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11

Die erste Nacht.
Die erste warme Nacht am Meer.
Ein Himmel voll stählerner Sterne.
Die erste Nacht mit ihr.

Vergnügt donnert die Brandung herauf – ein Donnern wie in Fleisch und Blut, das geht so, seitdem sie angelaufen kam, auf die Veranda des Chalets, kaum bekleidet, das Männerhaar noch feucht von der Dusche, und dicht vor mich hintrat mit ihren grauen Augen, dem rundum knappgeschnittenen Kopf.

Es juckte mich in den Fingern, den Kopf zwischen die Hände zu nehmen und ins Licht zu heben wie eine Büste, einen sportlichen Kopf aus Holz, mit einer flaumigen Rinde, und langsam hob ich die Hände und griff ihren Kopf und drehte ihn, fast zu heftig, in das Licht, das durch die offene Tür auf die Veranda fiel. Nie habe ich kühlere und zugleich zehrendere Augen gesehn. Abgründig helle Augen.

Ohne daß wir uns regten, trafen sich unsere Körper. Vielleicht witterten sie sich auch nur, und die Witterung hatte die Deutlichkeit einer Berührung. Da war es, daß ich unbändige Lust am Spiel aus der Brandung heraushörte, ein Kobolzschießen und Radauen brutal vergnügter Geister in der Nacht, ja, eine Ermunterung und einen vorweggenommenen, geradezu rasenden Beifall zu Unternehmungen, an die ich zwei Minuten früher nicht im entferntesten gedacht hatte und von denen ich mir auch jetzt noch keine genaue Vorstellung machte.

Wahrhaftig, ich begehrte sie nicht.

Der luftige Umriß ihres Körpers, den ich auf mir spürte, war kühl wie die Augen. Sie roch nach Wasser und einem herben Parfüm, das wie Salz schmeckte.

Erhitzt trotz der Dusche, die sie im Hotel genommen hatte, fliegenden Atems stand sie vor mir, und als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme rauh vor Erregung.

»Am Bahnhof«, sagte sie, »kurz bevor der Zug abging – hat er mich geschlagen! ... Weil ich mich losriß, als er mich mit Gewalt in sein Abteil zerren wollte. Da sprang er noch einmal ab und schlug mich in den Nacken, John van Maray, wir müssen ihn kaputt machen.«

»Den Kapellmeister?«

»Kollreuth.«

Gleichzeitig spürte ich genau den Abdruck eines schmächtigen, rundlichen Leibes, der sich vorschob und gleich wieder zurückzog.

»Ursel«, sagte ich, »Sie turnen gar lieblich mit Ihrem Zorn«, meine Hände sanken vom Kopf zu den Hüften und drückten sie an mich.

Nun war sie es, die meinen Kopf nahm, um ihn ins Licht zu drehn, und dabei hob sie die Arme aus unserer Umarmung, als schlüpfte sie aus einem Kleid.

Ihre Augen mit den meinen vermischt:

»John, wir müssen ihn kaputt machen! Schwören Sie?«

»Er ist ja erledigt! In Deutschland kümmert sich kein Teufel mehr um seine Musik.«

Sie riß an mir: »Gerade deshalb!«

Ich lachte auf, zur Brandung hinüber ... Ein mächtiges Lachen, unter dem ich sie stärker an mich zog. Ein männliches Lachen, Augen in Augen, vier Augen, ein einziger flimmernder Kreis. Meine Knie berührten die ihren, ich legte ihr die Hand in den Nacken. Aufforderung zum großen Spiel – mit dem es mir doch gar nicht ernst war.

Da strich sie mir mit dem Daumen über die Lippen, löste kraftvoll, mit exaktem Griff meine Arme und trat ins Dunkel, an das Geländer der Veranda, trat hin zu der donnernden Luft. Und von dort rief sie herüber:

»Meine wertvollsten Koffer hat er mitgehn heißen. Alle meine feine Wäsche ist drin.«

Ich war bei ihr im Dunkel, griff sie in der donnernden Luft, küßte sie in den Nacken.

Sie hielt still, die Hände auf dem Geländer, hinausgelehnt in das Rauschen und Krachen und ich so über ihr, den saugenden Mund im Nacken.

»Was brauchst du hier Wäsche!« rief ich vergnügt.

Wie vom Anprall der Wogen getroffen, taumelten wir, sie flog herum:

» Doch brauche ich Wäsche! Für das Konzert! Innerlich! ... Nichts brauche ich als Wäsche! Die Stimme habe ich sowieso – und das andre. Wäsche brauche ich! Für das Konzert.«

»Ruhe«, donnerte ich. »Ruhe. Schluß damit! Wer spricht, hier vom Konzert! Ich will nichts mehr von dem Kapellmeister hören.«

»Sie irren sich, John van Maray. Sie werden von ihm hören, bis er am Boden liegt. Und für mich gibt es nur eine Sache in der Welt – das Konzert! Merken Sie es sich lieber gleich. Die Hauptsache für Ursel Bruhn – ist das Konzert.«

»Der Ruhm?«

»Ach was, Ruhm!«

»Die Kasse?«

»Was Kasse! Das Konzert.«

Eine Weile ging das Schreiduett auf der dunkeln Veranda so weiter. Einmal schweifte sie durch den Lichtstrahl, das andre Mal ich, wir blieben hintereinander her, indem wir uns gleichzeitig auswichen. Ha! jetzt war meine Lustigkeit auf der Höhe der Brandung, ich lachte und machte Musik und baute einen urderben Lachkanon – mit ihrer Hilfe, ob sie wollte oder nicht. Schließlich merkte sie, worum es mir ging, und lachte mit, ließ sich führen, kreuz und quer, begann ihr Lachen zu singen, ich machte ihr Komplimente, sie lachte, kreuz und quer über die Veranda, ins Zimmer, ich setzte mich an den Flügel, wir lachten und trafen uns, weit ausatmend in verklärter Heiterkeit, trafen uns auf dem Orgelpunkt, als hätten wir das Stück, das wir gemeinsam erfanden, schon ein dutzendmal geübt.

Ich lobte sie: »Eine exakte Kraft – auch im Gehör. Wir werden den Kapellmeister mit Leichtigkeit kaputt machen.«

»Ich sagte es ja«, seufzte sie, schweratmend, und hob die Arme.

Aufgeweicht, in zarter, fast versagender Körperlichkeit, das Haar schwarz an den Kopf geklatscht, lehnte Ursel am Flügel, im Kreuz zurückgelehnt, die Arme gegen mich erhoben, und ihre grauen Augen schauten mich an.

»Hab' so was noch nicht erlebt, John van Maray.«

»Oh, solche musikalischen Umzüge unternehme ich seit meiner Jugend. Empfehlenswerte Methode, sich in Stimmung zu bringen.«

Die Arme standen noch immer geöffnet vor mir, in den Augen kribbelte es grau und weiß durcheinander. Sie war wieder so fiebrig wie vorhin, als sie in der Nachangst vor Kollreuth zu mir getreten war. Man hätte meinen sollen, die Arme seien zur Umarmung erhoben, aber ich wußte, daß ihr nur eine Konzertgebärde entschlüpft war, und nun versuchte sie die Wirkung auf mich, wobei sie die Augen zur Unterstützung heranzog. Die Bewegung in den Augen! Etwas Inbrünstiges, Zehrendes. Fleischfressende Blumen.

»Küssen Sie mir die Hand!« sagte sie endlich.

Eine kräftige Kinderhand.

Ich gehorchte lachend.

Durch die dumme Nacht brachte ich sie in das Hotel.

Als sich die Tür hinter ihr schloß, lachte die Heulboje draußen – wie eine Riesenmöwe!

Rückkehr in das einsame Chalet. Sausen des Windes, die Dachrinne zittert wie ein grobgespanntes Kabel. Herantosen, Zusammenkrachen der Flut.

Schade, daß sie nur eine schön singende Turnerin ist ... Nicht einmal kokett. Sie übte ... Ununterbrochen. Für Podium und Künstlerzimmer ... Wäre sie eine andre!

Wäre sie –

Krach der Krache. Ein Zischen, Sausen. Donnernder Applaus.

Der kleine runde Leib, der sich so glatt vorschiebt – ist vermutlich für ältere, angesehene Musikfreunde, wenn sie ins Künstlerzimmer gratulieren kommen und sie ihnen gerührt in die Arme sinkt.

Brrrr – um! Brum!

Brr-rr-rr-rum!

Was soll ich mit ihr anfangen?

Paar Lieder schreiben. Musizieren. Üben. Schließlich ... Kann auch ich mit ihr üben. Jeder auf seine Art.

Rrrr – um! Es schreien Engelsflüche.

Hoch oben ein Himmel voll stählerner Sterne ...

Das war die erste Nacht mit Ursel Bruhn.

Eine warme Nacht.

Die erste warme Nacht am Meer.

Mit einer kühlen, kühlen Turnerin des Gesanges.

Bald aber wurde offenbar, wie sehr ich mich in Ursel getäuscht hatte.

Es kam eine heiße Zeit.

Die Hotels flaggten, das Kasino flaggte, die Buden flaggten.

Der Strand bedeckte sich mit bunten Zelten. Wilde Autoherden drangen von allen Seiten in die Stadt, verrannten sich auf den Plätzen, blieben dort stehn. Täglich warf das Flugzeug im Himmel ein Junges.

Im Galopp nahten die Menschen der Flut. Vor ihr angelangt, machten sie atemlos halt.

Auch ich hätte gern erst einen Blick mit dem heranrollenden Meer gewechselt, bevor ich mich seiner Übermacht anvertraute, ihm womöglich die gute Seite abgewonnen.

Wie hätte ich es wagen sollen, da Ursel neben mir lief und ohne Rücksicht auf den Stand der Dinge der Brandung geradezu in die Mähne sprang.

Schmal, rund und knapp, mit leicht gesenktem Kopf schnitt sie das Element, und wenn sie, zurückgebogen, bis zu den kleinen Brüsten aus der Flut auftauchte, erinnerte sie an eine jener Galionsfiguren, die früher die Maray zu ihrem Glück über die Meere entführten.

Ich tat also wie Ursel. Sprang mit Macht in die erstbeste Woge, die, eine hochaufgerichtete Schlagfalle, heranfuhr. Und verunglückte auf dem Rücken eines Herrn.

Auf die Weise wurde ich mit Felix Arabou bekannt.

Während ich unter lauten Entschuldigungen um ihn herumschwamm, sah ich nichts von ihm als eine Masse schwarzen Haares, das sein Gesicht verklebte, und einen Bart, wo das Wasser wie in einer Traufe ablief.

Allmählich entdeckte ich zwei Augen, blauleuchtende Wassertropfen unter einem Buschwerk von Brauen und Wimpern. Sie waren klein, und ihr Besitzer bemühte sich, sie durch Klappern mit den Wimpern und Hochziehen der Brauen einigermaßen bloßzulegen. Dann faßte er Fuß, zerteilte das Haar auf dem Gesicht und reichte mir die Hand.

Jetzt erkannte ich zwei rote, runde Backen und eine steile Stirn, die ich schon oft in illustrierten Zeitungen gesehn hatte, und während ich mit Hilfe seiner Hand ebenfalls Boden unter mir suchte, sagte ich:

»Felix Arabou – nicht wahr?«

Eine Woge schlug über uns zusammen, wir ließen aber unsre Hände erst los, als wir nach etlichem Tauchen und Stolpern wieder nebeneinander auf den Füßen standen.

Triefend aus breitem Mund rief der Nachbar:

»Ich habe Sie schon paar Tage beobachtet, John van –«

Da hatte er den Mund bis in die Kehle voll Wasser.

Er spie es aus, rang nach Atem. Er schlug taumelnd um sich, auf einmal nahm er entschlossen Richtung zum Strand.

» Sortons«, prustete er, »hinaus aus dem verdammten Wasser! Hier kann man sich weder sehn noch hören.«

Ursel schwamm weit draußen, stark und gleichmäßig, von Zeit zu Zeit wandte sie den Kopf – wahrscheinlich nach mir.

Rasch zog ich mich an, als fürchtete ich, von Ursel überrascht und ins Wasser zurückbeordert zu werden.

Als ich beim Strandwächter vorbeikam, zeigte ich sie ihm, deren Kohlkopf auf den Wellen tanzte, und sagte:

»Blasen Sie mal feste. Sonst schwimmt die Dame nach England.«

Damit war ich meiner Pflichten als Ursels Geschäftsfreund ledig und begab mich mit dem Bildhauer Felix Arabou zum Aperitif.

Schon die ersten Bemerkungen über Menschen und Dinge verrieten die Übereinstimmung unseres Geschmacks. Obwohl wir einander äußerlich nicht ähnlich sahen, war in unserm Gang, unsern Bewegungen ein tiefsinniges Gleichmaß. Wir suchten nach winzigen Anlässen, uns gegenseitig zu erheitern, gemeinsam zu lachen, denn auch das spann zwischen uns: Scham – Furcht und Verlangen zugleich, die gleich erkannte Gemeinschaft genauer zu prüfen. Ein Glücksgefühl zog in mich ein von einer besonderen, geistigen Art, wie es wohl nur Männer erfahren, wenn ihnen auf den ersten Blick die Freundschaft eines Mannes zufliegt.

Ich erfuhr, daß Felix Arabou vor kurzem den König der Belgier modelliert hatte, worauf er von einem Großindustriellen in das Seebad bestellt worden war, um diesem denselben Dienst zu erweisen. Der Industrielle war reicher als der König, aber im Gegensatz zu seinem Herrscher fand er nur in den Ferien Zeit, für das Weiterleben nach dem Tod in Gestalt einer Bronzebüste Sorge zu tragen. Bevor sie noch vollendet war, hatte der Auftraggeber sie bereits dem Museum in Brüssel geschenkt. Ich erwähnte die Symphonie, an der ich arbeitete. Er fragte dies und jenes, meinte aber dann: »Soviel ich weiß, kann man leider den Musikanten nicht so zugucken wie den Bildhauern.«

Kaum hockten wir an einem Marmortischchen vor dem Hotel, als ein schwerer amerikanischer Wagen hielt und, hinter einer Negerin, ein Herr ausstieg, dessen Gesicht von einer gleichsam unanständigen Nacktheit war, weiß, breit und weich. Die süßliche Frische der Hautfarbe wirkte doppelt unangenehm neben der harten, rotgetönten Ebenholzfarbe seiner Begleiterin.

In ihr erkannte ich gleich Billi-Billi, die Tänzerin, eine bezaubernde Frau, die durch die Großstädte Europas zog und die nach Seltsamkeit hungernde Alte Welt ihrer schwarzen Herrlichkeit unterwarf. » Voilà mon homme«, sagte der Bildhauer. »Er hat sich für die Büste den Bart abnehmen lassen, einen halben Quadratmeter Bart, doppelt soviel, wie ich trage.«

»Nun schämt sich die Sonne vor ihm«, scherzte ich.

»Nur die Sonne der Weißen.«

Je länger ich Billi-Billi betrachtete, um so mehr überraschte sie mich durch eine innere frauliche Fülle, die ihre modische Erscheinung Lügen strafte, eine sinnende Grazie wie eines Muttertieres, eine goldbraune Farbe von Güte, Geduld, wovon der Hintergrund ihrer Tieraugen erglänzte.

Ein Mann in Hemd und Hose setzte sich zu uns und strotzte von amerikanischer Mannesschönheit. Es war ein Filmschauspieler, den die Provence geboren, Paris zum König der Drehkater gemacht hatte. Er konnte fast ebenso blendend mit den Zähnen lachen wie Billi-Billi.

Ihm folgte ein deutscher Weltreisender, der letzte Mann in Deutschland, der einen gesträubten Schnurrbart trug, der erste, der mich Monsieur de Maray nannte – von Billi-Billi mit Begeisterung begrüßt, vom Industriellen mit ›Wilhelm II.‹ betitelt, obwohl der Weltreisende wiederholt versicherte, ein König sei ihm so lieb wie der andre, wenn nur die Idioten von Kommunisten verhindert würden, ans Ruder zu gelangen, eine Aufgabe, der bürgerliche Präsidenten wegen ihrer Kurzbeinigkeit nicht gewachsen seien. So lautete wenigstens sein Urteil.

Ein zweites, ein drittes Marmortischchen rückte heran, und bald lagerte ein Dutzend berühmter Zeitgenossen um das bunte Feuer der Frühstücksgetränke. Der Industrielle behandelte sie alle ein wenig wie Kinder. Als man auseinandergehn wollte, bezahlte er für die Kinder.

In diesem Augenblick tauchte Ursel auf.

Ich hatte sie ganz vergessen. Und merkwürdig: jetzt war mir zumut, als käme da meine Geliebte.

Hübsch war sie und stolz – und gar nicht wie die andern Frauen ringsum und wirklich die einzige, die es als eigenwillige Erscheinung mit Billi-Billi hätte aufnehmen können.

Übrigens schien auch sie sich für meine Geliebte zu halten – und eine verlassene dazu.

Schüchtern, mit ärgerlich gerümpften Lippen, doch flink und helläugig schritt sie durch Tische und Menschen, stand, schaute mich an, schaute Billi-Billi an, lächelte, es war ein helles Wölkchen, das vor Tag aufsteigt, schaute die andern an, hüllte sie in das volle Licht ihrer Augen, die Sonne war da, und sie sagte: »John, wollen Sie mich bekannt machen?« Aber sie wandte sich nur Billi-Billi zu:

»Oh, ich kenne Sie gut!« und flog ihr um den Hals.

Sie schwätzte französisch, deutsch, englisch durcheinander, sie fieberte. Als Billi-Billi ihr zähnebleckend die Wangen klopfte, hielt sie still wie ein Schulmädchen. Billi-Billi! Der Ruhm! Die Kasse! Ursel konnte nicht von ihr lassen.

Fast mit Gewalt mußte ich ihr Felix Arabou, die andern vorstellen, und nun, da fast alle Namen vertraut an ihr Ohr klangen, fiel sie von einem Erstaunen ins andre, riß sich von einem los, um den nächsten zu mustern: »Und jetzt, was kommt jetzt? A-ah!«

Beim Industriellen, den sie nicht kannte, rief sie aufs Geratewohl:

»Nein – Sie? Ein so mächtiger Mann!«

Ursel hatte alle gewonnen, mit Ausnahme des Bildhauers. Arabou steckte mir einen fragenden Blick zu – den ich, ohne es zu wissen, sorgsam verwahrte.

Als wir uns von den andern getrennt hatten, nahm Ursel meinen Arm und küßte mich schnell auf die Schulter:

»So, John. Nun kann der Kapellmeister uns den Buckel runterrutschen. Das war ein Gespann für Paris! Tausend Pferdekräfte Protektion. Die Billi-Billi allein füllt uns den Saal, der lange Dichter, wie hieß er nur gleich, der Blonde? braucht nur in die Zeitung zu setzen, daß Billi-Billi unser Konzert beehrt. Fertig die Kiste!«

Und sie verlangte auf der Stelle das Programm für Paris: was sie singen, was ich spielen, wie ich es anfangen werde, eine Jazzband zu mieten, mit ihr zu üben, sie selbst aber wollte heute noch mit mir arbeiten. An meinem Arm die Schlange wurde vor Ungeduld wieder zu Moses Stock.

»Ruhe. Ich habe die Gewohnheit, Ursel: acht Tage für das Zusammenstellen der Jazzband, acht Tage für die Proben.«

Was kümmerte mich ihr Konzert!

Ich wollte meine Symphonie beenden. Ich dachte an die Orgel. Und auch an die herrliche Stille abends in der Kirche.

Eine Stunde danach schon kam Ursel mit einem Strauß langstieliger Nelken zu mir gelaufen. Und mit der Karte des Industriellen.

»Fertig die Kiste«, rief sie wieder.

Mit einem Ruck drehte sie den Klavierstuhl, auf dem ich saß, sie hob ein wenig den Rock, sprang mir rittlings auf die Knie und küßte mich. Der kleine runde Leib stand in mich gepflanzt.

»Jetzt kann ich's dir ja sagen, John. Ich liebe dich!«

Der kleine runde Leib stand in mich gepflanzt. Ihr Mund begann an dem meinen zu zehren, als wäre er mit langsam aufblühenden Saugnäpfchen versehen, die eins nach dem andern in Tätigkeit traten. Die grauen Augen dicht vor mir wurden größer und größer. Gleichzeitig schien sich die Iris zusammenzuziehn. Sie hielt mich mit Armen und Fußspitzen umklammert, und zweimal fuhr ein Schlag durch ihren ganzen Körper wie bei einem zurückschnellenden Bogen. Nur der kleine runde Leib hatte kaum gewankt.

Über uns rumorte ein Mädchen aus dem Hotel, das wie gewöhnlich um diese Zeit die Zimmer aufräumte. Das Arbeitszimmer kam zuletzt an die Reihe, weil ich dann schon zum Abendessen gehn konnte.

»Du, Ursel«, sagte ich, »Ursel!«

Erst wollte sie nicht hören, sondern schnellte mit dem weggeschobenen Mund hastig an meinem Hals zurück, und als ich den Kopf nahm, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen, schüttelte sie ihn ingrimmig und schloß die Augen.

Ich hob sie und trug sie, wie sie mir anhing, durch die Tür und in das Gartenhaus.

Dort setzte ich sie ab, und in diesem kurzen Augenblick, wo sie frei war, vollbrachte sie eine große Anstrengung. Sie fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar und sagte, ohne mich anzusehn: »John ... John ...«, schluckte und sagte mit rauher, deutlicher Stimme, und dabei schwankte sie leise hin und her:

»Jetzt nicht. Ich bin müde. Ich will schlafen, richtig schlafen.«

Ich griff nach ihr.

Sie sprang zur Tür.

Ruhigen Schrittes hörte ich sie über den Gartenkies davongehn.

Erst als ich allein war und mich verwundert umschaute, fiel mir jene andre ein, die hier auf dem Bretterboden gelegen hatte: die kleinen Hände geballt, als hätte sie sich zusammennehmen müssen, um zu sterben.

Nun aber sah ich sie deutlich vor mir.

Ihre Haare waren von einem dunkelfeurigen Blond, von einem rostrot gebrannten Blond wie der Weizen im Juli und die Haare Johannas.

Blaue Augen hatte sie. Kornblumenblau.

Kristallen verwahrten sie ihr Geheimnis.

Wie Steine leuchteten sie in der inneren Nacht.

Ich habe die Augen des Mädchens nicht geschlossen.

Ich werde sie nie schließen.

Ich werde nie deine Augen schließen können, Johanna.

Warum, o warum –

Warum duldest du, daß ich dich verlasse?

Ein leichter Rauch war um das Steinblau jener Augen, ein Topasrauch.

Ich glaube, ich habe es auch an Johanna bemerkt, als sie noch für mich lebte.

Vielleicht auch nicht.

Musik! Musik!

Es gibt nichts andres.

Arbeit. Arbeit, Arbeit. Musik.

Alles andre ist unbegreiflich verworren ...

Ich aß allein zu Abend.

Ursel Bruhn ließ sagen, sie habe sich schlafen gelegt.

Doch zwei Stunden später, um zehn, erschien sie wie gewöhnlich. Ich hatte ein Lied geschrieben und spielte es mir vor und summte die Worte dazu. Es war das erstemal, daß ich einen richtigen Text zu einem Lied verfaßte. Bei Ursels Eintritt hielt ich inne, und ich weigerte mich trotz aller Bitten, ihr das Lied zu zeigen.

Endlich hob sie die Arme und bat demütig, sie sang fast: »John, ich weiß, du bist mir böse. John, ich bin dein. Sieh, alles, was du willst. Nach dem Konzert. John, ich bin abergläubisch, verzeih mir ...«

Deutlich zeichnete sich der kleine runde Leib in dem schwarzen Gesellschaftskleid ab.

Von den Hüften hingen rote Fransen bis zum Saum.

Sie trug rote Lederschuhe, und ihr Haar war schwarz, so schwarz, daß es kein winziges Stückchen Licht enthielt.

»Aberglaube nennst du das?« höhnte ich.

Sie warf einen erschrockenen Blick nach der Tür.

Schon war ich über ihr und nahm sie, als schlüge ich sie nieder.

Sie schrie, so wolle sie nicht geliebt sein, stieß mich von sich, schleuderte wie eine Feder in meinen Armen.

Ich trug sie, wohin ich sie haben wollte, eine Treppe hinauf, durch ein Zimmer, auf ein Bett, und der Kampf begann von neuem.

Sie biß mich ins Kinn, daß es blutete. Sie schrie, so wolle sie nicht geliebt sein, auch als sie schon wehrlos unter mir lag. Sie wiederholte es leise, als sie sich entspannte und, plötzlich versinkend, sich hingab.

Und als sie mich, aufgerafft, endlich selbst umarmte, stöhnte sie:

»Ich werde dich die Liebe lehren, du Unschuld!«

Und dann liefen wir hinunter zum Strand.

Ich war wohl nicht so unschuldig, aber trotz allem empfand ich Scheu und Achtung vor einer Frau, die sich hingab – als bekäme ich ein Geheimnis anvertraut, oder als hätte ich es mit etwas leicht Verletzlichem zu tun.

Am Strande angelangt, zeigte sie mir, der Unschuld, was sie die Liebe nannte.

Finster rauschte es heran und krachte dicht hinter uns zusammen. Mit einem Sausen, einem Ziehen verlief es sich und kam von neuem an, hochgetürmt bis zu den Sternen. Krach der Krache, donnernder Applaus.

Aus der tiefsten Nacht rennt es heran – wie es droht, wie es droht! Das Gewimmel von stählernen Sternen ertrinkt darin.

Da ist es!

Schaum fliegt über die Umarmung, eiskalter Schaum, der glüht und eine Brandwunde hinterläßt.

Die Sterne kehren wieder, es saust, es zischt.

Brr-rum. Brrr-rr-rum!

Wie ein Lotse lag Ursel in der Nacht und in meinem Fleisch und regierte das Ungestüm. Mit einem ganz leisen Gesang – mit rauhen, kurzen Tönen. Und selbst wenn die letzte Entzückung ausbrach, stand sie als ein Kapitän der Tollheit auf der Woge, die unsre Lust emporhob, und vergaß sich nicht und vergaß nicht den andern.

Diese Stunde war das letzte (aber pädagogisch wohlbedachte) Zugeständnis Ursels an einen romantischen Aufwand in der Liebe, den sie, als zu den Greueln der Großväterzeit gehörig, verabscheute.

»Von jetzt an«, sagte sie, »werden wir das Meer überall in deinem Zimmer haben. Auch zwischen den Mauern der Städte.«

»Ursel, vielleicht gibt es eine Grammophonplatte mit der Meeresbrandung? Oder eine Funkstation, die den Ozean sendet?«

Sie warf den Kopf: »Den Ozean laß nur mich senden.«

Später kam sie verschiedentlich auf das Lied zurück, das ich ihr verheimlicht hatte.

»Das Lied vom Abend geht dich nichts an«, erklärte ich schließlich. »Aber hier, das schenke ich dir für die Nacht.«

Sie las:

»Bricht die Verzückung aus:
springt der Ofen in des Teufels Garküche,
der Himmel steht in lohendem Braus,
fliegen Zentauren mit wilden Gerüchen
über die Salzwiesen,
setzen über Sträucher, setzen über Bäche,
die quer rundum fließen,
überschlagen sich und stürzen in Sandbrüche.
Krach der Krache!
Donnernder Applaus.
Es schreien Engelsflüche.«

Sie schüttelte sich, als würde sie gekitzelt, lachte und küßte mich auf das Kinn, dort, wo sie mich gebissen hatte:

»John, da kann der Kollreuth mit seiner Katerpromenade einpacken!«

Ursel sang das Lied vor erlesenen Gästen in der Villa des Industriellen.

»Wohlgemerkt, meine Damen und Herren: in Paris wird nicht das Klavier allein begleiten, sondern die Jazzband.«

Das Ungestüm, Kobolzschießen und Radauen brutal vergnügter Geister in der Nacht erzielte einen Erfolg von der Art, die Ursel Bruhn einen ›Querschläger‹ nannte. Der Rest des Abends wurde damit verbracht, gemeinsam die Umstände des Pariser Konzerts zu besprechen.

Der Industrielle nahm es auf sich, mit einigen Bekannten zusammen einen Garantiefonds zu besorgen. Denn weder ich noch Ursel verfügten über die nötigen Barmittel, und man war der Meinung, daß keiner der bekannten Unternehmer so spät in der Saison und bei der Kürze der Zeit, die für die Vorbereitungen zur Verfügung stand, das Risiko übernehmen würde. Billi-Billi versprach, ihren Besuch öffentlich anzukündigen. Der lange Dichter kannte die Kritiker, Felix Arabou aber den Minister Garat-Cornet, dessen Salon in Paris ›das Wetter der Musiker machte‹.

»Abgemacht.
Krach der Krache.
Donnernder Applaus!«

rief der Industrielle, sein breites, weiches Gesicht war puterrot, mit dem Champagnerglas winkte er zu Billi-Billi hinüber, die zusammengerollt in einem Ledersessel lag und träge, mit weiß schäumenden Zähnen zurückwinkte.

Er hob die Stimme, reckte den Arm mit dem Glas:

»Es schreien –«

Die Stimme stürzte ab, mit komischem Erstaunen fragte er:

»Aber warum denn gerade Engelsflüche?«

»Ach, Sie mächtiger Mann, daß Sie das nicht wissen!« belehrte ihn Ursel. »Es sind doch gefallene Engel!«

»Richtig!« sagte der Mann. In einem Zug leerte er das Glas. Ursel und ich reisten nach Paris.

Das Konzert fand im selben Saal statt, der vor nicht langer Zeit die Possensprünge von Kollreuths Katerpromenade gehört hatte.

»Querschläger, daß die Fetzen über Europa fliegen«, stellte Ursel fest, als sie im Künstlerzimmer aus meinen Armen flog, um den Industriellen an sich zu drücken.

Kasse.

Ruhm.

Ursel fieberte.

Natürlich verglich die Kritik die beiden deutschen Konzerte. Nach dem Achtungserfolg seines Pariser Gastspiels erlebte Kollreuth jetzt aus der Ferne eine Niederlage, die ihn mit Bitterkeit erfüllte. Er ging herum und sprach das Todesurteil über die neue Musik.

Das nächste Jahr dirigierte er in Bayreuth.

Ursel Bruhn mietete eine möblierte Wohnung, in der ich ein Zimmer mit einem Flügel zugewiesen erhielt. Das Zimmer war geräumig. Zwei Fenster gingen auf den Platz St.-Germain-des-Prés, ein drittes auf die Rue Bonaparte. Es enthielt auch einen breiten Diwan. Darauf schlief ich.

Ursel konnte keinen Mann im Schlafzimmer vertragen.


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