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20

Im Februar blies fast ununterbrochen der Föhn. Die Leute am See erwarteten den Frühling für Anfang März.

Im Garten des Marayschen Hauses rumorte nicht nur der gelbe Wintersturmhut, auch die Veilchen blühten schon. Mitte Januar waren erst die weißen an der Hauswand erschienen, acht Tage später die lila Schwestern in den Beeten.

Eine Duftwolke lagerte an der Südostecke des Hauses. Der Wind mochte die Büsche noch so strähnen und die Duftwolke hintreiben, wohin er wollte, quellenhaft erneuerte sie sich aus den Blütenpolstern.

Am ersten Februar brachen die Krokusse aus. Wie Bannerträger standen sie im Gewimmel der Schneeglöckchen.

Also begann das schmale, hochverschneite Grab im Friedhof von St. Moritz hier unten am See zu schmelzen ...

Der Wald auf den Hügeln am See sang die halbe Nacht vom Frühling, dann rauschte Regen herab und begrub seine Stimme. Das Gurgeln der Dachtraufen überschlug sich, es war ein Plätschern und Strömen ringsum, daß man hätte meinen können, das Haus schwimme auf einem großen Strom. John van Maray träumte von Urwald, Flußmündung und Meerbusen. Manchmal lag Angelica in seinem Arm, dann wieder war es Johanna. Gegen Morgen herrschte Stille.

John ging vor Tag die runden Hügel hinauf in den Wald.

Als die Sonne kam, betrat sie einen reglosen Hain, wo die Zweige lauter Schnüre aus hellen, runden Regentropfen trugen.

Es dauerte lange, bis jeder Tropfen im Wald von seinem Sonnenaufgang überwältigt war. Das Gestirn stand schon hoch, da wanderte das millionenfache Feuerwerk mit John, der heimkehrte, noch immer durch den Wald.

An solchen Tagen war er nur mit Mühe ins Haus zu bringen. Von einer Tiefe des Vorfrühlingswaldes in die andre rief ihn ein fliegendes Licht, ein Ton. Überall war Angelica und erwachte zum Licht. In den Garten zurückgekehrt, schien es ihm unmöglich, die nächste Stunde zu versäumen. Zug um Zug erneute sich großartig das Bild des Kindes und wuchs mit den Tagen.

Er arbeitete, wie er atmete, wanderte, lag – ohne sich einer Anstrengung bewußt zu sein. Der Mond besiegelte eine helle Botschaft, die Angelica hieß.

In den Liedern ohne andre Worte als nur dies eine: Angelica, die ihm von überall zuflogen, kaum, daß er sie rief und entließ, wuchs die Erinnerung an das Kind in ein unvergängliches Bild, dessen wehmütige und entzückte Züge er dem Frühling der Erde entlieh.

Aus Schwarz und Grauen wehte, wie er sie aussprach, ein Hauch von Lust, und was endgültig geschienen hatte wie ein Todesschrei, begann in der Sprache der Elemente von neuem zu reden.

Er vergaß nicht, daß sie gestorben war. Wie hätte er es je vergessen können! Doch erlebte er mit allen Sinnen ihre Wandlung und Wiederkehr, wie er in der Kindheit die Wandlung

und Wiederkehr des Gottes im geweihten Brot der Erde erlebt hatte, und er betete sie an in dieser Gestalt und opferte ihr mit bescheidenen Melodien.

Da alle seine Sinne ihm ihre Gegenwart offenbarten, wie hätte er zweifeln sollen, daß sie lebte?

Welch Vertrauen auf den Frühling ringsum!

Während die letzten Körner der vorjährigen Ernte in die Säcke rollten, wurde die Erde für die neue bereitet, in den Reben knackten die Scheren. Weit gelüftet lagen die Gärtnereien in der Nähe des Städtchens. Die Leute am See tauschten Rosenstöcke, pflanzten sie, schnitten sie, bedeckten die Krone mit Erde, damit kein Nachtfrost sie töte. Ein Mann auf einem Fahrrad fuhr von Dorf zu Dorf und bot Pfropfreiser für die alten Obstbäume feil. Er selbst setzte sie ein, drückte den Leuten die Hand (»Auf Wiederschauen im nächsten Jahr!«) und radelte weiter. Hügel entlang zogen die Pflüge und warfen die Erde auf.

Aus den Fenstern der Züge winkten weiße Arme, Frauenarme, Kinderarme, und die Bauern und Fischer und die Leute in den Gärten unterbrachen die Arbeit – auf einmal fühlten sie sich als verantwortliche Geschöpfe des Sees und seiner Hügel und winkten Auferstehungsgrüße zurück. All dies angesichts der tiefverschneiten Berge im Süden.

In dieser Zeit dachte John van Maray hin und wieder über sein Leben nach – eine schwere Arbeit, die für ihn neu und darum besonders anstrengend war.

Mit den Torheiten, die zu begehn das Schicksal uns aufgibt, schloß er endlich, verhält es sich hoffentlich nur wie mit jenen verzwickten Musikstücken, hinter die man erst beim öfteren Durchspielen kommt. Ich glaubte meine Jazztour längst hinter mir. Quer durch Schweden, von einem Meer zum andern hatte sie mich geführt, bis nach Spanien hinein und zurück in ein Schweizer Sanatorium, das ich bei Föhnwetter von meinem Platz hier mit dem Fernglas erblicken könnte, wenn es sich nicht hinter Parkbäumen versteckt hielte.

Aber nein, ich mußte sie wiederholen, die Lügenbumser- und Sauftour. Warum? Vielleicht weil ich sie vergessen hatte und es versuchen wollte, ob ich nicht am Ende doch die Siebenmeilenstiefel führte, mit denen sich ohne viel Mühe auf einen Olymp marschieren ließe, wo bei gewaltigem Gelage, ganz höllisch vergnügt, meine Vorväter thronten.

Als ob nicht alle Maray nach ihrer Rückkehr aus den Kolonien eine gewisse, mühsam erworbene Weisheit an den Tag gelegt hätten!

Vielleicht auch lebt ein toller Musikant in mir und muß sich um jeden Preis den Hals brechen. In diesem Fall wäre die Möglichkeit neuerlicher Ab-, Zu- und Rückfälle nicht von der Hand zu weisen, und dies, John, wäre schlimm. Sehr schlimm – in Anbetracht des Umstandes, daß du bei der ersten Tour noch ziemlich schmerzlos in einem Sanatorium, schon bei der zweiten aber beim tiefsten Grab in deinem Leben gelandet bist ... Möglich, daß du das nächste Mal, wenn du dich wieder an das betäubende Abenteuer verrietest, gar nicht erwachtest oder, noch ärger, daß Johanna –

Weiter als bis zu diesem Gedankenstrich kam John van Maray nie.

Die wiedergewonnene Zuversicht verließ ihn.

Seine Vorstellungskraft reichte nicht aus, sich ein Bild von sich zu machen, wie er jenseits des Gedankenstrichs leibte und lebte.

Jenseits des Gedankenstrichs war die Welt Unsinn, Irrsinn, grausig leer und verstummt. Es gab keine Jahreszeiten. Kein Vogel fand mehr ein Lied. Kein Wald lebte auf, wenn der Frühling kam.

Eines Morgens beim Erwachen, eines denkwürdigen Morgens glaubte John, er sei im Indien seiner frühen Kindheit, in Sumatra oder Java, und sein Leben beginne von frischem.

Im Schlafzimmer stand schweigend ein Tag, so nackt und schimmernd, so zum Greifen gegenwärtig, daß John halb im Schlaf noch erschauerte. Vor den großen, weitgeöffneten Fenstern hingen dünne Vorhänge, wie Moskitonetze, der geschorene Rasen blitzte. Baumgruppen hielten sich steif unter dem dünnen Glassturz der Bläue.

Er eilte die Treppe hinab und schritt durch drei Zimmer, sie lagen dicht auf der Erde, wie durch drei Ansichten des Morgens. Er trat durch die Flügeltür auf den Perron vor einen kieselbelegten Platz. Die Sonne spielte Kügelchen darauf. Eine halbe Sekunde flitzte in seinem Auge ein grauer Streifen durch das Grün des Rasens, als jage ein Mungo vorbei.

Der See zeigte die zarte Farbe jungen Gemüses. So frisch war die Welt, so unsäglich frisch! Verwundert blickten die Berge herüber. John, obwohl noch ein Knabe, war ein junger Gott.

Durch Schilf und Gebüsch suchte sein Blick nach dem Segel einer malaiischen Barke und braunen Gestalten, die unter heiseren Rufen die Arme in die Luft streckten, um sich ihrem Herrn bemerkbar zu machen. Er selbst war weiß und gelassen...

»Wollen sehn, wie fest die tropische Spiegelung hält«, sprach er sich zu und sprang in das Wasser. Mit Eiseskälte packte es ihn an. Als er kräftig schwamm, wurde er warm.

Und siehe, das Bad vereinigte ihn mit der Landschaft. Eingetaucht in einen bewegten Halbkreis, schwamm er den Alpen entgegen.

Der See und das jenseitige Ufer bildeten eine einzige, anschwellende Fläche. Darauf bewegte er sich mit Wasser, Feldern und Hügeln dem Hochgebirge zu, das dicht: über ihm hing. Als er zurückblickte, sah er, daß er das verlassene Ufer mit sich zog ... Aufstöhnend sang er über das Wasser: Ha-Ha, Haa ... Alle Kräfte des Lebens sammelte er in sich und sang.

Nachmittags erschienen die ersten Segel auf dem See.

Sie waren da, im Blauen, wie ein Liebesgedanke, der ihn verließ, um gleich wiederzukehren. Die Liebe wollte ihn nicht ermüden. Also ging sie und erfrischte sich in der menschenleeren Ferne, bevor sie heimkehrte zu ihm.

Die Segel waren bloß ein Fleck im Doppelblau von See und Himmel, umrandet von Licht. Sie waren fern, sie waren still, sie waren fast nicht mehr da. Aber Johns Blick, der von ihnen zu ihm zurückkehrte, brachte ein anschwellendes Echo mit, und ihre Ferne, ihre Stille, ihre blauselige Abgeschiedenheit wandelte sich zur Nähe alles Guten, zur Nähe der Erde, zu einem hellen Menschenruf in den Himmel.

Der Tag, mit einem Stoß aus dem indischen Tempelhorn begonnen, ging unter einem unaufhörlichen Rieseln von Bläue, Grün und klarstem Weiß und warf sich, nach dem Feuertanz des Abends, unter die geruhigen Sterne.

Die Alpen wurden leichengrün, und der See gerann zu Zink.

Monate verstrichen.

Der Schnee begann von den Bergen zu rinnen, nur die höchsten Gipfel blieben weiß. Die Hänge wurden gefleckt wie ein Fell. Wald und Wiese dort oben wechselten ab, um dem Sommer tausend Lichthöfe zu öffnen. Unter dem ewigen Schnee schuf ein gewaltiger Gärtner weithin den Höhenpark vor dem festlichen See. Wo der Rhein in den See mündete, stand eine Lichtfülle, gestaut bergehoch, die Alpen wälzten ihr Schneelicht herab, einen himmelan zitternden Strom aus dem Urgebirge über dem andern, den er unter sich begrub. Auf den Uferhöhen, in zahllosen Waldlichtungen, bliesen immer grüner die menschenfreundlichen Schalmeien. Es kamen und gingen aus Wolken die Alpen, mit unendlich langsamen Bewegungen: Sagen von Riesen und Göttern, oder standen unbeweglich, im blauen Mittag versteinert.

Das Korn hob sich aus der Erde. Der Duft der blühenden Rebe segelte im Wind. Die Nächte wurden warm.

In einer dieser Nächte trat John aus dem Haus, er trug sein altes Saxophon.

Von Zeit zu Zeit blieb er stehn und führte das Instrument zum Mund.

Bäbä, tu, machte er: Miau. Bäbä, tut! Miau. Tut! bäbä. Mi-au.

Dann warf er den Kopf zurück und krähte. Täuschend krähte er, aber ganz täuschend, wie ein echter Hahn.

Offenbar rechnete er damit, daß sein Krähen über kurz oder lang die Sonne aus den Federn locken werde. Denn jedesmal, wenn er gekräht hatte, hielt er Umschau am östlichen Himmel.

So schritt er am Ufer entlang bis zu einem Felsstück, das dort in den See ragte.

»Nieder mit dem tanzenden Niggersteiß!« rief er und hob das Instrument, um es am Felsen zu zerschmettern.

»Nieder mit der schwarzen Kasse!«

»Es lebe der achtundvierzigste Breitengrad mit allem Obst und Gemüse und Wein und den Frauen – wenn solche auch darauf gedeihen! Nieder mit der I. G. Jazzindustrie!«

Wie er, das Saxophon in hocherhobener Hand, den vernichtenden Streich führen wollte, bemerkte John zu seinem Erstaunen, wie das lautlose Wasser einen Stern an den Stein spülte, in magischer Bewegung, immer denselben winzigen Stern.

»Ach so«, sagte er – »ja, ja.«

Und statt weiterhin Lärm zu schlagen, ging er leise ins Haus und kam gleich darauf mit einem Strick und einem eisernen Gewichtstück zurück.

Er griff das Saxophon und versenkte es wie eine krepierte Katze in den See.

John war im Begriff, ins Bett zu gehn, als unter dem offenen Fenster des Schlafzimmers ein Pfiff ertönte, der das langgezogene, schnalzende tschi-cha des Bussards nachahmte. Sogleich folgte als zweiter der Lockruf der Mönchgrasmücke: taktak-taktak-fiieh-je!

»Ha!« keuchte John und tat einen Sprung zum Fenster.

Ein unbändiges Gebrüll saß ihm in der Kehle, ein Liebesgebrüll! Wild hob er die Arme.

Plötzlich drehte er und wollte die Treppe hinabstürzen, um Johanna zu öffnen.

Er wollte rufen, brachte aber keinen Laut hervor. Und:

»Halt«, sprach er zu sich. »Ich verstehe: das Raubtier von einem Bussard bin ich, die harmlose Grasmücke ist sie. Also, John, schwebe mit der Würde des Bussards zum Fenster und frage, was die Grasmücke will.«

Unter dem Fenster pfiff es melodisch:

O schöne Fahrt, so leicht wie Wind,
Vor dem die Fernen sich entfalten –

Ein Ständchen!

Nach jahrelanger Trennung kam sie heim, die Heißkalte, Starrhalsige, die Herumtreiberin: plötzlich, so, ohne gefragt zu haben, bei Mondschein – und brachte ihm ein Ständchen.

Das Liebesgebrüll in der Kehle wurde zu einem Knebel, an dem John eine volle Minute lang würgte. Er blickte an seinem Schlafanzug hinab, hob die zitternden Hände und betrachtete sie. Hände und Füße waren gleich rot. Im Nacken aber saß es ihm kalt.

Anläufe zu gewaltigen Dramen überstürzten sich in seinem Geist. Und er schielte auch zum aufgeschlagenen Bett und überlegte, ob er sich nicht lautlos hineinlegen und das Licht löschen sollte.

»Guten Abend, John«, sagte sie, als er endlich ans Fenster trat.

Sein Schatten berührte fast ihre Füße, und er hütete sich vor jeder Bewegung, die ihn noch näher gebracht hätte.

Groß war sie, schmal und gradschultrig, sie hatte nichts von einer Grasmücke, außerdem stand eine winzige Toilettentasche neben ihr auf dem Perron.

Er kannte das Ding, es enthielt fast nichts als ein seidenes Nachthemd und ebensolche Pantoffeln.

Ein wenig war die Frau ihm da fremd – und zugleich unheimlich vertraut. Unter dem langen Reisemantel schwoll leise die Hüfte, schwoll leise die Brust. Am Halsansatz glänzte eine weiße Stelle wie ein Messer.

Der Mond schien ihr seitlich ins Gesicht, sie rührte sich, da schimmerte es in den Augen, als ob auch sie bewegt wären wie der See, in dem es genau so glitzerte, er sah ihren Mund, der sich langsam öffnete, ohne daß sie sprach, und auch sie warf einen langen Schatten.

Der Schatten zeigte in die Richtung, wo das Felsenstück in den See ragte, an dem er das Saxophon hatte zerschmettern wollen. Wo aber ein flüssiger Stern, immer der gleiche, lautlos den Felsen bespülte.

Und John erinnerte sich an den Wandel der Zeit.

»Was –?«

Er mußte sich räuspern.

»Was –«

Er mußte sich nochmals räuspern, und nun räusperte er sich schamlos und so kräftig, wie es anscheinend nötig war. Darüber geriet er ins Husten.

Die Frau unten schlug eine Lache an. Und dann half sie ihm.

»Du meinst: was ich hier zu suchen habe?«

Gleichzeitig bückte sie sich und griff die Toilettentasche.

»Mein Bett suche ich!«

Die kleine Ledertasche, in der fast nichts war, flog an John vorbei in das Zimmer.

Bestürzt wandte er sich um, hob sie auf.

Sie wog fast nichts.

John hörte hinter sich ein Krachen der Spalierlatten, und als er wieder zum Fenster sah, tauchte ihr Haupt über die Brüstung. In diesem Augenblick fiel ihm zu allem auch noch das von Asver gemeldete Herumturnen Johannas am Spalier von Kapitalistenhäusern ein, und die künstliche Flammensäule seines Zornes färbte sich schwarz.

Der Stoß eines unsichtbaren Sturmwindes, ein einziger, entführte allen Zorn hinaus in die Nacht.

Er hob die Hände, preßte sie an die Brust. Der ganze John van Maray, vom Kopf zu den Füßen, sprach abgründig:

»Da ist sie!«

Vorgebeugt starrte er zu ihr hin.

Eine störrische Weinranke stieß gegen den Hut der Einbrecherin.

Der Hut flog ins Zimmer.

Und Johanna schüttelte die Mähne.

»Ist keine andre Frau im Haus?« fragte sie.

»Nein. – Kommst du allein?«

»Ja. – Aber ...

Das Lattenzeug bricht mir unter den Füßen entzwei«, rief sie kläglich.

Er knirschte:

»Recht so –« und hob sie herein.


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