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Bubi

In der Dachrinne saß eine Amsel und sang. Sie sang über die erwachende Stadt hin, in das Morgengrauen, in den leichten Nebel, der aus dem Talgrund aufstieg, in die summenden Geräusche des werdenden Tages hinein. Ein Lastwagen fuhr am Hause vorbei, dann ein leichtes Bauernwägelein, das rosige Ferkel geladen hatte, ein Bäckerjunge kam pfeifend vorüber, ein Hoftor wurde aufgeschlossen und fiel klirrend wieder zu und ein schwerer Männerschritt hallte auf dem Pflaster und verlor sich. Und die Amsel sang über das alles hin. Es war Frühling. In den Vorgärtchen der Häuser in der Vogelsangstraße blühten die Syringen, die Pyrrhussträucher standen in ihrem brennenden Rot, und vor einem der Häuser wiegte sich eine schlanke Birke und ließ sich den Morgenwind durch ihr lichtgrünes Haar wehen. Das war dasselbe Haus, in dessen Dachrinne die Amsel sang und hinter dessen Giebelfenster Fräulein Helene Keller erwachte und sich auf ihren Tag besann. Sie hatte nämlich einen Morgentraum gehabt, gerade vor dem Erwachen, und nun hatte sie einige Mühe, sich in der veränderten Wirklichkeit zurechtzufinden. Im Traum hatte sie ein Kind bei sich im Bett gehabt, das hatte sein weiches, flaumiges Köpfchen dicht an sie geschmiegt und sie hatte sich gar nicht darüber gewundert, sondern es mit einem unendlich warmen Frohgefühl in die Arme geschlossen. Und dann hatte das Kind angefangen zu lachen, mit einem hellen, klingenden Stimmchen, so unwiderstehlich lustig, daß sie mitgelacht hatte, ohne zu wissen warum. Das war der ganze Traum, es war nicht viel Handlung darin, aber desto mehr Stimmung. Und diese wollte nicht vergehen, als das Lachen allmählich in den Amselgesang überging und das Fräulein zu sich kam und entdeckte, daß weit und breit kein Kindchen war, daß es bereits sechs Uhr geschlagen hatte und daß sie erste Verkäuferin in C. Ch. Weckerles Geschäft, Weiß- und Wollwaren und Kinderkonfektion, war.

Das heißt, das große Frohgefühl verlor sich wohl, aber an seine Stelle trat ein inniges und weiches Verlangen nach dem Weiterträumen und, als dieses durch den strikten Befehl zum Aufstehen, den das Pflichtgefühl erteilte, abgeschlagen war, eine Art Heimweh nach irgend etwas, das sich nicht recht benennen ließ. Aber dazu hatte das Fräulein keine Zeit. »Also heut kommt der Strumpfwarenreisende,« sagte sie zu sich selbst, als sie an den Waschtisch trat und anfing, sich mit frischem Wasser zu überschwemmen. »Und daß ich's nicht vergesse, eine Auswahl von Klöppelspitzen nach Hindererstraße achtzehn, zwei Treppen, zu schicken. – Also heut abend der Lichtbildervortrag, der fängt gleich nach Ladenschluß an.«

Aber auf einmal merkte sie, daß sie mit dem Handtuch in der Hand dastand und auf das klingende Lachen des Traumkindes horchte. Was hatte es auch für ein warmes, weiches Köpflein gehabt! – »Ach, dummes Zeug, kommen Sie gefälligst zu sich, Fräulein Keller!« Da ging sie an das breite Fenster und zog den grünen Rolladen, der bis jetzt nur zwei Handbreit Licht hereingelassen hatte, sehr energisch in die Höhe, daß die Amsel erschreckt aufflatterte und verstummte. Aber gleich darauf setzte sie sich in die Birke und sang von neuem.

In die Giebelstube aber flutete nun das volle Morgenlicht herein und tat sein Möglichstes, die Träume zu vertreiben. Das war auch gut, denn das Fräulein hatte keine Bedienung, als seine eigenen flinken Hände und es mußte sich rühren, wenn alles sauber und in Ordnung sein sollte in der kleinen Häuslichkeit, ehe ihre Besitzerin an das eigentliche Tagewerk ging. Das aber mußte sein. Um es nebenbei zu sagen: wenn im Geschäft alles drunter und drüber ging, die Kunden anspruchsvoll und krittelig waren und der Prinzipal verstimmt (das kam nämlich vor), dann brauchte Fräulein Keller nur in ihre Tasche zu greifen, wo der Schlüssel zu ihrer Stube steckte. Gleich kam etwas wie Ruhe über sie, denn dorthin durfte ihr keiner von all den Quälgeistern folgen. Sie brauchte ihn nur ins Schloß zu stecken: auf mit der Tür und wieder hinter sich zu, dann war sie geborgen. Das sah sie mitten im Umtrieb vor sich: den Blumentisch mit den grünen Blattpflanzen, das Bücherbrett, die alte Chaiselongue, die noch aus dem Elternhaus stammte und die einen neuen Teppich bekommen hatte, die Bilder an den Wänden. Es war eine Art Heimat, was ihr der Schlüssel aufschloß. Aber es mußte alles in Ordnung sein drinnen, sonst hatte der Schlüssel seine ruhestiftende Macht verloren.

Als sie am Kaffeetrinken war, kam der Briefträger. Er war ein guter Freund von ihr, er war aus dem gleichen winzigen Landstädtchen wie sie, droben im Schwarzwald gebürtig. Wenn sie einander begegneten, grüßten sie sich mit einem kleinen Lachen wie ein Stückchen Heimat. »Aus Zwerenberg,« sagte er und legte einen Brief hin. Das durfte er sich schon erlauben, daß er das sagte, denn der Name hatte für sie beide einen guten Klang. Wenn sie ihn nannten, sahen sie einen holperigen Marktplatz vor sich, den alte Giebelhäuser umgaben, einen Röhrenbrunnen, Gäule davor, die aus dem steinernen Trog getränkt wurden, einen Kaufladen, dessen Türglocke in atemloses Bimmeln geriet, so oft jemand aus und einging, ach, noch vieles – und rund herum den Wald, still, nicht an den Wald denken. Hatten wohl die Tannen jetzt ihre grünen Spitzen? Sie dachte aber doch noch an ihn, als der Briefträger schon wieder mit schweren Tritten die Treppe hinunterstieg. Der hatte sich auch seine Frau dort droben geholt. Der hing auch noch an der alten Heimat.

Der Brief war von der Schwester, die in dem Heimatstädtchen lebte. Sie war an einen Sattler verheiratet, hatte ein kleines Lädchen zu besorgen, einen Hausgarten, fünf Kinder, eins war wieder unterwegs. »Du hast es gut,« schrieb sie. »So ohne Sorgen und ganz für dich. Wenn du Feierabend hast, so hast du Feierabend. Den Sonntag auch. Wenn ich da an mich denke; nie ist man fertig und dabei immer der Gedanke ans Auskommen. Dem Bielbauern hat man vergantet, da ist uns auch Geld hin für zwei Kummet und ein Chaisenpolster. Der Karl schafft sein Sach, soviel er kann, da müßte ich lügen, wenn ich eine Klag' hätte, aber voran kommt man nicht, es ist kein Geschäftsgang. Der Doktor hat auch wieder gekostet, weil der Hugo und das Marieke die roten Flecken gehabt haben und böse Augen dazu. Aber man zahlt es gern, wenn sie nur wieder gesund werden, man gäbe ja doch keins her, um gar kein Geld. Auf das Kleine ist mir's oft angst; man ist doch recht geschoren, solang sie so klein sind. Wiewohl der Karl sagt: wenn sie allemal da sind, sind einem die kleinsten die liebsten. Was ich sagen wollte: sei nur froh, daß du den Schreiner Fuchs nicht genommen hast. Er sauft, da hättest du auch nichts machen können. Du hast es lang gut so. Wenn du etwas tun willst, weil du es doch gesagt hast, so teile ich dir mit, daß es mir an besseren Kittelein für die erste Zeit ziemlich fehlt, sie haben sie alle fünf angehabt, da sind sie halt auch hin. Es grüßt dich herzlich deine treue Schwester Emilie.«

Das Fräulein las den Brief zwei- oder dreimal. Merkwürdig, so stark sie sich auch Mühe gab, zu denken, daß sie es so viel besser habe als die Schwester, sie brachte es nicht recht so weit. Nicht daß sie sich an ihre Stelle gewünscht hatte, das nicht gerade. Aber es war doch ein Reichtum in dem arbeits- und segensreichen Leben, ein Reichtum, den sie nicht hatte. »Aber alles kann man auch nicht haben,« entschied sie dann und machte, daß sie auf den Weg kam, denn es war ein Viertel vor acht Uhr und der Weg nicht gerade nah. Um acht Uhr aber mußte sie im Geschäft sein. Erstens war sie selber pünktlich gewöhnt und zweitens hatte sie auch den jüngeren Fräulein im Geschäft ein gutes Beispiel zu geben. Sie pflegte Schlag acht Uhr durch die Einfahrt des großen Geschäftshauses in den kleinen, halbdunklen Ankleidungsraum einzutreten und gleich nachher hing ihr wohlbekannter dunkelblauer Mantel an seinem Haken und das weiche Hütchen dabei. Sie war kein Geßler, aber die leichtsinnigen jungen Dinger, die immer Gründe zum Zuspätkommen hatten, drückten sich doch ein bißchen scheu um die Ecke in den Laden heraus, wenn der Hut schon da hing. Sie konnten gar nicht schnell genug nach einem Staubtuch greifen oder nach einem Federwedel, denn mit diesem Werkzeug in der Hand war es ihnen leichter, dem ruhigverwunderten Blick zu begegnen, den Fräulein Keller auf sie zu richten liebte. Ordnung mußte ja freilich sein, aber du lieber Himmel, es kam so vieles dazwischen – und dann gingen auch nicht alle Uhren in der Stadt gleich. Fräulein Kellers Uhr freilich, die ging das ganze Jahr hindurch auf die Minute genau. Das, dachten die jungen Mädchen aber, werde indessen auch nicht immer so gewesen sein. Wenn sie einmal dreißig waren, – aber puh, dann waren sie hoffentlich nicht mehr im Geschäft, sondern ganz wo anders.

An diesem Morgen aber kam der blaue Mantel und Hut erst fünf Minuten nach acht Uhr an seinem Platz. Seine Trägerin machte sich jedoch nichts daraus, die Letzte zu sein. Sie ging mit merkwürdig aufgehelltem Gesicht umher und sah eigentlich viel jünger aus als sonst. Als das kleine Lehrmädchen, das die Schaufenster zu putzen hatte, mit einer großen Schüssel voll Wasser über einen Besen stolperte, der noch im Wege stand, und es eine Überschwemmung gab, sagte sie lächelnd: »Hoppla, Minele, diesmal hättest du können naß werden.« Das war aber ein Witz, denn das Minele triefte wie ein begossenes Hündlein. Aber es lachte dennoch ganz beglückt, denn je nachdem hätte der Spruch auch anders ausfallen können.

Das Fräulein aber trat einen Augenblick unter die Ladentür und sah die Straße hinauf und hinunter. Hier war nichts vom Frühling zu sehen, aber er lag ja dennoch in der Luft; man spürte ihn in allen Gliedern. An dem Stück Himmel, das zwischen den Häusern sichtbar war und das ein ganz lichtes, blasses Hellblau hatte, hingen ein paar rosafarbige Wölkchen, die lachten mutwillig auf die Geschäftsstraße herunter und stießen einander an, weil es lustig war, im Blau zu schwimmen. Drüben über der Straße, vor dem Gasthaus zum Ritter, standen seit heute früh ein paar Oleander in Kübeln, die über den Winter im Keller gewesen waren, die glänzten mit ihren nassen, dunkelgrünen Blättern in den Morgen hinein und tranken die linde Luft. Der Hausknecht hatte sie tüchtig übergossen. Das war alles, was Frühlingsmäßiges zu sehen war. Aber das Fräulein hatte unterwegs noch ein Stück davon eingefangen und mitgenommen.

Als sie aus dem Haus getreten und über die Straße gegangen war, da saß gerade gegenüber auf dem Lattenzaun des Nachbargärtchens rittlings ein blondes Bübchen in rotem Sweater und schwarzem Lederschurz. Es hatte eine Haselgerte in der Hand und hieb damit auf das Holz ein, als sei das sein Gaul, das ihn in die Weite tragen müsse, und sang dazu mit einem merkwürdig hellen Stimmchen:

»Und wenn der große Fritze kommt
Und schlägt nur auf die Hosen,
So läuft die ganze Reichsarmee,
Panduren und Franzosen.«

Da tat Fräulein Keller etwas, das der Amselgesang und das Traumkind und der Brief miteinander zuwege gebracht hatten, denn sonst wäre es ihr nicht so leicht passiert: sie blieb stehen und hörte dem kleinen Buben zu, und als eine Pause in dem Gesang eintrat, sagte sie, wenn auch mit einem leichten Herzklopfen: »Kannst du aber schön singen! Wer hat dich denn das Lied gelehrt?« Das Bübchen sah von seinem Roß herab ein bißchen erstaunt auf das Fräulein. Sie hatten einander noch nie gesehen, denn es war erst vorgestern mit seiner Mutter hier eingezogen. Es hatte einen steil aufstehenden Haarschopf über der merkwürdig hohen Stirn und blaue Augen, die aus tiefen Höhlen heraus glänzten. »Der Bäckerbub in der Seestraße, wo wir vorher gewohnt haben,« sagte es nach einem Augenblick prüfenden Beschauens. »Er singt es immer, aber die Mutter sagt, er singe es scheußlich falsch.« – »Und du, du singst es richtig?« fragte Fräulein Keller. – »Natürlich,« sagte das Bübchen. »Die Mutter kann es auch singen, sie hat es vom Bäckerbub gehört, da hat sie mich's richtig gelehrt. Wenn es falsch ist, zerreißt es ihr die Ohren.« – »So, so!« Da rief oben aus einem Fenster eine Stimme heraus. »Bu – bi,« rief sie und das Bübchen kletterte von seinem Sitz herunter und lief ins Haus, ohne sich noch einmal nach dem Fräulein umzusehen. Das stand noch einen Augenblick tiefsinnig da und besah sich die leere Stelle. Der Zaun hatte ein Loch, heißt das, es waren zwei Lattenstücke oben abgebrochen, das gab eine Lücke, groß genug, daß so ein schlankes Bürschchen darin sitzen konnte wie in einem Sattel. Irgendwo schlug eine Uhr, da raffte sich das Fräulein zusammen und ging in eiligem Geschäftsschritt seines Weges.

Mehr war es nicht, das war das ganze Ereignis. Aber es wirkte dennoch so wunderlich nach, durch den ganzen Morgen hindurch.

Der Strumpfwarenreisende kam und Fräulein Keller sah mit dem Prinzipal seine Musterkoffer durch, wählte, bestellte, verhandelte über beliebte und unbeliebte Fabrikate, war ganz bei der Sache, wie man das an ihr gewöhnt war, und hatte dennoch etwas Heimliches im Herzen, ein Traumgefühl, ein Verlangen, irgend eine Frühlingssehnsucht, die ihr die Glieder schlaff und weich machte und das Herz klopfen ließ.

Als sie um zwölf Uhr nach Hause ging, stand das Büblein wartend vor dem Gartentor und sah die Straße hinunter. Es wallte etwas in ihr auf, denn sie meinte eine Sekunde lang, daß sie gemeint sei; aber das verwarf sie sogleich wieder und es war ja auch natürlich nicht der Fall.

Das Bübchen schoß aber einen glänzenden Strahl aus seinen blauen Augen nach ihr hin und sagte ganz von selber: »Ich warte auf meine Mutter. Sie bringt mir eine Schiefertafel mit um meine zwanzig Pfennig.« – »So,« sagte Fräulein Keller, »woher hast du denn zwanzig Pfennig?« Da erzählte das Bübchen, daß es das Geld von seinem Freund, dem Kutscher des Herrn Doktors in der Seestraße, bekommen habe, damit es sich ein Abschiedsgeschenk dafür kaufe, und Fräulein Keller fragte ein wenig schüchtern: »Möchtest du auch Griffel zu der Tafel? Ich habe droben in meiner Stube noch drei, es sind blaue und silberne Papierchen drum. Wenn du sie willst, dann bringe ich sie dir morgen früh mit herunter.« Sie sah das Bübchen erwartungsvoll und schier ängstlich an, denn wenn es nein sagte, dann wagte sie so etwas im Leben nicht mehr; es war so schon ungewöhnlich genug, es war ihr nur, als müsse sie etwas verschenken. Da nickte das Bübchen zustimmend und ein bißchen gnädig. Denn es wollte ja schon gern die Griffel haben, aber darum gab es noch keine Gunst her.

Um dieselbe Zeit kam um die Ecke von der Heidestraße her eine junge Frau in schwarzem Rock und weißer Bluse, die trug eine Ledermappe und schwenkte sie, als sie das Bübchen sah und rief wieder, wie am Morgen, »Bu – bi« mit einer Stimme, in der Singen und Jauchzen lag und Stolz und Trost. Da schoß der kleine Kerl davon wie ein Pfeil und jubelte: »Mutter!« und Fräulein Keller sah, wie er beim Springen das schlanke Fußwerk in die Luft warf und wie die Frau den Buben in den Armen auffing. Dann trat sie ins Haus; es war ihr schier ums Weinen und sie stampfte mit dem Fuß auf, denn sie ärgerte sich über sich selbst.

Es vergingen ein paar Tage. Dann kam einmal ein Sonntagabend, an dem das blonde Bübchen mit dem Fräulein oben zum Giebelfenster hinaussah. Fräulein Keller war vom Spaziergang heimgekommen, den sie heute ausnahmsweise ganz allein gemacht hatte. Sie hatte schon auch Bekannte, aber es war ihr gar nicht ums Reden gewesen. Sie war zwischen jungen Saatfeldern hingegangen und hatte Lerchen aufsteigen und sich im Blau verlieren sehen und hatte noch ihr Singen vernommen, als sie schon verschwunden waren. Dann war sie durch ein hellgrünes Gehölz gekommen, hatte einen Strauß von Schlüsselblumen und Knabenkraut gepflückt und war singenden Mädchen begegnet, die Hand in Hand gingen, wohl fünf oder sechs nebeneinander. Auf einem Baumstamm waren junge Burschen gesessen am Waldrand und einer blies auf einem Tulpenblatt eine sehnsüchtige Melodie. Weiße Wolken zogen am Himmel dahin und flossen zusammen, um miteinander zu wandern, und das Fräulein hatte, als es gegen Abend nach Hause kam, ein Verlangen nach irgend einer Gemeinschaft, in der es daheim sein könnte.

Da stand das Bübchen in einem weißen Anzug unter der Gartentür. Fräulein Keller hatte sich soeben besonnen, ob sie einen Kreis von Bekannten, den sie sicher war anzutreffen, aufsuchen solle. Aber sie entschloß sich anders. Denn es erschien ihr köstlich, das Bübchen eine Weile für sich zu haben und die Freundschaft war nun schon soweit gediehen, daß sie die Anfrage wagen konnte. Die Mutter erlaube es schon, sagte der kleine Kerl. Sie seien miteinander spazieren gewesen und jetzt müsse sie noch einen großen Brief schreiben. Sie müsse ihn nur anrufen können, das habe sie gesagt. Da versicherte Fräulein Keller, daß man von ihrem Fenster aus jeden Ton höre, denn sie hatte in den letzten Tagen manchmal die junge Frau, die Witwe und Klavierlehrerin war, ihr Bübchen rufen hören, immer in demselben Ton, der wie ein ganzes Lied voll Wonne und Schmerzen war.

Da saß nun das Bübchen auf dem Fenstersims und sah mit dem Fräulein über die Stadt hin. Sie zeigten einander die Aussicht, erkannten Türme und besonders hervorragende Dächer, sahen einer Wolke nach, die aussah, wie ein Luftschiff und sich dann in einen riesigen Eisbären verwandelte und aßen einträchtig ein Stück Kuchen miteinander.

In Fräulein Kellers Herzen war ein wunderlich aufgerührtes Empfinden.

»Wenn du mein wärest, wenn du mein wärest,« dachte sie an einem fort. Das war ihr sonst noch nie geschehen. Das war seit jenem seligdummen Traum. Sie hob das Bübchen vom Sims herunter und setzte sich mit ihm auf die Chaiselongue. Dort spielten sie Rotkäppchen und Wolf.

»Großmutter, warum hast du so große Augen?«

»Daß ich dich besser sehen kann.«

»Großmutter, warum hast du so große Ohren?«

»Daß ich dich besser hören kann.«

»Großmutter, warum hast du so ein entsetzlich großes Maul?«

»Daß ich dich besser fressen kann.« Das letzte wurde mit einem furchtbaren Brummen begleitet und dann stürzte sich der Wolf auf das Rotkäppchen und fraß es auf. Das spielten sie abwechselnd und fürchteten sich sehr dabei. Da geschah es nach einiger Zeit, als die Stube schon ziemlich dämmerig wurde, daß der Wolf das kleine Rotkäppchen im weißen Anzug auf einmal fest in die Arme schloß und auf das rote Mäulchen küßte und auch dann nicht losließ, sondern noch die hohe, weiße Stirn und die festen Backen suchte und mit durstigen Lippen küßte und küßte.

Das Rotkäppchen aber war auf einmal kein Rotkäppchen mehr, sondern ein strampelnder, verzweifelt und zornig um sich schlagender Bub, der seine feste, kleine Faust erhob und das Fräulein, das auch kein Wolf mehr war, ins Gesicht schlug und vom Sofa herunterstrebte mit aller Macht.

»Laß, laß,« rief er, »das sollst du nicht; das soll bloß die Mutter. Du Böse, du Böse!«

Da ertönte unten die rufende Stimme: »Bu – bi!« Es war ein wenig Angst darin und ein wenig Ärger, weil das Bübchen nicht am Haus geblieben war, und der kleine Kerl lief davon, so schnell er konnte, und die Treppe hinunter.

In der Giebelstube wurde es langsam dunkel. Die Amsel hatte an ihrem alten Plätzchen in der Dachrinne gesungen, bis die Sonne hinunter war, noch ein Weilchen länger, bis die farbigen Teppiche hinten am Horizont, hinter denen sie zur Ruhe gegangen war, weggenommen wurden, dann war sie verstummt. Die Sterne kamen heraus und sahen ins Zimmer und nach einer Weile flammte unten auf der Straße das elektrische Licht in der Laterne auf und warf auch einen matten Schein hier herein. Menschenschritte hallten auf dem Pflaster und gingen vorüber, Stimmen wurden laut, Lachen, lebhaftes Reden, einmal eine weinende Kinderstimme und eine tröstende männliche. Da trug wohl ein Vater sein müdes Kind das letzte Stück des Weges vollends auf der Achsel heim.

Es hätte sich verlohnt, auf dem breiten Fenstersims zu sitzen und Beobachtungen anzustellen. Drunten in der Stadt brannten tausend Lichter, die Berge rings herum lagen in dämmerndem Schweigen und da und dort hob sich auf den Höhen ein Haus oder ein Daum scharf umrissen hervor und grüßte still herüber.

Aber es war niemand am Fenster, der die Grüße des wachen Lebens entgegennahm, niemand, der sich von ihm gegrüßt wußte.

Vielleicht, wenn jemand mit schärferen Sinnen als die des gewöhnlichen Menschen hineingehorcht hätte, daß er dann ein Rufen vernommen hätte: »Was tu' ich mit mir? Was fang' ich an mit Leib und Leben? Warum schufst du mich, du Großer, du Ferner?«

Aber es war niemand da und es war wohl auch besser so.

Spät erst in der Nacht ging der Rolladen am Giebelfenster herunter. Rings umher schlief alles schon längst. Morgen war Werktag, der wollte frische Kräfte.

* * *

In C. Ch. Weckerles Geschäft war Frühjahrsausverkauf. In den Schaufenstern prangten Plakate, die anzeigten, daß alle Kinderkonfektion mit zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent Rabatt verkauft werde. Das heißt, die Restbestände vom Winter und vom vorigen Jahr. »Um den Neuheiten Platz zu machen.«

Es ging aus und ein mit Kunden und es war viel zu tun.

»Nicht wahr, bei Kindern sieht man nicht so auf das Neueste,« sagte eine kinderreiche Oberlehrersfrau zur Frau eines Kollegen. Sie hatte drei Töchterchen bei sich, die alle drei gleiche Kleidchen bekommen sollten und sah sich nach dem hübschen, blonden Fräulein um, das es so gut mit den Kindern verstand: »Können Sie mich vielleicht bedienen?« – »Ja, ja, gleich,« sagte das Fräulein, »ich bitte um einen kleinen Augenblick Geduld.« Sie kniete eben vor einem kleinen Menschen, dem sie einen roten Mantel zuknöpfte. »Herzig sieht er aus,« sagte sie zur Mutter, die daneben stand. Dann kam die Oberlehrersfrau dran. Es gab gerade noch drei blau und weiß karierte, die waren fast wie geschenkt, solch vorzüglicher Stoff und so hübsche breite Spitzenkragen darauf. Die Mutter war entzückt, sowohl über den billigen Preis als auch über das liebenswürdige Fräulein, das sie bediente, aber am meisten ja freilich über ihre drei Töchterlein, die aussahen wie Schulrats- oder Ministerskinder in den neuen Anzügen. Sie durften sie gleich anbehalten und auf dem Heimweg sagte die Kollegenfrau zu ihr: »Ja, ja, man sieht wohl, daß der Herr Vater mit dem Geldbeutel dahinter steht, ohne Zuschuß kann unsereins das nicht machen.«

Das war fast noch das Angenehmste von allem, denn wer wollte nicht gern für ein bißchen wohlhabend gelten?

Fräulein Keller wachte über dem Ganzen, aber sie war in letzter Zeit nicht so besonders beliebt. Die jüngeren Fräulein fürchteten sie ein wenig. Sie nahm es überaus genau mit allem und hatte dabei ein bißchen etwas Scharfes im Ton und Wesen. Besonders die hübsche Blonde, die einen Schatz hatte, mit dem sie abends ausging, und die nicht viel von Pünktlichkeit wußte, aber dafür so lustig lachen und so freundlich schwatzen konnte, bekam nicht zu selten einen Wischer. Aber sie nahm ihn nicht so schwer. Du liebe Zeit, wenn man jung war und nett aussah!

Heute erlebte sie einen Triumph. Als sie neben dem Privatkontor von Herrn C. Ch. Weckerle auf einer Leiter stand, um aus den Vorräten, die hoch oben aufgestapelt waren, etwas auszusuchen, hörte sie die Stimme des Herrn, der mit jemand redete. »Wir sind ja sehr zufrieden mit Ihren Leistungen,« sagte er, »sehr, das wissen Sie. Aber Sie sind so ein bißchen sehr kurz und schroff, besonders auch in der Kinderabteilung. Wenn Damen mit Kindern kommen, gehört entschieden etwas von Liebenswürdigkeit dazu. So hie und da ein Späßchen, und dann ein wenig Entgegenkommen bei den Kindern, das macht sich gut. Sehen Sie Fräulein Hilda an, die kann das vorzüglich.« Fräulein Hilda hielt sich mäuschenstill auf ihrer Leiter, als gleich darauf Fräulein Keller sehr aufrecht und mit zugeschlossenem Gesicht herauskam. Sie kicherte in sich hinein. Das geschah ihr recht, der Ordnungsfurie. Den Namen hatte sie ihr aufgetrieben, aber sie selbst war ja freilich das Gegenteil. Als sie in den Laden herauskam, war eine junge Frau mit einem blonden Bübchen im roten Sweater da und Fräulein Keller hatte einen Haufen Bubenhüte auf dem Tisch ausgebreitet und probierte einen um den andern auf den hellen Kopf mit dem steilen Haarbusch und der hohen, weißen Stirn. Man sah ihr nichts Besonderes an, sie hatte sich gut in der Gewalt, das mußte die hübsche Blonde zugeben.

Der kleine Bursche war aber ungeberdig. »Du sollst es tun, Mutter, nicht sie.« – »Aber Bubi, sei nicht unartig,« ermahnte ihn die junge Frau, tat ihm aber trotzdem den Willen. »Sie müssen entschuldigen, Fräulein,« sagte sie lächelnd, »er ist noch ein bißchen dumm. Er ist so ganz an mich gewöhnt, wir haben nur einander.«

»O bitte, bitte,« sagte das Fräulein und lächelte auch.

Es war nie ein sonniger Frühlingsmorgen gewesen und nie ein dämmeriger Sonntagabend. Sie hatten einander noch nie gesehen.

Das Bübchen steckte die Hände in die Hosentaschen und zeigte seine weißen Zähne, als es vor dem Spiegel stand und den braunen Lederhut auf seinem blonden Schopf besah.

»Sag' auch danke schön, Bubi, das Fräulein hat sich soviel Mühe gegeben,« sagte die Mutter. »Danke schön,« sagte Bubi, als sie miteinander den Laden verließen. – »O bitte, nichts zu danken,« sagte das Fräulein und lächelte immer noch. Herr C. Ch. Weckerle stand im Hintergrund und sah beifällig zu.

Sie machte die Tür auf und ließ die beiden hinaus und eines Augenblicks Länge ließ sie sie offen und ließ den Blick hinausgehen. Schwalben schwirrten mit Geschrei vorbei, Kinder ließen ihre Kreisel tanzen, auf den Stockbrettern blühte der erste sonnige Flor. Irgendwo weit hinten ging der Frühling vorbei. Im Laden wartete die Kundschaft. »Womit kann ich dienen?« fragte das Fräulein denjenigen, der vorne stand, und lächelte immer noch.


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