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10

»Guten Morgen!« begann das Tagwerk wie immer.

Vor Josephus Samtaug spreizte der Glücksvogel das goldene Schwanzgefieder und klappte es, nachdem der Bankier die Huldigung entgegengenommen, kleinlaut zusammen. Der Diener Karl zelebrierte das Frühstück bis zum Credo, dann schlüpfte er in den Nebenraum, wo die Anrichte stand.

Nun aber verwies Josephus Frau Ruth die ›Kassandrarufe‹, allerhand hingehauchte Triller wie: »O heute nacht ... Dein John ... Arme Johanna ...«, die schattenhaft ihrer Kehle entstiegen, und begann kräftig von dem Ereignis der vergangenen Nacht, dem Telephonanruf John van Marays, zu sprechen. Auch der Brief Ruths an John fand Erwähnung.

Johanna aß ruhig weiter, nur ihr Blick schwang über dem Teller von den mattbestirnten Augen, aus denen es zu ihr sprach, bis zu der Zeitung im Fliederbusch und wieder zurück, als folgte er dem metallenen Glitzern eines Pendels.

Nach den ersten Worten hatte sie begriffen, daß ein Unglück geschehn war.

Sie sann ihm nach, ohne auf Worte zu achten. Was sie sah, war deutlich genug. Ein Meer sah sie, darauf schritt John, als sei er betrunken, zwischen andern, gesichtslosen Betrunkenen, die alle größer und mächtiger waren als er. Und als er einmal zwischen zwei besonders hohen Wellen verschwunden war, kam er nicht wieder. Sie fühlte einen dumpfen Schmerz im Leibe, und ihr Blick hörte auf zu wandern.

Erst als Josephus von der Abreise Johns berichtete, und daß er den neuen Aufenthaltsort verschwiegen habe, horchte sie auf.

»Siehst du wohl«, sprach sie leise, es sollte scherzhaft klingen, »siehst du wohl, ich habe es mir gleich gedacht.«

In den Augen des Mannes ihr gegenüber las sie, erschreckt und ermutigt zugleich, was sie verschwieg.

Sie wandte sich von ihm zu Ruth und fügte lächelnd hinzu:

»So mußte es kommen.«

Ruth fragte: »Was wirst du tun?«

Sie antwortete: »Ihn suchen.«

Nach einer Weile:

»Oder meinst du, Josephus, ich sollte lieber gleich aufgeben?«

Bevor eine Antwort erfolgte, zerbrach der Strahlenraum des Frühstückszimmers in menschliches Schluchzen. Eine Flut von Jammer entfärbte das Gold. Josephus neigte das Haupt.

Ruth aber stürzte sich über Johanna, drückte das Gesicht der Weinenden zwischen ihre Brüste.

»Der Diener! Was soll der Diener denken?!«

Sie flüsterte es zu Samtaug hinüber, während sie Johanna an sich gepreßt hielt. Und diese erriet es wohl, denn aufheulend befreite sie sich, mit der Bewegung einer Löwin, die ein Junges abschüttelt, riß die Zeitung aus dem Fliederstrauß, warf sie Ruth vor die Füße und floh in großen Sätzen auf ihr Zimmer. Dort entkleidete sie sich und warf sich über den Diwan.

»Gut, daß sie endlich ins Bett kommt«, sprach Ruth und ließ sich auf den Stuhl fallen.

Mit steifem Rücken saß sie da und zitterte in ihrer morgendlich schlanken Gestalt, warf schwarze, runde, ratlose Blicke, die Stirn gefurcht, eine Sekunde lang, dann wieder glatt gezogen, dann wieder gefurcht, dann wieder glatt. Sie war wirklich erregt. Der Mann nickte freundlich und stand auf.

Droben in ihrem Zimmer schluchzte Johanna, die langen Glieder von sich gestreckt, nackt und groß zur Decke empor. Ihr ganzer Körper klagte, von den Fingerspitzen, die gegen die Wand hinter ihr klopften, bis zu den Füßen, die über den Rand des Diwans hinausragten, und dort, über dem Boden, verebbte in einer letzten Krümmung jeder Stoß des Schmerzes und trat hinaus in die Welt.

Die Welt trank ihren Schmerz.

So empfand sie's und überlieferte sich der Durstigen, in der Hoffnung, bald ausgetrunken zu sein, leer von sich und John, von aller Freude, allem Leid, leer und still, wie alles leer und still um sie war über den Grenzen des schluchzenden Körpers.

Es war wie oft – und wie nie zuvor.

Es war so, daß John heute nacht einen Streich gegen sie geführt hatte, in seiner entsetzlichen Eifersucht, wie schon oft, wenn ihn aus schwer begreiflichen Gründen Mordlust befiel warum? Warum? Vielleicht nur, weil nicht der Teufel auch in sie hineinfahren wollte. Dann wehrte sie sich oder wehrte sich auch nicht, bis er sich ausgerast hatte: an ihr, in der Musik, am Wind, der sein Segelboot umlegte, am Wein, an irgend etwas. Wie es gekommen, ging es vorbei: in einem plötzlichen Fall, einem jähen Aufschwung, ungerufen. Doch diesmal –

Diesmal hatte sie es erwartet! Schon lange. Vielleicht schon, als er, nach einer Zeit wüster Verdüsterung, aufbrach und in die Alpen fuhr. »Die Arbeit«, hatte sie sich damals vorgelogen, »ich bin nicht gemeint, es ist die Arbeit, um die es geht, mich nimmt er heimlich mit in die Alpen und findet dort die Arbeit dazu.« Da war schon das Unheil unterwegs.

Es stand neben ihr bei der zweiten Trennung auf dem Bahnhof. Als sein winkendes Taschentuch zugleich mit der Glasscherbe des Sees darüber verschwunden war, hatte sie sich kalt angehaucht gefühlt, in den ersten Takten des fahrenden Zuges, die ihr zum Bewußtsein kamen, hatte sie die Ankündigung gehört, und statt wenigstens durch einen Schein von Anwesenheit, mit Briefen, einem einzigen Wort nur den Schlag aufzuhalten, war sie vor ihm davongelaufen, kreuz und quer durch Berlin, Tag und Nacht auf der Flucht vor dem Unheil, das sie zugleich in immer größerer Nähe zog, indem sie sich dafür bereit und verwundbar machte, Stück um Stück von sich entblößend, bis zur völligen Nacktheit.

Wie hatte sie die ganze Zeit zu ihm gesprochen! In einem einzigen Liebesgesang war sie gewandelt, John in den Händen, John auf den Lippen, in den Augen, in allen Sinnen: John. Aber das geringste Liebeswerk hatte sie gemieden? Nein!

Nein.

Johanna schloß die Augen, streckte krampfhaft den Körper, daß die Füße fast eine gerade Linie mit den Beinen bildeten, die Arme hob sie empor und reckte sie, als schwöre sie mit dem ganzen großen Körper zu einem Gott, der im Dunkel über ihr thronte: nein – jede gute Laune, jedes gute Wort, der Abscheu vor diesem, die Neigung für jenes, alles, alles war ein Gedanke an ihn, ein stummes oder verkehrtes Wort an ihn gewesen, solche Briefe hatte sie ihm ›geschrieben‹, solange sie wachte, allein und unter den Menschen, sicher auch noch im Traum.

Fast krank hatte sie sich geliebt mit diesem einzigen, unaufhörlichen, zehrenden Gespräch, ja: bloß und schwach und krank, damit der unvermeidliche Streich sie dann treffen sollte, wenn sie ihm nichts mehr von der eigenen Kraft entgegenzusetzen hätte und ihr Wesen vom Gedanken an ihn geplündert, von der Sehnsucht nach ihm verelendet daläge – wie jetzt.

John, du weißt genau, wie es ist! schrie sie auf.

Du kennst mich besser als ich dich, jeden meiner Gedanken kennst du vor mir – ist es nicht wahr? und was ich tue und lasse, du weißt es besser als ich, John, ich habe mich immer nur in dir bewegt, und darum bist du dort am Meer zum Telephon gegangen heute nacht und hast mich wortlos verstoßen, und nun werde ich dir nie mehr schreiben. Ich suche dich auch nicht. Wer möchte seinem Verräter nachlaufen? Doch nicht deine Johanna? Glaubst du, die wäre fähig dazu, glaubst du?

Plötzlich riß sie ein Kissen unter dem Kopf weg und schlug es sich auf den Leib. Jemand hatte an die Tür geklopft.

»Nein!« rief sie.

Josephus stand vor ihr.

Erstaunt sahen sie einander an.

»Du hast doch ›Herein‹ gesagt?«

»Nein«, wiederholte sie kläglich und drehte das Gesicht zur Wand. »›Nein‹ habe ich gesagt, Josephus, ›nein, nein‹ – seitdem ich hier liege, sage ich nichts andres. Ich mache Revolution.«

»Willst du nicht lieber schlafen?«

»Natürlich will ich schlafen. Deshalb liege ich hier. Ich glaube – ich glaube – fast war es soweit, als du klopftest.«

Ganz still hielt sie sich und sprach mit der falschen Bescheidenheit eines Kindes, das zeigt, wie wohlerzogen es ist.

»Hast du einen Auftrag für mich, Johanna?«

»Ja, zwei Pfund Pralinés«, erwiderte sie nach einigem Nachdenken.

Josephus verzog keine Miene, er kannte ihre Art, sich aus unbequemen Lagen töricht um die Ecke zu spielen.

»Johanna, wenn ich dir raten darf: halte es nicht zu lang mit der Revolution. Nichts altert so schnell.«

Sie vernahm ein Geräusch, ihr Hals zuckte, vorsichtig wandte sie den Kopf, das Zimmer war leer.

Sofort schleuderte sie das Kissen, das ihre Hüften bedeckte, vor die Tür und streckte sich aufatmend, als sei nun der Raum mit einem Felsen versperrt.

Natürlich halte ich es mit der Revolution. Alle Armen sollten ständig Revolution machen! Tag und Nacht mache ich nichts andres. Vielleicht verbünde ich mich noch mit Asver. Arme Leute wie wir gehören zusammen. Wahrscheinlich ist er nicht einmal so arm wie wir. Er hat zwei Kinder ...

Lautlos rannen die Tränen, fast wußte sie nicht mehr, warum sie weinte. Sie dachte nicht an John, empfand nur, daß sie leichter wurde und weit wie eine Ebene und daß auf diese dünne, gespannte Fläche ein Abend zu sinken begann.

Ein- oder zweimal wehte ein Schatten heran und vertiefte sich anhaltend vor ihr wie ein lebendiger Brunnen der Güte, das war Josephus, wie er vorhin im Zimmer gestanden hatte, ein- oder zweimal ging ihr ein Lied durch den Sinn:

O schöne Fahrt, so leicht wie Wind,
Vor dem die Fernen sich entfalten ...

Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß es ein Lied von John war.

Laute eines unbestimmten Grolles rührten sich in ihr, vereinzelt und fern wie die letzten Geräusche des Tages auf dem Land.

Während sie einschlief, ging aber unvermutet der Mond auf, weiß und rund im leeren Raum, der Gedanke an John strich über sie mit einem luftigen Finger, sie lächelte hinüber, dorthin, wo der Mond aufging.

Gegen Mittag erwachte sie und sah sich um. Ein Luxuskäfig – so glänzten die drei kleinen Räume in der Sonne. Mit einem Sprung war sie an der Tür und schob den Riegel vor, mit einem zweiten unter der Brause, mit einem dritten im Bett.

»John!« schrie es noch einmal aus dem Schlafzimmer.

Stille.


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