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Was wollen die Suffragettes?

Am 7. November 1911 kündigte der englische Ministerpräsident Asquith, Führer der Liberalen, einen Stimmrechtsentwurf an, der allgemeines Männerstimmrecht fordert (manhood suffrage). Seitdem fordern auch die Suffragettes, fordert die W. S. P. U. das allgemeine Frauenstimmrecht. Denn ihr Grundsatz ist: gleiche Rechte für Mann und Frau. So lange das Wahlrecht des Engländers ein beschränktes, an gewisse Qualifikationen gebundenes war, verlangte auch die W. S. P. U. nur das gleiche beschränkte Wahlrecht für die Frauen, denn ihr Grundsatz (dies ist immer zu wiederholen) ist politische Gleichberechtigung der Geschlechter, ohne Bindung an irgend eine besondere Form des Wahlrechts. Die Frauen besitzen (seit 1869, mit Erweiterungen von 1870, 1894, 1907) das aktive und passive Wahlrecht in der Gemeinde, und zwar wenn sie Steuerzahler (tax payers) sind. Sie genießen hier fast die gleichen Rechte wie der Mann.

Das jetzt noch geltende Gesetz für die politischen Wahlen (Parlament) wird nur auf Männer angewandt. Weil die Gerichte 1868 so und gegen die Frauen entschieden haben. Es wählen demnach vier Kategorien von Männern: 1. lodgers, d. h. Mieter, die für ihre Wohnung mindestens 3 Shilling, 6 Pence die Woche bezahlen. 2. solche Mieter, householders, occupiers, die ein Haus, den Teil eines Hauses, einen Laden, Bureau oder eine ländliche Pachtung innehaben. Hier ist keine Mietsgrenze nach unten festgesetzt. (1 und 2 sind nicht scharf geschieden; 2 umfaßt 90% der Wählerschaft.) 3. Eigentümer (owners), die auf jährlich mindestens 100 Mk. Einkommen aus ihrem Besitz geschätzt werden. 4.die männlichen Träger akademischer Titel der acht Universitäten (Oxford, Cambridge, London, Dublin, Edinburg, St. Andrews, Glasgow, Aberdeen). Sie wählen besondere Universitätsvertreter. Hier schloß ein Spruch des Oberhauses 1908 die Frauen aus. (The case of the Scottish Graduates.)

Die Gewähr ihrer Forderung hätte etwa 1¼ Million Frauen zu politischen Wählern gemacht, neben 7½ Million männlicher Wähler. Das nannten die »Antis«, das Land den Frauen und dem Ruin ausliefern.

 

England hat ca. 36 Millionen Einwohner; 18 624 884 Frauen, 17 445 608 Männer, also 1 179 276 mehr Frauen als Männer. 4½ Million Frauen sind außerhäuslich berufstätig. Dies sind die Zahlen von 1901, die letzten veröffentlichten. Die Hausfrauen sind in ihrer Mehrzahl vor und nach der Ehe außerhäusliche Berufsarbeiter und alsdann, weil aus der Übung gekommen und nicht mehr in der Vollkraft stehend, den elendesten Schwitzindustrien ausgeliefert, der Prostitution, dem Verhungern.

Als Hausfrauen leisten sie den größten Teil der unbezahlten Arbeit der Welt, einer sehr ermüdenden, oft undankbaren, ja widerwärtigen Arbeit. Das englische Gesetz aber kennt nicht einmal die Unterhaltspflicht des Mannes, auch kein Erbrecht der Frau. Es wird vorausgesetzt, daß der Mann ihr einen Teil seines Verdienstes für den Haushalt übergibt, sie hat jedoch keinen gesetzlichen Anspruch darauf und kann ihn nicht einklagen. Sogar Ersparnisse, die sie vom Haushaltsgelde macht, sind noch das Eigentum des Mannes. – Verfügen tut sie nur über ihren außerhäuslichen Verdienst. Die außerhäuslich berufstätige Ehefrau ist aber doch gerade das Nichtnormale. – Der Ehemann allein bestimmt den Wohnort, er allein übt die elterliche Gewalt, bei Ehebruch kann sie die Scheidung nur erlangen, wenn sie auch schwere Mißhandlung oder Verlassung nachweist. Siehe F. Pethick Lawrence. Woman's fight for the Vote. London 1910. Kapitel IV. Die jetzt ernannte Kommission zur Reform der Ehescheidung (Divorce Commission) enthält keine Frau.

Klagt eine der armen Frauen auf Trennung, so geschieht es, daß die Gerichte ihr und ihrem Kind 10 Shilling wöchentlich zusprechen, der Mann aber 60 bis 80 Shilling die Woche verdient. Die end- und trostlose Hausarbeit, die auf der Mehrzahl der englischen Ehefrauen lastet, entreißt ihnen heute den Ausruf: Es ist ein Hundeleben. (It is a dogs' life for a woman.) Votes for Women 17.12.1909, 18.8.1911, 16.2.1912.

Für diese kämpfen wir!
Aus Votes for Women.

Stark benachteiligt sind die Frauen auch im außerhäuslichen Beruf. Siehe F. Pethick Lawrence: Women's fight for the Vote, Kap. V und derselbe: Women's Votes and Wages, in Votes for Women 28.10.1910, 11. und 18.11.1910. Von allen höheren Staatsämtern, außer dem der Königin, sind sie ausgeschlossen. Ihre Zahl in den mittleren und unteren Graden beträgt 50 000. Alle zu geringerem Lohn als die Männer. Die Leistung ist meist gleichwertig, falls geringer, nicht in dem Maße, wie der Lohn es ist. Das staatliche Board of Education (Unterrichtsministerium) zahlt seinen Schulinspektoren 800 und 1000 £ (16-20 000 M.), den Inspektricen 300-500 £. Das Taggeld des Mannes beträgt 20 Shilling, das der Frau 15. Die staatlichen Gewerbeinspektoren beziehen bis 1200 £ jährlich, die Inspektricen bis 550 £. Der Staat beschäftigt bei der Volksschulaufsicht 250 Männer und 20 Frauen (obgleich mehr Schülerinnen und Lehrerinnen als Schüler und Lehrer zu beaufsichtigen sind), er beschäftigt bei der Gewerbeaufsicht 900 Männer und 20 Frauen, obgleich 2 Millionen Arbeiter Frauen sind. Im Postdienst sind die Gehälter: Sortierer, Männer 20-62 Shilling die Woche, Frauen 14-30. Telegraphisten: 18-65 Shilling; 16-40. Bureaubeamte, Maximum, Männer 250 £, Frauen 100 £ (jährlich). Die Schreibmaschinistinnen werden mit Verlängerung der Arbeitszeit und Verkürzung des Lohnes bedroht.

Die 110 000 Volksschullehrerinnen sind Gemeindebeamte, jedoch von Staatsunterstützung und Staatsaufsicht abhängig. Sie beziehen, bei gleicher Vorbildung und gleichen Klassen, zwei Drittel des Männerlohns. Der Londoner Grafschaftsrat (County Council), der 2000 verheiratete Lehrerinnen beschäftigt, sucht jetzt, sie aus dem Beruf zu stoßen, um Männer unterzubringen.

Das gleiche droht den Blumenbinderinnen und den 5000 Kohlensortiererinnen (Gesetz über die Nachtarbeit, Kohlengrubengesetz) Votes for Women 11.8.1911..

Die Hebammen-Kommission (Departmental Committee on the midwifes question), der eine Neuregelung des Berufes obliegt, enthält keine sachverständige Frau.

Der Staat selbst zahlt den Konfektionsarbeiterinnen für Heer und Marine Hungerlöhne, den Männern aber Gewerkschaftstarife Votes for Women 23.12.1909.. Die elendesten Industrien, die eigentlichen Schwitzindustrien, benutzen vorwiegend Frauenarbeit: die durchschnittlichen Frauenlöhne in der Industrie, 7 und 8 Shilling, sinken hier unter 5 Shilling die Woche. Die Heimarbeiterinnen erhalten 8 und 9 Pence für das Dutzend Hemden. Strafgelder, Maschinenmiete, Garn vermindern noch den Lohn. Die Arbeit geschieht in ewiger Hast, und das Hauswesen wird vernachlässigt. – Die Heimarbeit beschäftigt auch viele Kinder 200 000 Schulkinder in England sind erwerbstätig. Für das Aufbringen von Haken und Ösen auf Karten werden 10 Pence (80 Pf.) das Gros gezahlt (12x12 Dutzend)..

Auch Fabriken zahlen Hungerlöhne, weniger als 10 Pfennig die Stunde: »Unter 10 Pfennig die Stunde und davon Miete bezahlen, wohl gar Fahrgeld! Und Kleidung bezahlen und Nahrung! Das gibt nicht viel Margarine aufs Brot! Wie davon leben?« East Berkshire Gazette 18.8.1911.

Die Frauen sind aber noch in anderer Art benachteiligt: Die Rechtsprechung schützt gerade die arme Frau wenig; den Mann, der 60-80 Shilling die Woche verdient, kann die Frau mit 10 Shilling die Woche abfinden. Wenn er seine Frau niederschlägt und ihr die Kehle durchschneidet, wird er straflos entlassen und nur zum Frieden ermahnt. Für unsittliche Attentate auf zehnjährige Mädchen gibt es – 10 Tage Gefängnis usw. Geringfügiger Diebstahl aber wird härter gestraft als schändlichste Vergehen an Frauen. Bei Kindesmord zieht das Gesetz nur die Mutter zur Verantwortung, sie wird rite zum Tode verurteilt und (da die Strafe praktisch nicht mehr zur Anwendung kommt, das Gesetz aber noch besteht) dann zu lebenslangem Gefängnis begnadigt. Votes for Women, 18.8.1911. The Case of Margaret Murphy.

Die Trunkenheit der Männer ist viel stärker als die der Frauen (141 000 Fälle: 33 000, jährlich), jeder Trinker bedeutet eine Quelle der Gefahr für Frauen und Kinder. Die Kindersterblichkeit ist mit auf diese Ursache zurückzuführen; 100 000 Säuglinge sterben alljährlich. Die Frauen aber haben gar keinen gesetzlichen Einfluß auf die Lebensbedingungen der Familie. – Als Hausfrauen sind sie von der obligatorischen Reichsversicherung ausgeschlossen (Krankenversicherung). Sie sind keine »wage earner« (Lohnarbeiter). Die Ehefrau ist auch von der freiwilligen Krankenversicherung ausgeschlossen. Die Witwe nur kann sich in Privatgesellschaften (Friendly Societies) einkaufen oder Einleger der Postsparkassen werden, was aber keine Versicherung ist. – Auf freie ärztliche Behandlung, Medizin, Sanatorien hat die Hausfrau kein Recht. Die Wöchnerinnenunterstützung (30 Shilling) gehört dem Mann und ist zur Bezahlung des Arztes (nicht der Hebamme, noch zur Pflege der Wöchnerin) bestimmt.

Die Berufsfrauen sind obligatorisch versichert, erhalten 7 Shilling Krankengeld, 30 Shilling Wöchnerinnengeld, die uneheliche Mutter nur letzteres, und es wird dem Frauenfonds entnommen. Der besondere Frauenfonds (die Beiträge der weiblichen Versicherten) trägt auch die Witwen- und Waisenversicherungen. Votes for Women, 21.7.1911. Deutsch: Zentralblatt des Bundes deutscher Frauenvereine, 15.9.1911.

Obgleich so viel geringer bezahlt und so viel mehr gefährdet als der Mann, findet die Berufsarbeiterin weit schwerer anständige Wohnung: es gibt viele, gute und billige, ja höchst komfortable Wohnhäuser für arbeitende Männer, aber nur zwei Städte haben je eins für Frauen errichtet. Where shall she live? von Higgs und Hayward. London. 1910. Das Haus in Manchester wurde durch den weiblichen Stadtrat Margaret Ashton gegründet. Dies ungelöste Problem: Wo soll sie wohnen? findet seine Antwort in der Welt, von der man, besonders in England, nicht spricht.

Wohin führen denn überhaupt die meisten der steinigdornigen Berufswege der Frau? Irgendwie, irgendwann, irgendwo in den Schlamm, in den Pfuhl der Prostitution, in die Netze des Mädchenhändlers. Und die Welt nimmt das hin, den Gesetzgeber stört das nicht viel.

Die Reglementierung, 1869 eingeführt, ist nach 17-jährigem Kampf, den in erster Reihe die Frauen führten, 1886 wieder beseitigt. Aber »Sollicitation«, Ansprechen, Belästigen auf der Straße wird nur bei Frauen bestraft (die Polizei arretiert und inhaftiert sie) und der Gesetzentwurf, der den Mädchenhandel bestraft (White Slave Traffic), hat drei Jahre geschlummert, bis er jetzt unter dem Druck der öffentlichen Meinung Der Tod William Steads (Titanic-Untergang) – er war ein Hauptkämpfer gegen den W. S. T. – trug dazu bei. in zweiter Lesung angenommen wurde. und seitdem schon wieder verwässert.

In dem Prozeß gegen die Führer der W. S. P. U. (Mai 1912) erklärte Dr. Ethel Smyth: »Ein Bekannter, der Parlamentarier, sagte einmal zu mir: Kein Mann, einzeln genommen, wünscht die sittliche Gefährdung der Frauen; kommt es aber zu gesetzlichen Maßnahmen, so sind wir, zusammen genommen, immer der Ansicht: die Dinge könnten eigentlich ganz gut so bleiben wie sie sind.«

Das ist nun nicht die Ansicht der Suffragettes. Die Frauen Englands, die zu den Suffragettes gehören, besitzen eine soziale Einsicht, die in anderen Ländern noch fehlt. Weswegen die Suffragettes denn auch von der Mehrzahl der Zeitgenossen nicht verstanden werden. Sie sehen weiter und tiefer; diese persönliche Fähigkeit läßt sich aber nicht einfach übertragen.

Die soziale Einsicht ist das Band, das besitzende und erwerbende Frauen verbindet. Die australische Stimmrechtlerin, Vida Goldstein, sagt ganz richtig: »Die Suffragettes arbeiten für die Frauen, die weniger als 1 Penny (10 Pfennig) die Stunde verdienen.« Und die East Berkshire Gazette vom 18.8.1911 sagt ebenso treffend: »Wie man mit weniger als 10 Pfennig Stundenlohn Leib und Seele zusammenhält, das lassen wir hier wohl besser unerforscht. Aber – ob wir wollen oder nicht, die Frage wird einmal beantwortet werden müssen. Und dies ist eins der Probleme, das Mrs. Pankhurst und ihre Anhänger zu lösen versuchen und vielleicht lösen werden.«

Damit ist nun die ganze Suffragettebewegung auf ihren wirklichen Grund gestellt. Sie ist eine Bewegung der unterdrückten und verelendeten, zum mindesten der benachteiligten Weiblichkeit unter Führung der bürgerlichen Intelligenz. – Die gleiche Entwicklung sehen wir im Sozialismus bei den Männern. Ebenso in der französischen Revolution.

Auf Grund eingehendster Kenntnis des Lebens, wie es ist, sagen die Suffragettes:

Die Welt ist fürchterlich. Vielleicht wird sie nie vollkommen; sie könnte aber sehr viel weniger fürchterlich sein. Der Mann allein vermag sie nicht ins Lot zu bringen, denn er sieht gar nicht, was ihr fehlt, und wenn ers sieht, so fühlt ers nicht, und wenn ers fühlt, so ist er eine Ausnahme und kann nicht helfen. Der Welt fehlt – die Frau. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die vorher geschildert, sind die der weiblichen Massen, die allein in Frage kommen. Die Außerachtlassung der Frauenwünsche, Nöte, Bedürfnisse, der Frauenart, der Fraueninteressen schafft die meisten (vielleicht alle) sozialen Probleme der Männerwelt. Überall greift das Gesetz ein: in Ehe, Haus, Beruf, Bildung, die Wohnungs-, Nahrungs- und Erziehungsfragen, in Lohn und Vorwärtskommen, in Sittlichkeit und Unsittlichkeit, in Geburt und Grab und Erbe, in Freud und Leid, Leben und Tod. – Die Frau aber hat ihre Daseinsbedingungen niemals mitzubestimmen, und der Mann vermag ihr nicht gerecht zu werden. Deshalb braucht die Frau das Wahlrecht.

Der weibliche Wähler allein kann den Fraueninteressen den nötigen Nachdruck verleihen (the driving force). Ohne Wahlrecht sind alle Interessen heute wehrlos. Gebt den Frauen das Wahlrecht, und sie erringen gerechte Ehegesetze, gerechte Berufsgesetze, gerechte Sozialgesetze. Der weibliche Wähler trocknet die Sümpfe der Gesellschaft aus.

Das ist der Sinn der Suffragettebewegung. Fragt man die W. S. P. U., was sie will, antwortet sie: redress grievances, bring justice. Unrecht beheben, Gerechtigkeit bringen. Deshalb beschritten sie den Leidensweg der »militant tactics«. Siehe das Flugblatt von Mrs. Pethick Lawrence. The Sin of Self sacrifice. (Die Sünde der Selbstentäußrung.)


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