereien nie in ihr aufkommen lassen. Sie wußte tatsächlich noch nicht, was es heißt, einen Mann lieben oder für einen Mann schwärmen und ihn begehren. Denn ein solches Gefühl war ja selbstverständlich ihrem leiblichen Vater gegenüber ausgeschlossen gewesen. Sie war in all solcher Hinsicht noch völlig unschuldig und unbewußt ...

Immerhin hatte sie aber in der Stadt wohl schon gerade unter den vornehmen Männern diesen und jenen gesehen, der für sie mit diesem und jenem Zug, den er für sie mit Vater gemeinsam hatte, bis zu einem gewissen Grade, wie sie's empfand, Mann war, in dem ausschließlichen Sinne, in welchem Vater für sie einen Mann bedeutete ... Und so meinte sie denn, daß gerade und ausschließlich oder doch am ersten in diesen Lebenskreisen der Mann zu finden wäre, mit dem sie sich später mal hätte verheiraten mögen ...

Aber das alles wurde in ihr nicht zu irgendwelchen bestimmteren Träumereien oder sentimental sehnsüchtigen Begehrungen, wie sie jetzt einsam den Promenadenweg hinschlenderte, sondern es ward eher eine Art von dunkler Angst, die dann in so etwas wie Zorn und Unmut und dann in eine unbestimmte, lachende, federnde Unternehmungslust überging. Und zugleich wurde es Langeweile.

Plötzlich wandte sie sich, den Mund zusammengekniffen, die seinen Nasenflügel gerümpft, das Fältchen in die Stirn hinein und mit wie lachend blitzenden Augen einem Busch mit schönen, safranroten Gerten zu, der am Wege stand, und wand, da die Gerten zäh waren von ihrem treibenden Frühlingssaft, mit ungeduldiger Kraft eine ab. Und dann schritt sie weiter, mit blitzenden Augen vor sich hinblickend, leise vor sich hinpfeifend und hieb, unbewußt in diesem Augenblick ihres Trauerkleides, mit der Gerte unter festen, kleinen Hieben an ihrem Bein herunter ...

»Haha«, dachte sie, während sie sich langsam dem großen, freien Platz näherte, der zwischen dem Park und dem Stromufer sich breitete, mit einem wunderlich wild Humorvollen Groll und Übermut, »was sie da alles haben! Auskunftsstellen, Armenpflege, Rechtsschutzstellen, Volksküchen, Krippen, sogar in die Gefängnisse gehen sie und in die Blindenanstalten und wer weiß wo noch alles hin! Und dabei werden die armen und unglücklichen Leute doch nicht alle. Und meistens kommt es sogar an die Unrechten. Was das alles eigentlich für Sinn haben soll! Es ist doch ganz gewiß so, daß es sowohl arme wie reiche Leute in der Welt geben muß. Die Armen sind doch aber heutzutage sowieso Sozialdemokraten, sorgen für sich selber. Und das ist auch ganz richtig. Denn sie müssen doch schließlich am allerbesten wissen, was sie brauchen, und wer sich außerdem nicht selber helfen kann, dem kann überhaupt nicht geholfen werden. Aber so ist es ganz sicher und gewiß, und nicht anders. – Aber auch das kann mir egal sein. Was hab' ich auch davon? Auch unter die Sozialdemokraten geh' ich darum noch lange nicht.«

Sie trat aus dem Park auf den Platz hinaus, wo Spaziergänger hin und her schritten oder drüben an dem Eisengeländer standen, das den Platz gegen das Uferterrain abschloß, um den Blick über den Strom zu genießen.

So tief war sie mit sich allein, daß sie vergaß, die Gerte fortzuwerfen, die so auffällig wenig zu ihrem Trauerkleid paßte.

Ohne auf die Leute zu achten oder ihnen, wo sie zwischen ihnen hindurch mußte, spröde ausweichend, schritt sie zu dem Eisengeländer hinüber, suchte sich eine Stelle aus, wo sie allein war, und blickte, beide Arme nach vorn auflegend und sich, um auszuruhen, nach vorn beugend, auf den Strom hinaus.

*


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