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Vetter Engelbrecht

Es war ein rechtes Weihnachtshaus. Das war es schon seit ein paar Tagen. Es bereitete sich auf das Fest, das im Anrücken war, wie eine Braut auf die Hochzeit. Zuerst war ein großes Putzen und Fegen gewesen, von oben herunter bis auf die breite Steinstaffel hinaus; dann waren die Fenster drangekommen, daß sie spiegelklar auf den Marktplatz hinuntergrüßen konnten, und daß man die gestickten Punkte in den lichten Vorhängen, die daran herniederwallten, von unten her zählen konnte. Darnach fing es in dem Haus an, ganz herrlich zu duften. Es war eine Mischung, dieser Duft. Es roch nach Harz und Tannennadeln, nach Honiglebkuchen und schließlich auch nach Kaffeegebäck verschiedenster Sorten, nach Heringssalat und seit heute auch nach einem großen Braten, obgleich die Küchentür ja eigentlich immer geschlossen bleiben sollte. So oft sie auf und zu ging, kam ein Strom von Düften heraus, die eigentlich noch verfrüht waren, denn sie galten dem folgenden Tag, nicht dem heutigen. Es war so Sitte im Haus, daß man möglichst viel im Voraus zurichtete, man war förmlich erfinderisch darin, die Arbeit von den Festtagen weg auf die Werktage zu schieben, an denen es ohnehin tüchtig zu schaffen gab, so daß es fast in einem hin ging. Wie gesagt, es war ein rechtes Weihnachtshaus, und man verstand sich zu freuen darin. Drunten in der Schreibstube saßen die Lehrlinge auf ihren hohen Sitzböcken und zogen den Duft durch die Nase ein, der zwischen dem Öffnen und Schließen der Türen da hereinkam. Und dann sahen sie einander an und lachten, ohne eigentlich zu wissen warum, nur weil Weihnachten war. Der grauhaarige Buchhalter stand vor seinem Pult und siegelte kleine Geldpäckchen ein, die er mit Überschriften versah, und das war nicht ein Geldzählen wie sonst, an gewöhnlichen Werktagen, sondern die Gold- und Silberstücke klirrten so lustig gegeneinander, daß auch ein Uneingeweihter hätte merken können, es sei ihnen eine Ehre und ein Vergnügen, eingewickelt und überschrieben zu werden. Herrn Bätzners Feder, die sonst etwas befehlhaberisch Kratzendes hatte (der ganze Mann hatte es an gewöhnlichen Tagen, nicht heute), spazierte so fröhlich in seinem Kontobuch herum, als ob sie ein Liebesgedicht aufzuschreiben hätte, was, wie jedermann wußte, einer Feder in Herrn Bätzners Händen streng untersagt war. Das innere Comptoir war leer, oder wenigstens wurde es immer nur auf Augenblicke besucht, wenn Herr Immermann, der Chef, aus dem Oberstock herunter kam, um irgend etwas Vergessenes zu holen. Er kam dann mit einem so heiteren Gesicht durch die Schreibstube gegangen, – und mit so raschen, federnden Schritten, daß man sich wohl hatte besinnen mögen, was ihm so besonders Vergnügliches über den Weg gelaufen sei, wenn nicht eben Weihnachten gewesen wäre und wenn das in diesem Haus nicht genügt hatte zur Erklärung für alle heiteren Gesichter. – Deren gab es im oberen Stock noch viel mehr. Zwei davon waren in der Küche. Sie gehörten der alten Köchin Walburga, die schon länger im Hause war, als sonst ein Mensch, Herrn Immermann ausgenommen, und dem kleinen Hilfsmägdlein Babette, das von allen Babettle genannt wurde. Walburga war eigentlich nicht die heiterste Art von Menschen, sie hatte eher etwas Grämliches in ihrem Wesen; aber dieses Grämliche kam nicht auf, es wurde von der allgemeinen Fröhlichkeit unterdrückt, so daß es höchstens unter der Asche ein wenig fortglosten konnte, und auch das war nicht sicher. Bei dem Babettle dagegen war es sicher, daß alles Fröhliche bis auf den Grund ging. Das sagten alle messingnen Türgriffe, die es geputzt hatte, und die alte kupferne Teemaschine auf dem Tischchen im Vorzimmer und die dicke Messingstange, die rings um den Herd herumlief. Sie wetteiferten alle miteinander in einem lustigen Glänzen, das nur von Babettles lustigem Gesicht übertroffen wurde.

Aber was war die Heiterkeit der Schreibstube und der Küche gegen die der Kinderstube und des Saals? Sie war nur ein schwacher Abglanz von ihr, ein letzter Ausläufer sozusagen. Das heißt, wenn ich Kinderstube sagte, so geschah das aus einer alten Gewohnheit heraus, weil Kinder des Hauses eben immer Kinder des Hauses bleiben, auch wenn sie junge Fräulein geworden sind und wenn sie als hochaufgeschossene Studenten nach Hause kommen und ihre ungefügen, langen Beine unter den Tisch strecken, an dem sie einst auf hohen Kinderstühlchen saßen und Milch aus Emailbechern tranken. Übrigens war der jüngste erst zwölfjährig, ein recht dünner, langer Schlacks »mit lappigen Gliedern wie ein junger Jagdhund«, sagte der Älteste, Viktor, der einen frischen Schmiß im Gesicht hatte und dem der Schnurrbart fröhlich keimte. (Leider war er nur ganz klein, der Schmiß nämlich, man mußte fast auf ihn aufmerksam gemacht werden.) Zwischen diesen Beiden, dem Ältesten und dem Jüngsten, gab es noch drei Geschwister, einen Bruder und zwei Schwestern. Sie saßen jetzt, zu dieser Vormittagsstunde zwischen zehn und elf Uhr alle an dem langen Tisch mit dem Wachstuchbezug bei einem ordentlichen Frühstück, und es ging nicht gerade still dabei zu. Geöffnete Koffer standen umher, Mützen und Mäntel lagen noch da und dort, denn zwei von ihnen, eben der Student Viktor und die älteste Tochter Ursel, waren erst vor einer halben Stunde heimgekommen, und niemand dachte jetzt an Aufräumen und dergleichen. Sie hatten einander so viel zu erzählen, daß nichts anderes dagegen aufkommen konnte. Eines war noch schöner als das Erzählen, das war Viktors Lachen. Sie waren alle einig, daß kein anderer Mensch so lachen könnte. Es war, als ob das ganze Haus sich nach diesem Lachen gesehnt hätte. Die Bilder der Vorfahren an den Wänden sahen mit erwartungsvollen Gesichtern herunter, um sogleich mitzulachen, wenn es anginge, das Klavier stand offen und war bereit, den fröhlichen Ton zurückzugeben, und alle Wände, Gänge und Treppen des Hauses waren in der richtigen Verfassung, ihn weiterhallen zu lassen. Das war nun auch schon im schönsten Gang. Nicht, als ob die andern nicht mitgelacht hätten, so ist das nicht zu verstehen. Aber sie waren der Chor, der einfiel, wenn Viktor anfing. Worüber gelacht wurde, das war nicht das Wichtigste an der Sache, daß und wie es geschah, das war das Schönste. Vater und Mutter sahen einander von Zeit zu Zeit kopfnickend an. Es war ja wohl nicht nötig, sich ernstliche Sorgen um Viktor zu machen, nun er da draußen war in der Welt, wenn er sein schönes, kindliches, lauteres, herzliches Lachen so heil und unbeschädigt mit sich zurückgebracht hatte. Es war wie ein Examen, das er mit 1a. bestand. Die Mutter besonders atmete immer leichter auf. Sie hatte sich doch einige Sorgen gemacht, das mußte sie sich nun gestehen. Aber wenn es so war, – ja da brach es schon wieder los, so unbezwinglich ansteckend, daß sie sich auf einen Stuhl setzen und mitlachen mußte, obgleich sie nicht wußte, warum. Sie hatte eigentlich drinnen im Saal zu tun, und wenn es recht zugegangen wäre, so hatte der Vater gleichfalls keine Zeit gehabt, mit den Händen auf dem Rücken am Fenster zu stehen und den Tisch zu übersehen. Du liebste Güte, was gab es noch zu tun, ehe es Abend wurde! Es war noch eine Bescherung für allerlei Schützlinge des Hauses vorzubereiten, die immer vor derjenigen der Familie vor sich ging. Denn das wird ja niemand einem so herzlichen Hause zutrauen, daß es nur an sich und die Allernächsten denkt. Nein, es sollen sich noch manche mitwärmen an dem Sonnenschein, der darin umging. Das war von jeher so gewesen und sollte immer so sein. Sie hatten hier im Hause gar nicht das Zeug, mildtätig oder barmherzig oder so etwas zu sein, sie hatten alle die alten Frauen, denen sie bescherten, geradezu gern, sie waren eigentlich befreundet mit ihnen. Wenn man nur an Frau Knorp dachte, die mit ihren fünf Buben kam, und der es immer, wenn man sie fragte, »Danke, erträglich« ging. Und an so manche andere. Sie freuten sich immer alle auf diese Bescherung, ich meine die Kinder des Hauses. Sie sangen dann ein Lied mit ihren frischen jungen Stimmen, und sie gingen dazwischen herum, wenn die Pakete aufgemacht wurden und ließen sich von alten Augen bestaunen, daß sie so gewachsen seien, und ließen sich geduldig von alten, zitternden Händen ein bißchen betasten und streicheln.

Ja, dafür gab es aber noch tüchtig zu tun. An die Hilfe der Jugend war dabei nicht recht zu denken, das wußte die Mutter schon. Die Kinder hatten ja alle noch ihre eigenen Geheimnisse, denen sie nachgehen mußten. Ja, eigentlich, wenn man es recht betrachtete: die Mutter wünschte nicht einmal, daß sie in den Saal hereinkamen, eh' es Zeit war. Sie sah die großen Söhne und Töchter immer noch als die kleinen Kinder vor sich, die mit dem Weihnachtsaufbau nichts zu tun haben sollten. Mochten sie nur recht fröhlich sein, so recht von Herzen, dann wollte sich die Mutter, so rund und dick sie auch im Lauf der Jahre geworden war, dort drinnen schon tummeln und allein fertig werden: die heiteren Stimmen, die hereinschallten, waren ihr Hilfe genug.

»Mutter, halt, ich muß dir noch etwas sagen.« Viktor erwischte sie eben noch an einem Zipfel ihres Kleides, als sie die Saaltür hinter sich zumachen wollte. Da kehrte sie noch einmal um. Wie groß er war! er überragte sie um Kopfeslänge. »Ich habe nämlich den Goltz eingeladen, die Feiertage bei uns zuzubringen. Ich dachte, ihr werdet nichts dagegen haben, da er ja mein Freund ist und da seine Heimat für ihn unerreichbar ist. Es ist solch ein netter Kerl, nicht, Ursel?« Ursel nickte lebhaft. Sie war jetzt eben ein paar Wochen mit in Heidelberg gewesen, wo Viktor studierte und hatte seine sämtlichen Freunde kennen gelernt. »Das will ich meinen, Mutter. Es muß lebhaft zugehen, wo er ist, er ist voller Einfälle, und alles muß sogleich ausgeführt werden, was ihm durch den Kopf geht.« Das war nicht ohne weiteres eine Empfehlung in der Mutter Augen; sie hätte auch am liebsten die Kinder für sich gehabt, besonders heute Abend. Aber was war da zu wollen? es ging doch allem vor, daß sie sich so recht wohl fühlten zu Hause, und daß sie sahen, man nehme an allem Anteil, was sie betraf, also auch an ihren Freunden. »Natürlich soll er kommen,« sagte die Mutter. »Wo ist er denn?« »O, er ist schon hier, wir haben ausgemacht, daß ich zuerst allein heimgehe und ihn anmelde. Er ist so fein in solchen Sachen.« »Ja, dann geh du und hol ihn!«

Damit wollte die Mutter nun endlich an ihre Arbeit entkommen. Aber jetzt kam der Postbote und brachte einen Haufen Pakete, die nur von ihr selbst in Empfang genommen werden konnten. Es gab ein großes Kopf-an-Kopf-drängen darum herum, jedes wollte sehen, wie die Poststempel und die Absender hießen und womöglich ein bißchen anfühlen, was wohl darin sei.

In all dem Tumult konnte der Vater ungestört einen Brief lesen, der an ihn gerichtet war und der ihm ein leises Kopfschütteln verursachte. Die Mutter fand einen Augenblick Zeit, nach ihm hinzusehen, und gleich wußte sie auch, daß etwas nicht gerade Angenehmes in dem Brief stehen mußte. Sie sah noch einmal hinüber, da wußte sie es noch sicherer. Der Vater runzelte die Stirn ein klein wenig, aber er war mehr verlegen, als ärgerlich, das stellte sie sogleich fest. »Was ist es?« »Lies,« sagte er. Helene, die zweite Tochter, hatte schon den Umschlag in der Hand. Sie war ein etwas kecker Backfisch mit krausem Haar. »O je, von Vetter Engelbrecht« sagte sie zu den andern. Es ist immerhin besser, daß er schreibt, als daß er kommt. Wenn ich mir vorstelle –« »Er schreibt, daß er komme, er« – der Vater zog die Uhr, »er muß bald kommen. In drei Stunden kann er hier sein.«

Es war gar nicht die Gewohnheit des herzlichen Hauses, daß es verstummte, durch die Zähne pfiff, an den Fingernägeln nagte und dergleichen, wenn sich ein Gast ankündigte. Es war ein so gastfreies Haus, als es nur sein konnte. Davon wußte mancher ein Wort zu sagen, dem es schon darin wohl gewesen war. Aber nun war eine Wolke über die Sonne gegangen, das konnte man deutlich sehen. Babette kam ins Zimmer, um ein Brett voll Gläser auf den Anrichtetisch zu tragen, und in der Hoffnung, wieder ein paar Augen voll Sonnenschein einzufangen und in die Küche mit hinauszunehmen. »Aber,« sagte sie nachher draußen zu Walburga, »es ist ihnen etwas über die Leber gekrochen, sie stehen herum, wie die Gänse, wenn's donnert.« Walburga verwies ihr natürlich solche unpassenden Redensarten über die Herrschaft; indessen merkte sie bald, daß es tatsächlich nicht viel anders war.

Ja, Vetter Engelbrecht lag auf den Gemütern, er warf seinen Schatten weit voraus. Er versalzte die Suppe in der Küche schon und brachte zu viel Essig an den Salat; er machte, daß der Primaner Max seinen Stuhl auf Ursels Kleid stellte, daß es, krach, einen Riß bekam. Er ließ den Freund Viktors, den Studiosus Goltz, in einem wenig günstigen Licht, nämlich ein wenig burschikos, ein bißchen reichlich burschikos sogar, erscheinen; er machte den Vater aufmerksam auf verschiedene Untugenden seiner Kinder, und die Mutter auf die Reizbarkeit des Vaters.

Er stand wie ein langer Gedankenstrich hinter jeder Freude auf heute Abend und auf morgen und übermorgen.

Man sah ihn geradezu schon aufs Haus zugehen in seinem langen schwarzen Rock, mit dem steifen Hut auf dem Kopf und mit der schwarzen Ledertasche in der Hand, aus der etwas Steifes, Ungemütliches, Kühles aufstieg. Man sah ihn mit seinem ausgestreckten Zeigefinger nach etwas hindeuten, einem Bild, einem Buch, einer hübschen Schleife, einer kleinen Brosche, die auf dem Weihnachtstisch lag, und hörte ihn sagen, daß so viel Armut auf Erden sei, und daß die Mission nicht ihren Aufgaben nachkommen könne, während in der Christenheit Luxus getrieben werde. Gleich hatten die Gaben etwas von dem Liebeszauber verloren, der auf allem ruht, was von den weißen Wachskerzen des Christbaums beschienen wird.

Viktor fand zuerst Worte. »Da kann ich ja dann gleich hingehen und dem Goltz sagen, daß er anderswo, meinetwegen im Kaiserhof, Weihnachten feiern möge. Denn er und Vetter Engelbrecht, nein, das geht nicht zusammen.« Er stellte sich ans Fenster und trommelte auf die Scheiben. Er konnte, so sonnig er war, doch auch recht übler Laune sein, der Herr Viktor.

Und die anderen sagten es nun auch. »Nein, das geht nicht zusammen.« Und dann redeten sie von früheren Gelegenheiten, bei denen sie Vetter Engelbrecht als Freudenstörer empfunden hatten.

»Wißt ihr noch, als wir auf dem Speicher tanzten?«

Ja, sie wußten es noch. Die Mutter wußte es auch noch, obgleich sie kein Wort dazu sagte. Sie hatten jugendliche Gäste gehabt, und sie hatten sich lange mit allerlei Gesellschaftsspielen unterhalten, bis auf einmal eines von ihnen sagte: »Wißt ihr was? es ist Vollmond und oben auf dem Speicher ist es taghell. Wir gehen noch hinauf und tanzen ein bißchen.« Einige der Jüngsten hatten es noch nicht gelernt. Aber was schadete das? denn jetzt sollten sie es gerade lernen. Sie halten eine Mundharmonika, die gab die Musik her, und dann tanzten sie und sangen dazu und waren aus der Maßen vergnügt. Der Vater hatte ein bißchen den Kopf geschüttelt. Er kam aus einem Hause, in dem die Frömmigkeit mit herb geschlossenen Lippen und würdevollen Schritten einhergegangen war, daran trug er nun immer noch. »Ob das nun richtig ist, daß wir das erlauben?« Aber die Mutter (die er gerade darum gewählt hatte, weil sie anders war, als er) sagte: »Laß sie doch nur zu Hause fröhlich sein, so müssen sie nichts draußen suchen. Fröhlichkeit ist stärkend wie Brot und gesund wie Äpfel,« und hatte ihn ermutigend angesehen, da hatte er sich auch mitgefreut. Ja, nach einer Weile waren sie beide auch auf den Speicher gestiegen und hatten zugesehen. Aber es dauerte nicht lange, so war Vetter Engelbrecht, der längst schlafen gegangen war, im langen grauen Schlafrock erschienen, wie ein Geist, und hatte der ganzen Gesellschaft gesagt, daß sie sich auf dem Weg des Verderbens befinde, und daß es ihm sein Gewissen nicht zulasse, hier zu schweigen. Er hatte die Jungen und die Alten verdonnert; und wenn er auch hier nicht Herr im Hause war und sie ihm nicht zu gehorchen brauchten, wenn sie nicht wollten, so war ihnen doch allen die Lust vergangen und sie hatten den Speicher und die ganze schöne Mondscheinbeleuchtung sich selbst überlassen.

Die lustige Helene (die mit dem krausen Haar) war damals nicht dabei gewesen, indessen hatte sie ein anderes Mal doch auch ihren Senf bekommen, denn Vetter Engelbrecht hatte ihr ins Album geschrieben: »Es ist Trauern besser, denn Lachen, denn durch Trauern wird das Herz gebessert.« Das war ihr zu anzüglich gewesen, denn sie lachte durchaus nicht immer; sie hatten hier im Hause alle auch ernste Zeiten, wenn es sich so fügte.

»Ja und dann macht er einen immer auf seine Sünden aufmerksam,« sagte Fritz, der Jüngste. Da mußten sie alle wider Willen lachen.

Denn er hatte ja allerdings an Fritzens Geburtstag, als dieser ihm (auf mütterlichen Befehl) seine Geschenke gezeigt hatte, dem Jüngsten die kalte Hand (er hatte immer feuchte, kalte Hände) auf den Kopf gelegt und gesagt: »Weißt du auch, liebes Kind, daß du so ein böses, schwarzes Herz hast?« Seither war Fritz ihm gram, denn er hatte das Gefühl, daß es Vetter Engelbrecht gar nichts angehe, was er für ein Herz habe.

»Ach Kinder,« sagte die Mutter, »laßt uns doch jetzt nicht ärgerlich sein, das paßt ja gar nicht zu Weihnachten.«

Ja, sagten sie, das passe auch nicht zu Weihnachten, daß Vetter Engelbrecht komme.

Sie machte aber doch noch einen Versuch, die Stimmung zu retten.

»Bedenkt doch, daß er ein so guter, wohltätiger Mensch ist,« sagte sie. »Er ist so von Herzen fromm und so gewissenhaft, gewissenhafter als wir alle hier.« »O Mutter, als du!« »Ach ja, ich bin es ja längst nicht genug, mit mir geht es immer wieder durch. Und dann hat er sein Amt aufgegeben, um ganz fürs Reich Gottes zu leben, er tut so viel Gutes.« »Ja, das soll er ja nur tun, aber hier brauchen wir ihn nicht.« – »Wenn er aber uns braucht?« Das hatte der Vater gefragt. Er hatte sonst noch gar nichts zur ganzen Sache gesagt.

Aber das Wort verzischte, wie ein Tropfen auf einem heißen Stein, in der Erregung ihrer Gemüter. Sie hatten sich so auf Weihnachten gefreut. Sie taten ja doch nichts Böses, im Gegenteil, sie wollten recht liebreich beisammen sein. Aber sie wollten nicht immer eine Kritik über sich fühlen, sonst war alle Harmlosigkeit hin.

Die Mutter machte seufzend die Tür zum Saal hinter sich zu. Wo war nun die fröhliche Hilfe, die von draußen herein zu ihr kommen sollte? das Lachen und Fröhlichsein der Kinder, die jungen Stimmen, die so einträchtig ineinander klangen? Es kam nur ein gedämpftes Murren durchs Schlüsselloch und zwischen den Ritzen herein: einmal ums andere hörte sie eine Tür gehen, dann war es still da draußen. Die Mutter machte sich daran, die Schüsseln für die Armenbescherung mit Äpfeln, Nüssen und Backwerk zu füllen. Es lagen ziemlich viele große Pakete umher, die dazugelegt werden sollten. Sie hatte sich so darauf gefreut, das alles auszuteilen. Es war alles mit Liebe und Verständnis nach den Bedürfnissen der Leute ausgesucht. Aber was konnte das nun helfen? Die, die sie gern am frohesten gesehen hätte, die waren es gerade nicht, und dann hatte sie auch wohl das Wort ihres Mannes gehört, das niemand sonst aufgenommen hatte: »wenn er aber uns braucht?« Sie wußte, ihr Mann hing an diesem Vetter. Er war der einzige männliche Verwandte von seiner Seite, der noch lebte, und er hatte seine Jugend mit ihm geteilt. Nur, er war dann auf die Sonnenseite des Lebens gekommen, während Vetter Engelbrecht immer im Schatten der strengen Gesetzlichkeit geblieben war, und – ja und es war wohl auch nicht besonders viel Liebe in seinem Leben gewesen. Er war Witwer; aber selbst als er verheiratet war, – puh, die Mutter mochte nicht daran denken, welch hölzerne Frau er gehabt hatte. Reich und aus guter, frommer Familie, aber so unendlich kühl und trocken. Und so völlig ohne Anmut dabei. Wie eine gedörrte Birne schon in der Jugend. Nein, von dieser Seite aus konnte ihm nicht viel Sonnenschein gekommen sein. Als die Mutter daran dachte, fühlte sie etwas wie Mitleid mit Engelbrecht. Aber sie verwies es sich: »Was, Mitleid mit ihm, der so unendlich erhaben über uns Weltkinder ist?« Es war wohl am besten, nun alles gehen zu lassen, wie es ging und sich tüchtig an die Arbeit zu halten. Das tat sie denn auch; aber es saß ihr dabei immer etwas im Halse, das weder herauf noch hinunterging. Als sie einen Korb voll rotbackiger Äpfel vor sich hertrug, der in der Ecke des Saals gestanden war, stieß sie mit dem Fuß gegen das tannenbekränzte Weihnachtstransparent, das jetzt beim Tageslicht nach nicht viel aussah, aber am Abend farbenprächtig und durchleuchtet dastand. Und da machte sich die lange Spannung, in der die Mutter nun gelebt hatte, darin Luft, daß sie dem Transparent, das heißt seinem Holzrahmen, noch einen kleinen, freiwilligen Stoß hinterher versetzte. Es trugen darauf zwei Engel ein blaues Band, in dem mit goldenen Buchstaben stand: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen? – und war etwa hier im Hause Friede auf Erden? Aber als sie das getan hatte, da erschrak die Mutter so sehr, daß sie sich hinsetzte und anfing zu weinen. So fand sie der Vater, der hereingekommen war, um ihr zu helfen, und der ihr nun auch hierin helfen mußte.

* * *

Drunten in der Schreibstube war es. Die Bücher waren zugeklappt, die Tintenfässer geschlossen und der Kassenschrank siebenfach verriegelt. Die beiden Lehrlinge saßen auf ihren hohen Schreibböcken, aber sie wandten den Pulten den Rücken und ließen die langen Deine baumeln. Auf dem dritten Bock, demjenigen von Herrn Bätzner, saß Fritz, der Jüngste. Es war am Nachmittag, es mußte nächstens Zeit sein, daß er zur »Bescherung der Hausfreunde«, wie man hier im Hause diese Feier hieß, hinaufgerufen wurde.

Man sah, es war ihm behaglich hier. Er konnte seinem Herzen Luft machen, es sah ihn niemand vorwurfsvoll oder bittend an: »Sei doch still, Kind,« wenn er von Vetter Engelbrecht sprach. Im Gegenteil, die beiden Lehrlinge hatten ihr größtes Vergnügen daran, sie stachelten ihn immer aufs Neue auf, weiterzuerzählen. Er hatte bereits alles gesagt, was er wußte, und er war nun eben daran, noch einiges dazu zu erfinden, was den steifen, pedantischen, engherzigen Mann noch ein bißchen steifer und engherziger machen sollte. Es war ihm eine Lust, das zu tun, denn heute abend mußte er sich zusammennehmen, da war es gut, sich vorher auszuleeren. Die Türe war nicht ganz geschlossen, denn Fritz mußte hören können, wenn man von oben rief. »War nicht eben jemand da draußen?« Robert, der ältere Lehrling, der mit den abstehenden Ohren und der Stumpfnase, hatte es gefragt. Sie horchten, aber da war alles still, und wer sollte auch draußen sein? »Mach nur weiter, Fritz.« – »Ach,« sagte der, »es verlohnt sich eigentlich nicht. Viktor hat gesagt, und da hat er ganz recht: Wenn das fromm sein soll, dann will ich lieber nicht fromm werden. Er ist ganz einfach ein Freudestörer, den Titel kann man ihm auf den Rücken schreiben, und damit fertig.«

Fritz saß da und ließ die Beine baumeln, wie die beiden andern; er hatte nun gesagt, was zu sagen war, und das war ihm eine große Erleichterung. Ja, er fühlte sich geradezu dem Vetter Engelbrecht freundlicher gesinnt, seit er sich über ihn ausgesprochen hatte, denn nun hatte er immerhin ein wenig gegen ihn gesündigt und hatte etwas gut zu machen.

»Da draußen war aber doch jemand,« sagte der jüngere Lehrling und hüpfte von seinem Bock herunter, um nachzusehen. »Ach laß doch,« sagte der ältere, »das kann uns doch einerlei sein. So etwas kann schließlich jeder hören.« Da ging draußen leise die Haustür ins Schloß und die drei hörten langsam sich entfernende Schritte. Es war ihnen irgendwie nicht ganz wohl. »Ich muß jetzt hinauf,« sagte Fritz, der plötzlich ein schlechtes Gewissen hatte und anderweitigen Anschluß suchen wollte. Als er aber an der Haustür vorbeiging, konnte er es doch nicht lassen, hinauszusehen, und, hilf Himmel, da sah er eine lange, schmale, schwarze Gestalt mit einer Reisetasche und einem steifen Hut, mit allem, was er den ganzen Nachmittag vor sich gesehen hatte, gerade noch um die Ecke verschwinden.

Droben rief es: »Fritz!« Der kam herauf, gliedlahm und schwer beladen. Und so ging er herum, still, pflichtmäßig, bedrückt, sang seine Stimme mit in dem Weihnachtslied für die alten Frauen, ließ sich geduldig von ihnen loben und streicheln, und sah so freudlos aus, daß es seiner Mutter Herz umwandte. Sie wußte aber nicht, sollte sie ihm lieber eine Ohrfeige oder einen Lebkuchen anbieten, weil sie nicht ganz ergründen konnte, was ihn so umherschleichen ließ: da ließ sie beides sein.

Sie hatte ohnehin, da der Abend herniedersank, ihre Sorgen besonderer Art.

Vetter Engelbrecht hätte längst hier sein müssen, aber er kam und kam nicht. Es war, als ob das Haus anfinge, sich nach ihm zu sehnen, so ungeliebt er bei einigen war. Es war, als ob sie erst aufatmen könnten, wenn er steif und kühl hereinkäme. Der Vater ging unruhig hin und her mit der Uhr in der Hand. Er hatte ihn nicht an der Bahn erwartet und machte sich nun Vorwürfe darum. Er machte sich auch zugleich noch andere. »Wir sind eine lieblose Gesellschaft,« sagte er. »Wie können wir Weihnachten feiern, und das von Herzen, wenn wir auslesen wollen, wer unter unserm Christbaum stehen soll und wer nicht?«

»Aber Vater, wir hatten ja jetzt alle im Sinn, sehr nett mit Vetter Engelbrecht zu sein. Und schließlich weiß er doch nichts davon, daß wir anfangs nicht so sehr jubilierten.« Das ist nicht ganz sicher, dachte Fritz, und da hielt er es plötzlich nicht mehr länger aus. Er wollte die Mutter auf die Seite ziehen und sein Herz erleichtern, aber da verschwand sie soeben wieder im Saal. »Viktor.« »Was, Kleiner? laß die Ohren nicht so sehr hängen, es ist doch immerhin Weihnachten.« »Ja, wenn du wüßtest,« Und da kam die Geschichte zum Vorschein, die Sitzung in der Schreibstube, alles, bis auf die schwarze Gestalt, die Fritz hatte nur um die Ecke herum verschwinden sehen. Babettle kam an den beiden vorbei, die auf einem Treppenabsatz außer Hörweite der andern standen und die Köpfe zusammen steckten. Sie zögerte ein wenig, dann sagte sie: »Ich weiß aber nicht. Herr Engelbrecht muß doch dagewesen sein. Ich sah ihn, als ich beim Bäcker war, aufs Haus zugehen. Die Türe war angelehnt, er brauchte nicht zu schellen.« Sie hätte gern noch mehr gesagt, aber Viktor unterbrach sie: »Ja, ja, Babettle, wir wissen es. Sei nur still und rede nicht davon, es ist ein – hm – ein kleines Mißverständnis.« Da sprang sie leichtfüßig die Treppe hinunter, denn sie hatte es eilig.

»Also, du, eine Tracht Prügel – hm? das wäre doch angemessen.« Aber Viktor unterbrach sich. (»Eigentlich müßten wir die dann alle haben,« dachte er.) »Ist es eine Art, Familiensachen da unten mit den Lehrlingen zu bereden? Und überhaupt.«

Der Jüngste sah sehr zerknirscht aus.

»Ja, nun sitzen wir bös in der Tinte,« fuhr Viktor fort.

Also schon »wir«, konstatierte Fritz im stillen. Das war aber nichts neues. Die Immermänner hielten immer zusammen. Sie konnten einander im Notfall eins versetzen, aber darum hielten sie doch zusammen.

»Nun geh einmal und trommle die andern zusammen. Aber rasch. Sie sollen – wart einmal, – sie sollen ins hintere Magazin kommen, und – halt, Kleiner, sie sollen Mützen und Mäntel mitbringen.« Fritz lief treppauf. »Und du, still, daß die Eltern nichts merken, es ist schon gerade genug für sie.«

Dann kamen sie an, der Freund Goltz war auch dabei. »Was ist?« Aber sie erfuhren es bald. »Ja, nun ist die Geschichte die, daß er wohl umgekehrt und wieder an die Bahn gegangen ist, natürlich Groll im Herzen.« »Eigentlich anständig von ihm; so stillschweigend umkehren.« »Ihr sollt sehen, morgen hat der Vater einen Brief von ihm, und was für einen.« »Ja also, wir müssen ihn wieder herkriegen, das mag sein, wie es will.« Das letzte sagte Viktor als der Älteste.

Da sahen sie einander bedenklich an. Zuerst fortwünschen, – nun herholen wie eine Herde armer Sünder. Aber es half ja wohl alles nichts. Sie mochten nicht daran denken, was sonst für ein Heiliger Abend würde. »Also los. Ich habe nachgesehen, es ist noch zwanzig Minuten bis zum Abgang seines Zugs.« »Wenn er nun aber nicht an der Bahn ist?« »Ach Unsinn, da ist er, wo sollte er sonst sein?« »Ja, dann heißt's aber trab trab.«

Da liefen sie zu sieben, Goltz war auch dabei, durch die Straßen. Mancher stand und sah ihnen nach, sie redeten kein Wort, sie trabten nur dahin. »Reichts?« »Ja, es muß.« Dann ging es wieder weiter. Da war der Bahnhof. Noch fünf Minuten. Und da war der Wartsaal. Er war gedrängt voll, der zweite auch. Aber sie sahen ihn – Gott sei Dank – trotzdem sogleich. Er stach von allen andern ab, stand mit der Reisetasche in der Hand in einer Ecke und sah vor sich hin. Da klopfte ihnen aber doch das Herz, stark klopfte es ihnen. Er sah so hinfällig aus, er sah so aus, als ob er krank wäre. Das hatten sie nie zuvor an ihm bemerkt. Daran waren sie wohl schuld? sie rechneten sich alle dazu. Sie schoben sich näher, er sah sie nicht. Nun mußte er doch aber an seinen Zug gehen? der stand wohl schon draußen. Aber er rührte sich nicht. Ganz verloren stand er da und hielt seine Tasche in der Hand. Sie sahen, daß er die Lippen bewegte, aber es kam kein Ton von ihnen. Wenn sie doch gewußt hätten, was er sagte. Nichts Freudiges sicher, aber das war ja auch nicht gut möglich. Da hielt es Ursel plötzlich nicht länger aus, hierzustehen und ihm zuzusehen. Sie legte eine Hand auf seinen Arm. (Das hätte sie sonst nie getan.) »Vetter Engelbrecht!« Der schrak zusammen, daß ihm die Tasche entfiel. Gleich wurde sie von eifrigen Händen aufgehoben. Sie stritten sich wortlos, wer sie halten dürfe, denn sie wußten nichts zu sagen. Aber sie umringten ihn und hatten so bittende Gesichter. »Komm wieder mit uns!« sagte Ursel und faßte seine Hand. Das Mütterliche regte sich in ihr, denn er sah so unglücklich aus, so, als ob er in Tränen ausbrechen möchte, wenn sich so etwas bei Vetter Engelbrecht auch nur von ferne denken ließe.

»Ja,« sagten die andern ermutigt, »komm.« Sie hätten ja eigentlich viel zu sagen gehabt, Entschuldigungen, Bitte um Verzeihung und dergleichen, besonders Fritz hatte sich so etwas in Rechnung genommen. Aber nun genügte es doch vielleicht, wenn er mit andern sagte: »Ach ja, komm!« Er blieb zwar ein bißchen in der Hinterhut, denn man konnte ja doch noch nicht wissen, wie es ablief.

»Wir können sonst nicht Weihnachten feiern,« sagte Ursel, und das bejahten alle.

»Ach Kinder, ach Kinder,« sagte Vetter Engelbrecht mit haltlos zitternder Stimme. »Was wollt ihr mit mir, ihr wißt ja, –« da brach er ab und stöhnte leise. Er war so vernichtet in diesen Saal hereingekommen, gerichtet in aller seiner Heiligkeit. Er war in einer Ecke gestanden und hatte das Leben um sich herumfluten lassen, wie ein Betäubter war er dagestanden. So also sah es aus mit ihm? Freudenstörer, Freudenstörer! Sie wollten nicht fromm werden, wenn das fromm sein hieße, zu sein, wie er war. Er war gekommen, um Weihnachtslieder singen zu hören, fröhliche Gesichter zu sehen, die er ja trotz allem brauchte, und nun hatte ihn Blitz und Donner des Gerichts empfangen. Ach, wo sollte er hingehen? es graute ihm vor seinem leeren Heim, hierbleiben konnte er auch nicht. Er glaubte, in alle Ewigkeit hier stehen zu müssen, vernichtet durch ein Kinderwort. Ja, was half es nun, daß er sich immer gemüht hatte, nach Gottes Geboten zu leben? Das half gar nichts, er konnte nicht einmal das ABC davon. Er war ein Freudestörer, das stand um und um auf ihm geschrieben, und er gehörte nicht unter einen Christbaum.

Wie er die sonnige Familie liebte in seinem trockenen Gemüt! wie es ihn zu ihr hinzog! Und nun war er ausgeschlossen. Ganz stumpf und dumpf lag es auf ihm. Und da geschah nun plötzlich das Unglaubliche. Da standen sie um ihn herum und bettelten: »Komm mit!« Wie war das möglich? wie konnten sie das?

»Ach Kinder, Kinder,« sagte er, »laßt mich und seid fröhlich ohne mich. Ich – ich habe nicht gelernt, es zu sein, ich habe nur gelernt, andern die Freude zu stören.«

»Du solltest Prügel bekommen,« fuhr Viktor den Jüngsten an. Er konnte diese bittere Klage, die in diesen Worten lag, nicht ertragen. Sie waren hergekommen, um sich schelten zu lassen. Sie hatten die Absicht gehabt, jede Predigt, und sei sie noch so hart, geduldig anzunehmen und dann den Vetter zu bitten, doch mit ihnen zu gehen, weil sie sonst zu Hause nicht mehr froh sein konnten, besonders die Eltern nicht. Und nun hatte er nichts, als Trauer über sich selbst. Er war am Ende doch ganz anders, als sie wußten. »Nein, laßt ihn,« sagte er, »ich habe das hören müssen; es ist ja« – er sah hilflos von einem zum andern – »es wird ja wohl wahr sein.«

* * *

Daheim saßen im Saal die Eltern. Das heißt, sie saßen jetzt einen Augenblick beisammen, dann ging bald das eine, bald das andere hin und her, ordnete noch etwas, setzte sich wieder, ging dann wieder ans Fenster und horchte hinaus. Sie waren fertig mit den Zurüstungen, der Baum mußte noch angezündet werden, das war alles. »Wo sie nur stecken?« fragte die Mutter zum zehntenmal. »Jetzt fortlaufen,« grollte der Vater, »ungefragt und ungesagt. Liebe Frau (er pflegte liebe Frau zu sagen, wenn er unzufrieden war), liebe Frau, ich fürchte dennoch, wir lassen ihnen zu viel Freiheit. Ich fürchte sehr, da stimmt etwas nicht mit unserer Erziehung. Wer weiß, ob nicht Vetter Engelbrecht mehr Recht hat, als wir denken.« So, nun war er gut im Zug, so recht in der Stimmung, den Baum anzuzünden. Er konnte ja nun den fehlenden Vetter ersetzen heute Abend, denn der war es ja, der ihn so düster dreinsehen ließ. Ein andermal hätte er an ein fröhliches Geheimnis gedacht und die Kinder gewähren lassen. Die Mutter stand am Fenster. Wenn sie doch nur kämen. Oder wenn doch nur die Hausglocke erklingen wollte und der Erwartete einträte. Dann würde alles gut sein. Horch, da ertönten junge Stimmen, heitere, lachende. Sie sprachen durcheinander, sie erklangen so froh, wie am Morgen. Es war, als hätten sie einen Druck, der auf ihnen lag, in die Nacht hinausgetragen.

Gleich darauf waren sie im Kinderzimmer. »Vater, Mutter, wo seid ihr?«

»Hörst du, Mann, sie rufen uns, sie haben ein gutes Gewissen. Was sie auch vorhatten, es war sicher etwas rechtes.«

Ach ja, das war es, das konnten sie wohl sehen, als sie einen Spalt der Türe öffneten und heraussahen. Der Vater war um eine Kopfeslänge höher als die Mutter, er hatte die Hände auf ihren Schultern und sah über sie hinweg. Es war wohl der Mühe wert, was sie da zu sehen bekamen. Eine Schar großer Kinder – wie blühend und groß und frisch sie alle waren! – mit so christtäglichen Gesichtern, als man nur wünschen mochte (auch Freund Goltz war dabei und hatte eines), um Vetter Engelbrecht her, der ein Gesicht hatte wie ein Kind. Wenigstens kam es ihnen im Vergleich zu Vetter Engelbrechts früheren Gesichtern so vor. Geschäftige Söhne, die ihm Mantel und Hut abnahmen, eine Ursel, die mit heißem Kaffee kam, und eine Helene, die frischgebackene Brezeln dazu hertrug, ein Fritz der im Hintergrund des Zimmers einen Purzelbaum schlug vor lauter Herzenserleichterung, und ein Vetter Engelbrecht, der kopfnickend sagte, daß er das auch schon gekonnt habe. Es kam ihm selber so erheiternd vor, daß er das gekonnt habe, daß er sich verschluckte und hustete (denn seine Muskeln waren das Lachen nicht gewöhnt) und daß sie ihm Schläge auf den Rücken gaben. Sie schlugen kräftig zu vor lauter Freude, daß er so menschlich war, sie schlugen lauter Liebe und Freude in ihn hinein. »Ihr Grobiane!« sagte der Vater, der vollends herausgekommen war und dem die Freude aus den Augen leuchtete. »Nein, laß sie,« sagte der Vetter, »sie haben mich in die Lehre genommen, ich habe so vieles nachzuholen.« »Sieh einmal zu, ob Vetter Engelbrecht krank ist,« sagte der Vater drinnen zu seiner Frau, »er ist so merkwürdig mild. Ich sah ihn noch nie so.«

Die Mutter zündete soeben die Lichter hinter dem Transparent an und sah mit Dank im Herzen die Worte erglänzen, die darauf standen. »Ich glaube im Gegenteil, daß er daran ist, gesund zu werden, wie er noch nie war,« sagte sie. »Es ist Zeit, nun laß sie hereinkommen,« draußen war ein Gemurmel von vielen Stimmen. Die aus der Schreibstube und die aus der Küche waren dabei, es war eine Flut von freudigem Warten da draußen versammelt. Und dann ließest du dich über diesem Weihnachtshause nieder, stille Nacht, heilige Nacht. Du brachtest denen, die sich dir auftaten, den Frieden auf Erden, du führtest aus dem Schatten, was nach deinem Lichte hin begehrte, du machtest alte Herzen kinderfroh und junge voll Seligkeit. Du ließest, wie du das immer tust, du gesegnete Nacht, die Liebe Königin sein über allen Glauben und alle Hoffnung und alles Gesetz hinaus.

»Siehst du,« sagte Vetter Engelbrecht zu Fritz, mit dem er eben vor dem Transparent stand. (Die Bescherung war vorbei und sie gingen alle zwanglos untereinander herum.) »Siehst du, der Mann, der da abseits steht, in einem dunklen Mantel gehüllt, weg von den Fröhlichen, und ihnen nur zweifelnd zusieht, der war ich. Und weißt du, wer mir den Mantel ausgezogen und mich da hineingeführt hat?«

»Ich?« Fritz fragte es nun doch ein bißchen zaghaft. Er wußte immerhin von Viktor her, daß er eigentlich etwas verdient hätte. Er sah den Vetter fragend an.

»Ach, Kind,« sagte der, wir können es nicht auseinanderhalten. Es wird doch in euch allen das Christuskind gewesen sein.«


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