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Amaryllis

Sie war die Kleinste von allen ihres Alters, klein und schmal und mit einem grauen Mausgesichtlein. Es war eigentlich gar nichts an ihr, das der Rede wert gewesen wäre, nichts als ein paar große, graue Augen, mit denen sie für gewöhnlich still und pflichttreu in die Welt hineinsah, als ob es darin gar nichts gebe, als demütiges Sich-schicken und schweren Ernst. Der Lehrer wußte noch etwas anderes von diesen Augen. Er wußte, daß sie in Freude aufleuchten konnten und in Begeisterung blitzen, und daß sie aussehen konnten wie ein schwarzer, tiefer See, wenn etwas Trauriges, Schweres, Unbegreifliches vor sie kam.

Er hatte sich allmählich daran gewöhnt, nach diesen Augen hinzusehen, wenn er wissen wollte, welchen Eindruck seine Worte machten. Eines Tages fehlten sie. Er hatte sich unwillkürlich auf die Seite gewandt, wo ihr Platz war, und unterbrach sich mitten im Satz: »Wo ist Rebekka?« Sie wußten es nicht; niemand wußte es. Es waren vierzig Kinder in der Schule, achtzehn Buben und zweiundzwanzig Mädchen. Rebekka war das dreiundzwanzigste. Sie war ein fremdes Kind in Hardthausen, obgleich sie schon seit fünf Jahren hier war. Der alte Händler Eisig Rosenlaub hatte sie eines Tages mit sich heimgebracht von einem seiner Geschäftsgänge in der Stadt drinnen. Sie sei ein Judenkind, sagte er, obgleich sie nicht aussehe wie andere Töchter des Reiches Israel. Sie sei mit anderen armen Stammesgenossen aus Rußland gekommen und sei verlassen zurückgeblieben, ihre Verwandten seien alle gestorben.

Seither lebte sie bei ihm in dem kleinen Häuslein unter der Stadtmauer. Sie hatte es nicht schlecht bei dem Alten; sie nannte ihn Großvater, und er war gut gegen sie. Aber sie blieb fremd und allein, obgleich sie die Volksschule des winzigen Städtchens besuchte. Es war so viel Dunkles um sie her, das eine Kluft schuf zwischen den Hardthäuser Kindern und ihr. Daß sie ein Judenkind war und aus Rußland und daß sie niemand gehörte. Das war alles nicht gebräuchlich in Hardthausen. Da war jedermann aus dem Städtlein und war mit jedermann verwandt, und alle waren Christen; der alte Eisig Rosenlaub war seit Menschengedenken der einzige Jude in Hardthausen. Der wollte allein nicht den anderen nachziehen, die nach und nach in die Stadt gewandert waren. Er wollte hier bleiben und bei seinen Vätern liegen am guten Ort. Das war der alte Judenkirchhof, vor dem es den Hardthäuser Kindern immer ein wenig grauste. Aber den alten Eisig kannten sie alle. Er holte Lumpen und Knochen aus den Häusern und gab dafür Knöpfe, Nadeln und Bilderbögen her, er hatte nichts Fremdartiges an sich und war mit allen gut Freund. Das war ganz anders als bei Rebekka. Es war einmal ein Judenmissionar in der Kirche gewesen, der hatte schauerliche Dinge erzählt von den Juden in Rußland, wie sie verfolgt wurden und hingemetzelt und wie sie sich in Kellerlöchern verkrochen und an den Haaren herausgezerrt wurden. Und er hatte von Rebekka gehört und sie in der Schule besucht und vor allen Kindern mit ihr russisch gesprochen. Da drückten sich die Hardthäuser Kinder in scheuem Staunen um sie herum und sie war ihnen noch fremder als zuvor.

Nein, sie wußten nicht, warum Rebekka heute in der Schule fehlte, keines von ihnen wußte es.

Als der Unterricht aus war, gingen zwei der Mädchen, die der Lehrer auswählte, in das Häuschen des alten Eisig Rosenlaub, um nach ihr zu sehen. Sie fanden sie unter dem Ahorn, der das Häuschen überschattete, es sozusagen in den Armen hielt. Da stand sie auf dem bröckeligen Mauervorsprung, der vor einer Schießscharte lag, hielt mit dem einen Arm den Stein umfaßt und sah durch die Lücke ins Land hinaus.

Als sie die Schritte und Stimmen der Kommenden hörte, wandte sie ihr Gesicht nach ihnen hin. Da erschraken die Mädchen vor dem Ausdruck der Trostlosigkeit, der in den verdunkelten Augen lag.

»Was hast du?« fragten sie. »Warum bist du nicht in die Schule gekommen?«

Sie kehrte langsam zu ihnen zurück; sie war irgendwo weit draußen gewesen mit einer großen Sehnsucht oder mit einem Hilferuf, das konnte sehen, wer Augen hatte.

»Ich komme nicht mehr,« sagte sie. Sie sagte es ganz ruhig und hatte nun auch ihr Gesicht in der Gewalt. Es sah grau und eben und ergeben aus wie sonst. Da atmeten die Mädchen wieder auf, daß sie nicht mehr so trostlos aussah. »Warum?« fragten sie.

»Der Großvater geht zum Lehrer und sagt's ihm,« sagte Rebekka. Sie schien nicht gesonnen, mehr zu sagen. Dann, als müßte doch noch etwas kommen, fügte sie hinzu: »Es ist ja auch einerlei. Es ist doch bald aus. In zehn Tagen ist es doch aus.«

Die Mädchen machten ratlose Gesichter. Das war doch nichts, was man verstehen konnte. Sie wurden in zehn Tagen konfirmiert, das war wahr, und Rebekka gehörte zum obersten Jahrgang, ja, sie kam dann auch aus der Schule, aber warum war sie jetzt so sonderbar? Sie dachten auf einen schicklichen Rückzug. »Wir gehen heut nachmittag in den Wald, Tannenreis holen zum Kränzeflechten. Alle Großen gehen mit, man muß die Kirche schmücken zur Konfirmation,« sagte die eine. »Gehst du nicht mit?« Gleich darauf dachte sie, das sei das Dümmste gewesen, was sie sagen konnte, denn Rebekkas Gesicht war plötzlich von einer roten Glut übergossen, und ihre Augen flammten.

»Ich gehöre doch nicht zu euch,« stieß sie heraus. »Wie kann ich helfen, eure Kirche schmücken?«

Da dachten die Mädchen, es sei am besten, jetzt zu gehen, und das taten sie auch. Sie gingen langsam, solang sie in Sehweite waren, und dann fingen sie an zu laufen; denn es war ihnen unbehaglich zumute.

Als die Kinder, Buben und Mädchen, ihrer zwanzig zusammen, am Nachmittag auszogen, begegneten sie dem alten Eisig Rosenlaub. Er war auf keinem Geschäftsgang, das sah man deutlich. Er hatte seinen langen Schabbesrock an und einen alten, haarigen Zylinder auf und ging ins Pfarrhaus. Sie sahen ihm nach und lachten; denn sie lachten heute über alles und jedes. Es war immer ein höchst vergnüglicher Gang, dieses Reisholen, das war noch jedes Jahr so gewesen. Nachher, beim Kränzewinden, da saßen sie manierlich in der Kirchenvorhalle oder in der Pfarrscheuer, und die Lehrersfrau war dabei oder die Schwester des Pfarrers. Da sangen sie die Lieder, die sie am Fest singen sollten, oder bekamen eine Geschichte erzählt. Da war alles gediegen und ehrbar; aber jetzt durften sie um so mehr ein wenig ausgelassen sein, und das waren sie auch recht von Herzen.

Rebekka sah hinter dem weißen Vorhängchen am Fenster vor, als sie vorbeigingen. Sie ließ es schnell fallen, um nicht gesehen zu werden, aber als sie einige Schritte weiter waren, trat sie unter die Haustür und sah ihnen nach, und in ihren Augen lag eine Welt voll Verlangen. Es war ein sonniger Frühlingstag. In den Zweigen des alten Ahorns lärmten die Stare, und auf dem Brachfeld drüben zog eine Schafherde vorbei; da besannen sich die Stare und schwirrten davon, denn bei den Schafen gab es Weide für sie. Rebekka sah ihnen zu, da fiel ein Schatten vor ihr auf den Weg. Der Lehrer stand vor ihr. Er hatte den Hut in der Hand und ließ sich die Frühlingsluft durchs Haar wehen. Sein Gesicht war voll des Schönen, das da draußen im Werden war und das er in sich hineingetrunken hatte auf einem einsamen Spaziergang. »Was ist mit dir, Kind?« fragte er. »Die Mädchen haben nicht recht verstanden, was du gesagt hast. Du kommst nicht mehr in die Schule. Warum?« Sein Herz lag in seinem Gesicht; er hatte eine Liebe in sich für das rätselhafte Kind. Er faßte ihre Hand.

Sie zuckte in der seinen und zog sich langsam zurück.

»Der Großvater ist ins Pfarrhaus gegangen,« sagte sie statt der Antwort. »Er kommt auch zu Ihnen; jetzt trifft er Sie nicht an.

»Kannst du mir's nicht selber sagen, Rebekka?« seine Stimme klang gütig und warm und suchte einen Eingang in ihre Seele.

Da wandte sie sich ab, und er sah, daß ihre schmalen Schultern bebten, wie wenn der Wind ein junges Bäumlein schüttelt. Als er sie umwandte, sah er ihre Augen in großen, schweren Tränen stehen.

Sie mühte sich, zu sprechen; da wartete er still, bis sie anfing.

»Ich weiß nicht, wo ich hingehöre; ich gehöre niemand zu. Ich muß fort, sie wollen mich holen in die Stadt zu unseren Leuten. Es hat einer geschrieben, der sei ein Vetter von meinem Vater, und er ist reich und will mich in sein Haus nehmen, daß ich besser im Jüdischen unterrichtet werde.«

Sie preßte ihre beiden Hände zusammen und redete in Erregung weiter.

»Ich habe den Brief gelesen; er schreibt von meiner Mutter. Sie ist eine von euch gewesen, und sie sagen, sie sei schlecht und habe den Vater verdorben. Er sei mit ihr ins Elend gegangen.«

Rebekkas Augen glühten, und auf ihre Wangen kam ein matter, roter Schein. Sie war schön in ihrem Kummer und in ihrem Zorn.

»O, sie war gut, sie hat mich lieb gehabt, als ich ein kleines Kind war. Sie sollen mir nichts Böses über sie sagen. Der Vater war auch gut; sie hätten mich mitnehmen sollen. Ich weiß nicht, wo ich hingehöre, nicht zu euch und nicht zu uns.

»Der Eisig sagt,« – sie sagte zum erstenmal nicht Großvater – »der Eisig sagt, ich sei meines Vaters Tochter, und ich müsse den Leuten meines Volks gehorchen und hingehen, wo sie sagen und tun, was sie wollen.«

Sie blickte sehnsüchtig in die Ferne: »Und ich bin doch auch meiner Mutter Kind. Ich weiß von ihr, von ihrer Heimat und von ihrem Glauben. Was soll ich tun? Ich möchte fortgehen, weit fort, und suchen, wo ich hingehöre.

Sie war so klein und schmal und zart, und sie war noch so ein Kind. Aber es war dem Lehrer, als sei sie ein reifer, schwerer Mensch, der sein Schicksal in den Händen trage und dem es zu groß und zu dunkel sei. Und es trieb ihn, zu ihr zu sagen: »Du gehörst zu uns allen, Rebekka. Wir Menschen sind alle Kinder eines Vaters, der Gott ist. Es ist nur einer, der eure und der unsrige. Denk daran, er ist deines Vaters und deiner Mutter Gott und der deinige – und auch derer, die dich zu sich holen wollen.«

Sie sah ihn an, tiefernst und mit leidvollem Aufmerken und ließ ihre Augen in ihn hineingehen, als sagten sie: »Sag mir noch mehr, das ist es, was ich hören muß.«

Er besann sich. »Ich möchte dir eine Heimat wünschen, Kind, in der du leben und gedeihen kannst,« dachte er. »Ich weiß dir nicht zu raten. Du sehnst dich nach ihnen und von ihnen zu uns, und es sind Schranken, die du nicht durchbrechen kannst.«

Da kam der alte Eisig mit kurzen, schnellen Schritten daher. Er fuchtelte lebhaft mit den Händen, als er den Lehrer sah. »Ich bin beim Pfarrer gewesen und habe es ihm gesagt; und ich sage es Ihnen: Sie macht ihr Glück in einem reichen Haus und bei Verwandten. Ich lasse sie gehen und sage: Sei gesegnet. Sie aber macht ein Gesicht, als ob es ein Unglück sei. Sie hängt an ihrer Mutter, die ihren Vater ins Elend –,« da stampfte Rebekka mit dem Fuß auf und sagte herrisch: »Seid still, Eisig, sagt nichts von ihr, niemand soll etwas von ihr sagen.«

Der Alte seufzte: »Sie ist ganz verwirrt. Sie war immer ein gutes Kind, sie ist aus dem Geleise. Morgen früh kommt der Vetter. Er kommt mit einem Wagen und mit zwei Pferden, sie darf fahren wie eine reiche Tochter, und ihr Vater und ihre Mutter sind in der Armut gestorben.«

Er sah sie an, ob das nicht Eindruck mache. Aber sie biß nur auf die Unterlippe und sah düster zu Boden.

»Laßt sie ein Stückchen mit mir gehen, Eisig,« sagte der Lehrer. »Ich will noch ein wenig mit ihr reden.«

Sie ging neben ihm her auf dem grasigen Weg. Sie kamen unvermerkt auf den freien Platz vor der Kirche. Die Tür stand offen, sie traten ein.

»Komm, setz dich zu mir,« sagte er. »Sieh, du bist mir immer lieb gewesen. Ich könnte sagen: Komm zu uns, zu dem Glauben deiner Mutter, der auch der meinige ist. Aber das wäre nicht das Rechte. Ein Glaube muß im Herzen geboren werden und über alles hinauswachsen, über Vater und Mutter und Volk. Denk an Abraham, der alles verließ und in die Fremde ging, seinem Glauben nach. Kannst du das glauben, Rebekka, daß ein Gott ist für alle und auch für dich, nur einer?«

Sie sah ihn an und nickte, ernst und schwer.

»So trennt dich auch nichts von uns und nichts von ihnen,« sagte der Lehrer. »Der, dessen Namen wir Christen tragen, hat auch nichts anderes gewollt, als daß wir alle Kinder eines Gottes werden. Und, Rebekka, hör auf mich: Es ist soviel Not und Arbeit auf Erden. Über dem Glauben steht die Liebe. Die eint alle, alle. Das ist ein Weg für dich, in eine Heimat für dein Herz zu kommen. Geh und lerne arbeiten und helfen und lieben und laß dich durch nichts daran hindern, so wirst du froh werden. Du verstehst es später noch besser als jetzt. Denk daran.«

Sie atmete tief auf. Es war ein sanfter Schein in ihre verdüsterten Augen gekommen. Sie stand auf. »Ich muß jetzt gehen,« sagte sie. »Ich will so tun, wie Sie sagen, ich vergesse es nicht.«

Nein, sie vergaß es nicht, das sah er wohl. Sie würde eine der Frauen werden, die helfen, Schranken abzutragen und Schmerzen zu lindern. Es war etwas Großes in ihr, so klein sie war.

Er ließ sie ruhig ziehen; es war still in seinem Herzen für sie.

Als am Abend des Kirchendieners Weib zum Läuten in die Kirche ging, schlüpfte eine schmale Gestalt hinter ihr drein. Sie trug einen Blumentopf in den Händen und stellte ihn auf den Altar. Es war eine Amaryllis mit zwei brennendroten Blüten, die fast dicht an der Erde standen, mit ganz kurzem Stiel und ohne Blatt. Der Stock war im Winter erfroren und hatte sich nun in der Frühjahrssonne angestrengt, seine Schuldigkeit zu tun, und hatte diese zwei Blüten hervorgebracht. Zu mehr hatte es nicht gereicht. Es waren magere, kümmerliche Blüten. Aber es war das Beste, was Rebekka hatte, und es war ihr, als habe sie ein Recht darauf, damit die Kirche zu schmücken. Sie stand eine kleine Weile im letzten Schein des sinkenden Tages, dann reckte sie sich; es war als ob sie wachse.

»Gott,« sagte sie, »Gott,« und ging.

Sie ging nicht heimlich fort im Morgengrauen, wie sie gewollt hatte. Ich sah sie neulich in der Stadt; sie lebt in ihres Vaters Volk und bei seinen Glaubensgenossen. Aber als ich sie sah, da wußte ich, daß ihr Herz Blüten, brennendrote Blüten der Liebe getrieben hat und daß, wer zu ihr kommt, etwas von Heimat spürt und von Hilfe, die über die Schranken hinüberwächst.

Und ich wollte, wir trieben alle solche Blüten.


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